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16. Juni

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Die Sonne schien durchs Fenster, als Charlotta die Augen aufschlug. Sie sah sich verwirrt um und ihr fiel wieder ein, was am vorherigen Tag passiert war. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, sich ausgezogen zu haben. Aufgrund des unangenehmen Gefühls im Mund schien sie aber keine Energie mehr gehabt zu haben, ihre Zähne zu putzen. Seufzend kämpfte sie sich aus den Kissen hoch.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat in den riesigen Wohnraum; er war leer. Sie erinnerte sich, dass sich die Badezimmertür gegenüber vom Eingang befand und verschwand erst einmal dort, lief erneut in das Zimmer, holte Wäsche aus ihrem Koffer und kehrte ins Bad zurück.

Frisch geduscht und sauber gekleidet, machte Charlotta sich auf den Weg, Rob zu finden. Ein Blick auf die Uhr ließ sie vermuten, dass Rob noch schlief und sie nicht gehört hatte, als sie im Bad herumrumorte. In dem großen offenen Wohnbereich fand sie ihn nicht, nach ihm zu rufen, traute sie sich nicht und in eins der anderen Zimmer zu gehen, erst recht nicht. Sie wollte ihn keinesfalls wecken. Deshalb verwarf sie ihre Idee, ihn zu suchen, direkt wieder und beschloss, sich ein wenig umzusehen.

Eine Menge CDs standen im Regal, allerdings weitestgehend von Künstlern, deren Namen sie noch nie gehört hatte. Okay, zwischen seinem und ihrem Musikgeschmack lagen Welten – anders wäre es aber auch kein Garant für eine erfolgreiche Beziehung, wenn sie mal an Ralph dachte.

Bücher. Vor allem Reisebeschreibungen, Naturfotografien. ›Natur und Lebensräume‹ – diese Zeitschriftenreihe hatte ihr Vater auch gerne gelesen. Von ›Natur und Lebensräume‹ schien schon seit seiner Geburt ein Abonnement zu bestehen. Einige Exemplare existierten sogar in fremden Sprachen. Ob Rob so viele Sprachen beherrschte? Was machte er überhaupt beruflich?

»Suchst du etwas Bestimmtes?«

Mit einem Aufschrei fuhr Charlotta herum. »Wieso schleichst du dich so an? Ich hab dich gar nicht gehört!«, fuhr sie ihn an.

»Ich habe bislang immer gedacht, ich könnte in meinem Haus herumlaufen, wie ich wollte.«

»Tut mir leid, ja klar darfst du das. Ich hab mich nur so furchtbar erschrocken, weil du so plötzlich und so lautlos hinter mir aufgetaucht bist. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, ich suche nichts Bestimmtes sondern wollte mich einfach nur ein bisschen umsehen. Da hier alle der Überzeugung sind, dass wir ein Paar werden«, Rob zog bei der Formulierung amüsiert eine Augenbraue hoch, »dachte ich, dürfte es nicht allzu verwerflich sein, etwas über deine musikalischen und literarischen Vorlieben zu erfahren.«

»Dass wir einen unterschiedlichen Musikgeschmack haben, habe ich in deiner Wohnung schon feststellen können. Du kannst dich darüber vermutlich gut mit meinem Bruder Marc unterhalten. Viele deiner CDs habe ich bei ihm auch schon gesehen oder gehört.« Rob grinste. »Wollen wir gemeinsam was frühstücken?«, fragte er.

»Au ja, für einen Kaffee würde ich jetzt sterben«, seufzte Charlotta.

»Ach ja, die Kaffee-Sucht!« Rob lachte.

»Erzählst du mir ein bisschen von dir?«, fragte Charlotta als sie – einen Kaffee in der Hand und eine Scheibe Brot vor sich auf dem Teller – mit ihm am Tisch saß.

»Was möchtest du wissen?«, schmunzelte Rob.

»Na, alles. Ich … ich weiß irgendwie nicht viel von dir. Außer, dass du manchmal ein Wolf bist, wenn ich das nicht doch nur geträumt habe. Apropos – kannst du das einfach so oder braucht es dafür einen Anlass. Ich meine …« Sie verstummte, unsicher, ob sie ihn nicht vielleicht durch ihre Fragen schon beleidigen konnte.

»Jaa?« Sein Grinsen war eindeutig spöttisch.

