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6. Kapitel
ОглавлениеDas Restaurant war gut besucht, aber es war nicht voll. So war es jeden Dienstag. Es gab noch freie Tische. Max war, wie er dem Fremden sagte, nicht zum ersten Mal hier, und er fand in der hinteren Ecke den Tisch, an dem er bereits mehrfach gesessen hatte. Von dem Tisch aus konnte man das Lokal überblicken, ohne selbst gesehen zu werden.
Der Kellner, von dem Max wusste, dass er kein Grieche, sondern ein Italiener war, eilte herbei und fragte, womit er den Herren dienen könne. Max bestellte „seinen Wein“, wozu nur ein Kopfnicken nötig war. Der Kellner, der auf den Namen Guiseppe hörte, wusste, dass Max wieder den roten Demestika nehmen würde. Das war ein Durchschnittswein, gewiss, aber Max trank ihn gerne. Was das Essen anging, so wollte Max einen Fleischspieß, während sich der Fremde – etwas zögerlich – eine Fischsuppe wünschte.
„Ich heiße Franz Hallbeg,“ stellte sich der Fremde vor, worauf Max auch seinen Namen, Max Berber, nannte und meinte, man könne ihn auch Max nennen, das sei einfacher, und in dieser Atmosphäre sei ein „Du“ angemessener. Max grinste, als er das sagte. Ihm gefiel dieser Franz, auch wenn er abgerissen aussah, und sicherlich nicht zur Sonnenseite der Gesellschaft gehörte. Vielleicht hatte er nie eine Chance gehabt. Und das „Du“? Max war kein Mensch, der leicht andere Menschen duzte. Warum tat er es jetzt? Vielleicht, weil er in dieser Umgebung „ein anderer“ sein wollte, nicht der, der er immer gewesen war, nicht der, der im Berufsleben "ganz oben" gewesen war, und der eine Villa in Harburg hatte.
„Ich bin Rentner,“ sagte Max, „und im Augenblick genieße ich es, einfach Rentner oder Ruheständler zu sein. Aber allgemein gesprochen weiß ich nicht so recht, ob ich gerne Rentner bin oder nicht.“
„Und ich?“ Franz schüttelte den Kopf und bekannte, dass er arbeitslos sei. „Seit gut zwei Jahren. Ich bin 57 Jahre alt – so schnell finde ich nichts mehr.“
„Was hast du denn gemacht?“ wollte Max wissen, aber er fügte gleich hinzu: „Du brauchst mir nichts zu sagen, wenn du nicht willst. Eigentlich geht es mich nichts an. Ich bin einfach zufrieden, dass wir zusammen sitzen können, dass wir miteinander reden können. Weißt du, ich bin Witwer. Ich habe zu Hause Niemanden, mit dem ich richtig reden kann.“
So ganz richtig war das nicht, denn er hatte Frau Kranig, mit der er täglich redete. Aber dieses Reden miteinander hatte keinen Tiefgang, glaubte er. Es war nicht anregend oder geistig befruchtend. Man redete über das Wetter und andere Tagesereignisse. Das galt auch für die Gespräche mit dem Gärtner, mit dem er oft redete, nicht zuletzt wegen des Gartens, an dem Max seine Freude hatte.
Der Wein wurde gebracht, dann das Essen, die Suppe und der Spieß. Dazu gab es Weißbrot. Max und sein „neuer Bekannter Franz“ aßen. Max mit großem Appetit, Franz eher vorsichtig und zögernd, als würde es ihm nicht so richtig schmecken.
„Ich bin auch Witwer,“ sagte Franz. „Seit fast zwei Jahren.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich habe drei Kinder – nun, sie sind nicht mehr klein. Zwei Jungen und ein Mädchen.“
Max schaute Franz an. Erst wollte er sagen, dass er eine Tochter gehabt hatte, die nicht mehr lebte, dann aber tat er es doch nicht. Die Tochter lebte seit fast 30 Jahren nicht mehr, es war müßig, jetzt darüber zu reden. Vielleicht später einmal. Er fühlte, dass Franz reden wollte, vielleicht reden musste. Dieser Franz war vielleicht genauso einsam wie er selbst, oder vielleicht noch einsamer.
