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3. Kapitel
ОглавлениеMax Berber spazierte an diesem Frühlingsabend über die Reeperbahn. Er war mit der S-Bahn gekommen, und nun bummelte er. Er kannte den Weg, denn er ging ihn normalerweise viermal pro Monat, nämlich jeden Dienstag, um genau zu sein. Er wohnte in Harburg in seiner schönen, großen Villa, die von hohen Bäumen und Büschen umgeben war. Es war ein Paradies, um das er beneidet wurde. Aber jeden Dienstag brach er aus. Seit Ende letzten Jahres tat er das, weil ihm sein Zuhause zu still vorgekommen war, zu groß vielleicht. Er nannte ein Paradies sein eigen, aber es war ein Paradies mit Schattenseiten. Ja, er gab zu, dieses Ausbrechen war ein wenig verrückt. Na, und?
Er verließ am frühen Abend sein Zuhause, ging zum Harburger Bahnhof und fuhr nach Hamburg. Er aß manchmal am Hauptbahnhof eine heiße Wurst. Die heiße Wurst hatte sicher keine gute Qualität, und feine Leute stellten sich nicht vor die Bude und aßen heiße Würstchen. Aber was heißt "feine Leute"? Einer der Nachbarn hatte ihn einmal zufällig an der Würstchenbude gesehen. Er hatte dann zu Hause erzählt, dass der Alte entweder verrückt sein müsse, oder dass er plötzlich Geldprobleme haben müsse. Max wusste nichts von solchem Gerede, und wenn er es gewusst hätte, so hätte er womöglich mit den Schultern gezuckt.
Nach dem Essen der Bratwurst - wenn er denn eine Wurst gegessen hatte - fuhr er nach Altona und lief entlang der Reeperbahn, von wo aus er auch durch einige Nebenstraßen ging. Das ging so weiter, Woche für Woche, bis er das Restaurant „Akropolis“ entdeckt hatte. Das Restaurant war von außen nicht besonders schön, aber es war innen recht gemütlich. Vor allem faszinierte ihn die zarte und doch rhythmische Musik, die den Gästen geboten wurde. Typisch griechische Musik? Das wusste er nicht so genau. Aber ihm gefiel sie. Nun hatte er ein Ziel. Dienstags spazierte er ein wenig herum, dann ging es ins Restaurant. Er erwähnte das Lokal einmal beim Gespräch mit Frau Kranig, und er hatte gesagt: "Und dann gehe ich zur Akropolis!"
"Was ist das denn?" fragte Frau Kranig misstrauisch.
"Das ist ein Restaurant," sagte er lachend. Max beschrieb es ihr. Mehr wollte sie nicht wissen. Ihrer Meinung nach konnte das Restaurant nichts zur ersten Klasse gehören.
Max war mit seinen 79 Jahren kein junger Mann mehr. Sein längliches Gesicht mit der langen Nase war eine einzige Faltenlandschaft, die Hüfte und die Kniegelenke machten ihm gelegentlich zu schaffen. Morgens und abends futterte er Tabletten, die ihm sein Arzt verordnet hatte. Aber er lebte, und solange er lebte, würde er das Leben genießen. Natürlich würde er auch Momente der Einsamkeit haben und den Wunsch, der Einsamkeit von Zeit zu Zeit zu entfliehen. Warum auch nicht? Gewiss, ihm tat sein rechtes Knie weh, und die Hüfte war auch nicht mehr schmerzfrei. Aber das war für ihn kein Grund, Tag für Tag zu Hause die erwünschte Ruhe und die unerwünschte Einsamkeit zu ertragen. Das Alleinsein und die immer wiederkehrende Einsamkeit waren eigentlich gewollt. Vielleicht hatte er sich das Alleinsein etwas anders vorgestellt, und doch wollte er nicht mehr zurück in die Vergangenheit, in die Zeit voller Dynamik. Oh ja, die Vergangenheit mit all der Hektik war interessant gewesen. Es war eine gute Vergangenheit gewesen, und er hatte Erfolge erlebt. Aber er hatte einen Schlussstrich gezogen, und das war gut so, sagte er sich.