»Was für eine Art Wolf bist du denn überhaupt?« Charlotta beschloss, sich nicht provozieren zu lassen. »In Filmen und Büchern gibt es Werwölfe, die verwandeln sich wohl zu Vollmond. Aber gestern hast du das tagsüber gemacht, und bis zum Vollmond sind’s ja auch noch ein paar Tage. Außerdem stürzen Werwölfe sich in den Filmen immer gleich auf alle Menschen in ihrer Umgebung und zerfleischen sie. – Na ja, in Filmen, also …«, verteidigte Charlotta sich verlegen, weil Robs spöttisches Grinsen breiter wurde.

»Tja, wir sind tatsächlich auch so eine Art Werwölfe. Allerdings sind wir nicht auf die Nacht und den Vollmond angewiesen. Es geht nachts besser und schmerzfreier und bei Vollmond sowieso. Aber …«

»Wieso – tut das weh?«

»Ja!«

»Warum machst du so etwas denn überhaupt? Ich meine, ihr könntet doch ganz normal als Menschen zwischen anderen Menschen leben. Vor allem, wenn das auch noch wehtut!«

»Wir haben unsere Aufgaben, wobei das in diesen Zeiten kaum noch eine Rolle spielt. Dazu kann ich dir irgendwann mal mehr erzählen. Auch können wir uns in bestimmten Situationen nicht nicht wandeln. Nicht alle Männer bei uns sind Gestaltwandler, einige haben dafür aber andere Gaben. Aber wir Wölfe … in unserer Familie scheint das besonders stark ausgeprägt zu sein, die meisten meiner Geschwister haben eine Gabe und Pauls ältester Sohn ebenfalls.«

»Und die Mädchen?«

Rob zuckte mit den Achseln. »Ich weiß, dass ›Wer‹ ein altes Wort für Mann ist. Deswegen heißen wir auch seit vielen Jahrhunderten ›Mannwölfe‹. Ich habe keine Ahnung, ob es auch weibliche Werwölfe gibt, glaub’s aber nicht.«

»Aber wenn du als Wolf … als Werwolf …«

Charlotta verstummte, doch Rob kannte die Frage. »Nein, ich habe nicht den Drang, Menschen zu zerfleischen. Glaub mir, es gibt in diesem Dorf keinen einzigen Wolf, von dem ich wüsste, dass er schon mal einen Menschen zerfleischt und sein Blut getrunken hätte.«

Unter Robs spöttischem Grinsen senkte Charlotta den Blick. »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«

»Neunundzwanzig!«

»Ehrlich?«

»Ja, wieso?«

»Und dann suchst du dir ’ne ältere Frau? Ich meine, alle Männer wollen doch jüngere Frauen!«

»Was sind zwei Jahre?«, wollte Rob wissen und sah sie mitleidig an.

»Na ja …« Vielleicht hatte er damit tatsächlich recht, überlegte sie, und zuckte mit den Achseln. »Magst du mir noch ein bisschen mehr von dir erzählen?«

Rob nickte. »Ja klar. Also, ich bin jetzt neunundzwanzig. Ich habe noch fünf ältere Geschwister und eine jüngere Schwester. Meine Eltern leben nicht mehr.«

»Sieben Kinder? Das ist heutzutage aber viel.«

»Bei uns nicht.«

»Aber mir kommt euer Dorf jetzt nicht übervölkert vor.«

»Nein, es ziehen auch einige weg.«

»Das sind dann aber die normalen!?«

»Was sind für dich denn die normalen und was die unnormalen Dorfbewohner?« Rob lehnte sich, die Kaffeetasse in der Hand, in seinem Stuhl entspannt zurück und zog eine Augenbraue bedeutungsvoll hoch. Dabei sah er sie belustigt an.

»Na jaa …« Verlegen zog Charlotta eine Schulter hoch. »So habe ich das nicht … Na ja, wenn du berücksichtigst, wie ich aufgewachsen bin, ist das Sich-in-einen-Wolf-verwandeln-Können eher nicht das, was ich als normal bezeichnen würde. Und wenn du davon erzählst, dass sich einige von denen, die mir hier begegnen, plötzlich in einen Wolf … oder vielleicht sogar auch in ein anderes Tier verwandeln können – also, mich würde hier bei euch fast nichts mehr wundern –, dann finde ich das aus meiner Sicht nicht normal. Sicherlich siehst du das mit deinem Hintergrund anders, aber für mich ist das alles nun mal neu.«

»Welches andere Tier fällt dir denn so ein, in das man sich sonst noch wandeln könnte?«, erkundigte er sich und bemühte sich vergeblich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

»So wie du mich anguckst … Rob, du willst mich jetzt auf den Arm nehmen, oder? Das habe ich doch mehr aus Spaß gesagt.« Charlotta konnte seinen Gesichtsausdruck nicht einordnen, merkte aber wie bislang so oft bei Unterhaltungen mit ihm, dass sie nur das Falsche sagen und ihm in die Falle laufen konnte.