„Eigentlich tut es mir leid, dass ich hier so gut esse – ich weiß nicht, was die Kinder sich zurechtmachen, oder ob sie überhaupt etwas essen, oder ob sie zuhause sind,“ erzählte Franz sehr nachdenklich. „Heinrich, das ist der Älteste, der studiert. Ich meine, er arbeitet nebenher in einem Verlag, denn anders wäre es nicht zu machen. Ich kann ihm mit der Unterstützung, die ich kriege, nicht viel geben. Mia, so nenne ich meine Tochter, wollte auch studieren. Aber das geht im Augenblick nicht. Sie macht eine Banklehre durch, die ihr nicht besonders gefällt. Das heißt, so genau weiß ich es nicht, aber ich nehme es an. Vielleicht kann sie später studieren, wenn die Lehre beendet ist. Und der Jüngste?“ Franz zuckte mit den Schultern.
„Weißt du, bevor meine Frau starb, hatten wir viele Pläne. Na ja, wie das so ist. Man plant und plant und hat Träume, Wünsche, Hoffnungen, und am Ende ist dann alles anders. Nichts ist übrig geblieben, und alle Wünsche haben sich nicht erfüllt.“
Max nickte freundlich, und er deutete damit an, dass er zuhöre. Der Fremde mit dem Namen Franz wollte offensichtlich weiter reden. Langsam beendete Franz seine Suppe. Er führte jeweils den Löffel zum Mund und schluckte auffallend vorsichtig.
„Jetzt mache ich den Haushalt, weißt du? Ich wasche, ich bügele, ich putze, wenn ich nicht gerade bei der Arbeitsagentur bin – das heißt, da gehe ich auch nicht mehr hin. Dort bin ich ein Mensch zweiter Klasse. Einer, der gescheitert ist. Ich bin – ich war Mechaniker, und ich war im Schiffsbau tätig gewesen. Mein Gebiet waren Schiffsmotore. Ich hatte wirklich gut verdient. Wie das so ist. Dann wurde meine Frau krank, und unser Gespartes ging drauf. Ich habe immer geglaubt, dass Renate es schaffen würde. Es hatte nicht sein sollen.“
Max nickte wieder. Die Geschichte berührte ihn, und er konnte nicht genau sagen, warum das so war. Seine Frau war auch gestorben, auch das hatte viel Geld gekostet, aber er hatte gut verdient, und der Verlust des Geldes, das die Krankheit seiner Frau gekostet hatte, hatte ihm nicht weh getan. Er hätte das Zehnfache zahlen können, ohne es finanziell zu merken.
„Weißt du, Renate und ich wollten unsere Kinder studieren lassen,“ fuhr Franz fort. „Der Heinrich, das ist unser Ältester, hatte gute Zeugnisse, und er fing mit seinem Studium hier in Hamburg an. Er studiert Geschichte und Politik. Er macht viel in Politik. Er fing bei den Linken an, und jetzt ist der bei der FDP,“ Franz musste grinsen. „Weißt du, die Linken kümmern sich um alles, und die Liberalen kümmern sich um so wenig wie möglich – das sagt mein Heinrich immer. Und was ist besser? Ich weiß es nicht.“
Das Gesicht von Franz verzog sich, er krümmte sich etwas nach vorne, aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann schaute er Max an und sagte weiter: „Mia, unsere Tochter, hat Abitur gemacht, aber zum Studium fehlte das Geld. Und so fing sie eine Lehre in einer Bank an. Vielleicht kann sie nach der Lehre studieren.“ Franz schüttelte den Kopf, als er weiter sagte: „Ich glaube, das habe ich bereits erzählt. Na, das macht nichts." Franz grinste, ehe er fortfuhr: "Unsere Mia ist ein schwieriges Mädchen. Die Phase der Discobesuche und lauten Parties ist noch nicht ganz vorüber. Vor ein paar Jahren hatte sie noch Piercing-Ringe überall im Gesicht. Meine Frau hätte sich um Grab umgedreht. Als sie sich bei der Bank vorstellte, hatte der Personalleiter gleich gesagt, dass das Metall zu verschwinden habe. Jetzt läuft sie ohne Metall herum. Aber sie ist immer noch etwas wild.“ Nach einer kleinen Weile sagte er weiter: „Sie lässt sich nichts sagen.“ Franz zuckte mit den Schultern, dann fuhr er fort: „Ich habe ihr auch nichts zu sagen. Sie ist viel zu unabhängig.“
Max dachte an seine Tochter, die ebenfalls eine recht schwierige Phase gehabt hatte. Das aber lag mehr als 40 Jahre zurück. Seine Frau hatte damit fertig werden müssen. Er selbst hatte kaum etwas von der problematischen Lebensphase seiner Tochter gemerkt. Das, was er wusste, hatte er von seiner Frau gehört. Diese Periode, so erinnerte er sich, mochte vielleicht zwei oder drei Jahre gedauert haben. Als sie geheiratet hatte, war sie eine ganz normale, gesittete Hausfrau geworden. Nun, das war Geschichte, es hatte keinen Zweck, sich an das zu erinnern, was dann folgte. Überhaupt: es ist nie gut, zurückzublicken, wenn es ein „Voraus“ gibt. Was aber war das Voraus - für ihn?
„Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen,“ sagte Franz. Er hatte seine Suppe beendet. Max wollte für Franz noch etwas bestellen, aber das wollte Franz nicht. Er sagte, dass die Suppe ausreichte. Es war eine gute Suppe gewesen, aber nun habe er keinen Hunger.
"Was willst du denn zu Hause tun?" fragte Max aus reiner Neugier. Der Mann interessierte ihn.
"Wenn eines der Kinder da ist, werden wir uns vielleicht unterhalten - aber sonst?" Franz zuckte mit den Schultern. "Ich gehe dann zu Bett, vielleicht. Fernsehen? Ich gucke schon lange kein Fernsehen mehr. Irgendwie gefällt es mir nicht mehr."
Max schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn Uhr. Gewiss, wenn man am nächsten Morgen früh aufstehen musste, war es Zeit, zu Bett zu gehen. Vielleicht musste Franz früh aufstehen, um dafür zu sorgen, dass die Kinder rechtzeitig aus dem Haus kamen.
„Ja, ich habe mir die Arztberichte geholt, und vielleicht wollen die Kinder wissen, was drin steht.“
„Arztberichte? Bist du krank?“ fragte Max.
Franz zuckte mit den Schultern. Schließlich sagte er:
„Ja, das betrifft mich, die Berichte, meine ich.“
„Ist es ernst?“ fragte Max.
Wieder zuckte Franz mit den Schultern, aber er sagte nichts. Max drängte nicht weiter, denn es war ganz offensichtlich, dass Franz nicht darüber reden wollte.
Max zahlte, verabschiedete sich mit Handschlag von Guiseppe, dann gingen die beiden Männer hinaus.
„Ich bedanke mich für den Abend,“ erklärte Max, und als Franz abwehren wollte, sagte er weiter:
„Ja, es ist so. Ich war an diesem Abend nicht allein, und das habe ich gebraucht. Es war gut, dass du da warst.“ Dann dachte Max, dass er sich vielleicht für einen weiteren Abend verabreden sollte. Und so sagte er:
„Was hältst du davon, wenn wir uns nächsten Dienstag hier treffen? Hier, in diesem Restaurant?“
Erst zögerte Franz, dann meinte er: „Warum nicht? Es war auch für mich ein schöner Abend. Mal etwas anderes, und einmal Pause von den Kindern, und Pause auch von schlechten Gedanken. Ja, warum nicht? Ich würde mich freuen.“
"Gut, prima, ich werde um acht Uhr hier sein," meinte Max.
Max wollte wissen, wo Franz den wohne. Das war nur zehn Minuten von diesem Restaurant entfernt, in einer Nebenstraße der Budapester Straße. Es war eine kleine Dreizimmerwohnung in einem fünfstöckigen Haus, in das sie vor knapp einem Jahr gezogen waren. „Ja, um Geld zu sparen,“ erklärte Franz. Denn das Wohnen war in Hamburg sehr teuer geworden und die Kosten für Heizung und Strom waren gestiegen. "Unsere alte Wohnung konnten wir nicht mehr bezahlen."
Nach einem Händedruck wandte sich Franz ab. Max sah ihm eine Weile nach, dann ging auch er.
Max nahm sich ein Taxi, das ihn zum Altonaer Bahnhof brachte, von dort nahm er die S-Bahn. Es war nach Mitternacht, als er nach Hause kam, und er hatte das Gefühl, einen schönen Abend verbracht zu haben. Dieser Abend hatte nichts mit Konzerten zu tun, die er gelegentlich besuchte, oder mit einer Theater- oder Kinoaufführung, denn auch derartige Veranstaltungen besuchte er. Der Abend, den er mit Franz verbracht hatte, hatte etwas mit Leben zu tun, mit echtem Leben, nicht mit einem gespielten Leben. Der Abend hatte Max sehr nachdenklich gemacht.