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4. Kapitel
ОглавлениеMax hatte, das musste er zugeben, ein sehr schönes Zuhause mit einer umfangreichen Bibliothek und einigen wertvollen Gemälden, um die er früher oft beneidet worden war. Die Bibliothek, in der er meistens auch arbeitete, hatte einen schönen Blick hinaus zum Garten, der mehr einem Park als einem Garten glich. Der Nachteil war nur der, dass sein Zuhause von Zeit zu Zeit sehr langweilig wurde. Er nannte es Langeweile, aber vielleicht war es lediglich seine Unrast, die ihn immer noch trieb. Wegen dieser Langeweile oder Unrast machte er die Ausflüge in die Stadt, und meistens dorthin, wo er früher nie hingekommen war. Früher war sein Leben ausgefüllt gewesen. Der Gedanke, sich in St. Pauli oder in St. Georg herumzutreiben, wäre ihm damals nie in den Kopf gekommen. Das hatte sich geändert, denn das, was er sah und hörte, waren spannende Abenteuer. Er sah und hörte eine Welt, die ihm bislang fremd gewesen war. Diese fremde Welt war gewiss nicht schön, aber anregend.
Wenn er nach einem solchen Ausflug, der meistens weit nach Mitternacht endete, wieder nach Hause kam, genoss er sein Zuhause, und die ihm vertraute Langeweile fand er sogar wohltuend schön. Dieser Zustand dauerte für gewöhnlich eine Woche bis zehn Tage an, dann drängte es ihn wieder hinaus. Bei seinen Ausflügen zog er sich sehr durchschnittlich an. Jetzt hatte er seine graue Kombination angezogen, eine graue Hose und einen guten, warmen Pullover, dazu hatte er seinen Regenmantel angezogen. Einen Hut brauchte er nicht. Seine vollen, weißen Haare waren ein wenig unordentlich, das störte ihn jedoch nicht. So gekleidet sah er mit seinen knapp 1.75 m sehr, sehr durchschnittlich aus, das jedenfalls sagte ihm der Spiegel. Tatsächlich, er fiel nicht weiter auf, weder auf der Reeperbahn noch an anderen Plätzen, und er wurde auch nicht belästigt. Frau Kranig hatte ihn einmal gewarnt und gesagt, er solle nachts nicht in den anrüchigen Vierteln von Hamburg herumlaufen, denn man höre und lese immer wieder, dass alte Menschen belästig und ausgeraubt würden. Nun, ihm war das noch nicht passiert, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass es ihm passieren würde.
Die gute Frau Kranig, die übrigens nicht im Hause wohnte, schüttelte regelmäßig den Kopf, wenn er von seinen Ausflügen erzählte. So sehr er Frau Kranig schätzte, er war beim „Sie“ geblieben. Und doch saß er ihr beim Frühstück in der Küche gegenüber und erzählte von seinen Ausflügen, wenn er draußen gewesen war. Mit diesem Erzählen erlebte er das kleine Abenteuer zum zweiten Mal, und er verarbeitete es.
Frau Kranig hielt ihren Chef für ein wenig verrückt, denn sie kannte ihn ganz anders aus früheren Tagen. Damals war er ein hoher Herr gewesen, der sich stets ordentlich kleidete, der mit Wagen und Fahrer zur Arbeit fuhr, der seine Dienstreisen unternahm und der Gäste empfing, alles honorige Leute. Und heute zog er sich sehr gewöhnlich an und machte Ausflüge in Gegenden, die sie für gefährlich und anrüchig hielt. Sie fand das nicht in Ordnung. Aber sie hütete sich, mit anderen Menschen darüber zu reden. Sehr gelegentlich machte sie Andeutungen Ferdinand gegenüber. Dieser Ferdinand war nun schon so viele Jahre ihr Kollege, da konnte man schon mal eine Indiskretion begehen.