Читать книгу Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL - Jan Standke - Страница 5

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Als der auf Hans-Ulrich Treichels Erzählung Der Verlorene basierende Fernsehfilm Der verlorene Bruder im Dezember 2015 erstmals in der ARD ausgestrahlt wird, ist die Überraschung groß: 5,77 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer sehen den Film über ein Familienschicksal im Deutschland der Nachkriegszeit, darunter auch über eine Million in der jüngeren Altersgruppe von 14 bis 49 Jahren. Die Einschaltquote liegt damit nur knapp hinter der des Champions-League-Spiels des FC Barcelona gegen Bayer Leverkusen.1 Treichels Thema trifft ganz offensichtlich einen Einen Nerv getroffen Nerv des Publikums. Schon seine 1998 erschienene Erzählung war ein großer literarischer Erfolg und zugleich der Durchbruch des Autors.

Was Treichel in Der Verlorene erzählt, ist auf den ersten Blick gar nicht so außergewöhnlich. Ein namenloser Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in den 1950/60er Jahren, irgendwo in der ostwestfälischen Provinz. Dort ließen sich seine Eltern nieder, nachdem sie in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs aus Ostpreußen fliehen mussten. In der neuen Heimat hat der Vater es zum Großhändler für Fleisch- und Wurstwaren gebracht. Die Mutter unterstützt als Hausfrau den wirtschaftlichen Aufstieg ihres Mannes und erster Wohlstand stellt sich ein. Das Familienleben hingegen ist von Schweigen bestimmt. Schuld- und Schamgefühle begleiten die Kindheit des Erzählers. Sie rühren, wie sich herausstellen soll, unter anderem vom Verlust seines älteren Bruders Arnold her, der auf der Flucht in den Westen verlorenging.

Jahre später macht der Suchdienst des Roten Kreuzes ein Findelkind ausfindig, das der Familiengeheimnis verlorene Bruder sein könnte. Bevor die Familie zueinanderfinden kann, muss aber die Verwandtschaft mit dem Findelkind nachgewiesen werden. Eine Odyssee der erbbiologischen Untersuchungen, Vermessungen und Berechnungen beginnt.

Die Ergebnisse sind betrüblich. Denn am Schluss gilt eine Unwahrscheinliche Verwandtschaft Verwandtschaft als nahezu ausgeschlossen und auch ein Adoptionsantrag der Mutter scheitert. Kurz bevor die Mutter das beinahe erwachsene Findelkind in einer nahegelegenen Stadt sehen könnte, schreckt sie zurück. Der Ich-Erzähler hingegen meint, seinen Doppelgänger zu erblicken. Ob das Findelkind tatsächlich der gesuchte Bruder ist, bleibt offen.

Treichels Ich-Erzähler wächst während des bundesdeutschen Wirtschaftswunders auf. Den Zweiten Weltkrieg hat er nicht miterlebt. Mit seinen Nachwirken des Krieges Konsequenzen ist er dennoch konfrontiert. Denn unter der Oberfläche von wirtschaftlichem Aufschwung und Konsum wirken die Traumata weiter, die Flucht und Vertreibung bei den Eltern hinterlassen haben: der Verlust des Bruders, der Verlust von Haus und Hof in Ostpreußen, eine mutmaßliche Vergewaltigung der Mutter während der Flucht. Es stellt sich aber auch die Frage nach historischer Schuld: Der Vater war Soldat, und rassistisch gefärbte Ressentiments gegen Polen und Russen sind ihm nicht fremd. Welche Rolle er im Krieg spielte und wie er zu den Besitztümern in Ostpreußen gekommen war, erfahren die Leserinnen und Leser nicht. Statt über ihre Erfahrungen zu sprechen, verdrängen die Eltern das Erlebte. Die Mutter flüchtet sich in Schweigen und Melancholie, der Vater stürzt sich in die Arbeit. Die Traumata, die Scham und Schuld der Eltern übertragen sich auch auf den Sohn.

Das Schicksal der Eltern ähnelt den Erlebnissen vieler, die nach ihrer Flucht und Vertreibung während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland ankamen. Der Verlorene ist ein Stück literarische Literarische Mentalitätsgeschichte Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit, die der Ich-Erzähler anhand seiner Betrachtungen der familiären Verhältnisse entwirft. Er berichtet vom gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit und individueller Schuld, von den Herausforderungen der 1950/60er Jahre, aber auch vom unterschwelligen Fortleben nationalsozialistischer Ideologie. Auch lange tabuisierte Themen wie sexuelle Gewalt als Nebenerscheinung des Krieges werden angesprochen. Vor allem aber wird vom Aufwachsen und der Identitätssuche in einer Familie berichtet, die dem Abwesenden mehr Bedeutung zumisst als dem Anwesenden.

Mit dem Ich-Erzähler hat der Autor Autobiografische Grundlage Treichel manches gemeinsam. Auch der älteste Bruder des Autors ging auf der Flucht der Eltern aus Polen verloren. Doch Der Verlorene ist keineswegs nur ein faktischer Lebensbericht des Autors. Die Erzählung ist komplex komponiert, reich an Symbolik und mythologischen Bezügen sowie ironisch im Ton. Biografie und Fiktion fließen bei Treichel kunstvoll zusammen.

In anderen literarischen Texten hat Treichel die Ereignisse, von denen Der Verlorene handelt, weitererzählt und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Der Verlorene ist somit Intertextualität intertextuell mit weiteren Erzählungen und Romanen Treichels verbunden und eignet sich als Einstieg in das Werk eines wichtigen Erzählers der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Die Medien filmische Adaption der Erzählung sowie eine Dramatisierung für die Theaterbühne bieten medienspezifische Bearbeitungen des literarischen Stoffs.

Durch die enorme Bedeutung der Themen Flucht und Migration für unsere Gegenwart hat Treichels historisch orientierte Erzählung an Aktualität Aktualität gewonnen.

Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL

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