Читать книгу Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel: Reclam Lektüreschlüssel XL - Jan Standke - Страница 8
Die Wahrheit über den »toten« Bruder
ОглавлениеDer Ich-Erzähler lebt einige Jahre in der Überzeugung, sein Bruder sei tot, bis ihm die Mutter in Aussprache mit der Mutter einer »Aussprache« (S. 12) die Wahrheit über Arnold offenbart: Arnold sei gar nicht tot, stattdessen sei er auf der Flucht aus der ostpreußischen Heimat verlorengegangen. Es fällt der Mutter schwer, den Grund für das Verschwinden des älteren Sohnes auch nur »annähernd begreiflich zu machen« (S. 14), und der Ich-Erzähler versteht die »Geschichte vom verlorengegangenen Arnold« (S. 13) dementsprechend auch nur zum Teil.
Eines Morgens hätten russische Soldaten den Treck der Eltern Auf der Flucht gestoppt gestoppt und sich »ihre Opfer« aus den Flüchtenden herausgesucht, darunter auch die Eltern des Ich-Erzählers. Aus panischer Angst vor einer Erschießung habe die Mutter Arnold einer neben ihr hergehenden Frau in die Arme gelegt (S. 15). Die Frau sei sofort in der Menschenmenge verschwunden, so dass sie ihr nicht einmal den Namen des Kindes habe zurufen können.
Die Eltern wurden von den russischen Soldaten nicht erschossen, aber dennoch sei das Das »Schreckliche« geschieht »Schreckliche« – vermutlich eine Vergewaltigung der Mutter – »dann doch passiert« (S. 16). Auf die Neuigkeiten über den »untoten Bruder« (S. 17) reagiert der Ich-Erzähler wütend. Er erkennt nun, dass ihm durch Arnolds Schicksal nur eine »Nebenrolle« (S. 17) in der Familie zugewiesen wurde.
Der Ich-Erzähler macht den Bruder dafür verantwortlich, dass er in einer »von Schuld und Scham Schuld und Scham vergifteten Atmosphäre« (S. 17) aufwächst, die alle Lebensbereiche durchdringt. Vor allem die sonntäglichen Ausflüge, die die Familie mit der »schwarzen Limousine« (S. 18) des Vaters in den Teutoburger Wald unternimmt, erlebt der Ich-Erzähler als »wahre Schuld- und Schamprozessionen« (S. 19).
Um den Ausflügen zu entgehen, legt sich der Ich-Erzähler eine »spezielle Form von Reisekrankheit Reisekrankheit« (S. 21) zu. Während der Autofahrten, für die der Vater verschiedene neue Limousinen anschafft (S. 21), und später dann auch im Zug muss sich der Ich-Erzähler regelmäßig erbrechen. Die Eltern kapitulieren schließlich, und der Ich-Erzähler darf die Sonntage fortan zu Hause verbringen. Die sonntäglichen Stunden sieht er als seine »schönsten Kindheitserinnerungen«, obwohl er nach kurzer Zeit stets »Beklemmung und Verlassenheit« (S. 23) empfindet. Ablenkung findet er z. B. bei seinen Versuchen, mit geschlossenen Augen die am Wohnzimmer vorbeifahrenden Autos am Motorgeräusch zu erkennen, oder beim »exzessive[n] Radiohören« (S. 24).
Bei der Sendersuche lauscht er begierig Radio und russische Worte russischen Worten und bildet sich ein, dass die Worte in der fremden Sprache etwas mit dem Schicksal seiner Familie zu tun haben (S. 25). Dass der Ich-Erzähler seine Zeit nun oft auch vor dem neuen Fernsehen Fernsehgerät verbringt, findet der Vater »unerträglich« (S. 26). Deshalb überhäuft der sonst sehr wortkarge Vater den Sohn mit Arbeitsanweisungen, sobald der Fernseher eingeschaltet ist (S. 27).
Nur wenn Tante Tante Hilde Hilde, die ältere, verwitwete Schwester des Vaters, zu Gast ist, findet dieser Gefallen am Fernsehen. Es amüsiert ihn, dass die strenggläubige Hilde durch das Fernsehen in »Versuchung[ ]« (S. 29) geführt wird. Denn eigentlich liest sie ständig nur im »Kirchenblättchen«, diskutiert die »Wochenlosung« und hält das Fernsehen für eine »Erfindung des Teufels« (S. 28). Heimlich interessiert sie sich aber doch für das Fernsehprogramm. Sie sitzt zwar abgewandt, hört aber aufmerksam zu, während die Mutter und der Ich-Erzähler auf den Bildschirm blicken.
Die Freude, die Mutter und Sohn am Fernsehen empfinden, wird von Schuld- und Intimität und Scham Schamempfindungen verdrängt, sobald es auf dem Bildschirm harmlose Intimitäten, z. B. Kussszenen, zu sehen gibt (S. 31). Die Beschämung hält auch dann noch an, wenn keinerlei intime Szenen mehr zu sehen sind. »Die bloße Zweisamkeit vor dem Fernseher« (S. 31) treibt dann dem Ich-Erzähler die Schamröte ins Gesicht. Die Mutter entgeht der Situation, indem sie den Fernseher ausschaltet, den Raum verlässt und sich im Haus »zu schaffen« (S. 32) macht.