Als er zum ersten Mal mit der S-Bahn von Harburg nach Hamburg gefahren war, war er sich wie ein kleiner Junge vorgekommen, der ein großes, unbekanntes Abenteuer erlebt, nicht wie ein alter Mann, der alles schon hinter sich gebracht hatte. Im Harburger Bahnhof hatte er vor dem Fahrkartenautomaten gestanden, und er hatte erst gar nicht gewusst, was er zu tun hatte, um einen Fahrschein zu bekommen. Es brauchte mehr als eine Viertelstunde, ehe er begriffen hatte, wo er das Geld hineinzustecken hatte, und wo schließlich die Fahrkarte herauskommen sollte. Ohne die Hilfe einer freundlichen, jungen Frau wäre er beim ersten Mal nicht zurechtgekommen. Jetzt war es kein Problem mehr. Aus dem abenteuerlichen Erlebnis wurde so etwas wie eine Alltäglichkeit.
Früher, als seine Frau noch gelebt hatte, hatte auch das große Haus Leben gehabt. Es waren Nachbarn gekommen, es waren auch frühere Kollegen und Geschäftsfreunde gekommen, und es waren auch zwei alte Studienkollegen erschienen. Seine Frau war kurz nach Erreichen seines „Ruhestandes“, den er mit der Vollendung des 70. Lebensjahres angetreten hatte, gestorben. Ab da an waren nach und nach die Besucher ausgeblieben. Das lag an ihm selbst, musste er sich eingestehen, denn er besuchte auch kaum noch Freunde oder Kollegen oder Partner. Frühere Klassenkameraden und Studienkollegen, die lediglich alte und uralte Zeiten heraufbeschwören wollten, interessierten ihn nicht. Frühere Arbeitskollegen waren zum Teil bereits gestorben, die anderen waren ihm etwas gleichgültig geworden. Er hatte ein aktives Berufsleben gehabt, und in Fachkreisen war er berüchtigt gewesen als ein zupackender, scharfer Hund. Als er den letzten von mehreren Aufsichtsratsposten abgegeben hatte, war Schluss, ganz einfach.
In den Aufsichtsräten der Unternehmen, in die er berufen worden war, hatte er immer die gleichen Gesichter getroffen. Gewiss, es waren verdiente und vielleicht auch intelligente Leute gewesen, aber alle waren mehr oder weniger in seiner Altersklasse, und alle hatten das Gleiche geredet und dafür gutes Geld bekommen. Als Max vor ein paar Jahren den letzten Aufsichtsratsposten niedergelegt hatte, hatte er sich wie befreit gefühlt.
Ja, er hatte eine Tochter mit dem schönen Namen Elaine gehabt. Sie war bei der Geburt ihrer Tochter Brigitte gestorben. Der Ehemann, ein Herr Wilfried Stöbig, hatte wieder geheiratet und das kleine Mädchen, ein halbes Jahr alt, mit in die neue Ehe eingebracht. Max hatte keine Verbindung zu seiner Enkelin. Und so war er allein in einem großen Haus zurückgeblieben. Er hatte die Haushälterin, die tüchtige Frau Kranig, die seine Frau vor vielen Jahren eingestellt hatte. Außerdem kamen die Putzfrauen regelmäßig, er hatte auch den Gärtner Ferdinand, der den großen Garten pflegte und gelegentlich den Chauffeur spielte, aber damit endete auch fast jeder regelmäßige und geregelte Kontakt zu den Menschen. Natürlich, gelegentlich war er in der Bank, und gelegentlich hatte er auch Telefonate mit Menschen, die früher einmal sehr wichtig gewesen waren. Aber was war jetzt wirklich wichtig? Jetzt war im Grunde nichts mehr wichtig.