»Na ja, ich hätte noch Raben und Eulen im Angebot.« Wieder beobachtete Rob genau Charlottas Reaktionen.

»Och, ich hätte jetzt auf Elefanten und Giraffen gesetzt!« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Dir ist schon klar, dass du mich mit deinem Verhalten immer mehr verunsicherst? Wenn du wirklich möchtest, dass ich hier alles kennenlerne und mehr über dich und die anderen Leute im Dorf erfahre, ist das kein guter Weg. Du hast die ganze Zeit über einen enormen Wissensvorsprung, lässt mich aber permanent am langen Arm verhungern. Ich finde das nicht fair!«

Das Grinsen wich aus Robs Gesicht. »Sorry, das war mir so nicht klar. Du hast recht, tut mir leid. Vielleicht erzähle ich dir erst mal noch ein bisschen, ja? Es ist nur so, dass es mir ungeheuren Spaß macht, deine Reaktionen zu sehen. Manchmal reagierst du so herrlich vorhersehbar und dann wieder auf eine so herzerfrischende Art anders … Es tut mir leid.«

Rob sah sie zerknirscht an. »Okay, also, bei meinem Hinweis auf die Eulen und Raben handelt es sich nicht um einen Scherz, auch wenn es für dich so geklungen haben mag.«

»Oh!« Wenn es nicht so weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegen würde, könnte sie ihm das bedingungsloser glauben. Doch Rob sah wirklich nicht so aus, als wolle er sie auf den Arm nehmen.

»Ich weiß, dass es Menschen in anderen Regionen gibt«, erklärte er, »die sich in andere Tiergestalten wandeln. Aber von denen war noch niemand für einen von uns bestimmt, sodass diese Gene noch nicht bis zu uns vorgedrungen sind.«

»Darf ich da noch mal einhaken? Ich meine mit dem Füreinander bestimmt sein. Irgendwie lässt mich das nicht los. Wie groß ist die Chance oder die Wahrscheinlichkeit, dass hier in deinem Dorf eine Frau ist, die für dich oder auch einen der anderen hier lebenden Männer bestimmt ist?«

»Sehr gering. Das sorgt dafür, den Gen-Pool nicht zu sehr zu begrenzen. Außerdem gibt es ja nicht nur das Wandeln in andere Gestalten, sondern auch andere Gaben. Nele hast du ja vorhin schon kennengelernt. Neben ihr gibt es hier im Dorf noch einen Mann und eine weitere Frau, die per Telekinese Dinge bewegen können. Außerdem können wir, also alle, die eine Gabe haben, über unseren Pisap Inua miteinander kommunizieren.«

Verwirrt sah Charlotta ihn an. Wieder einmal wurde Rob deutlich bewusst, dass er ihr Dinge, die für ihn seit allerfrühester Kindheit selbstverständlich waren, erst genau erklären musste. Und, zum ersten Mal in seinem Leben durfte er tatsächlich jemandem von außen etwas über sich, sein Dorf und dessen Bewohner erzählen. Da Charlotta von all diesen aus ihrer Sicht sonderbaren Dingen in seinem Leben nicht leicht zu überzeugen schien, musste er sich noch einmal um besonders genaue Erklärungen bemühen. »Ich vermute, dass er ’ne Schale mit Kräutern angezündet hat, als du bei ihm warst«, sagte er.

Charlotta nickte, und Rob sprach weiter. »Er macht das mit verschiedenen Kräutern für verschiedene Anlässe. Du hast bestimmt diesen Schrank mit den gefühlt zweitausend kleinen Schubladen gesehen. In jeder Lade ist etwas anderes. Kein Wunder, dass es lange braucht, das zu lernen.«

»Er hat mir gestern was von zwanzig Jahren oder so erzählt.«

»Das stimmt! Bei meinem Bruder Marc hat er sogar schon sehr früh von den alten Geistern unserer Ahnen erfahren, dass er der nächste Pisap Inua sein wird. Deswegen hat er Marc mit zehn Jahren bereits regelmäßig zu sich geholt, um ihm sein Wissen zu vermitteln. Mein Bruder macht das auch mit einer Hingabe, dass wir uns alle sicher sind, dass er wirklich dafür ausersehen ist.« Charlotta nickte langsam.

»Jetzt muss ich noch mal einen kleinen Bogen spannen: Wenn irgendetwas Wichtiges anliegt, zum Beispiel ein Treffen, bei dem wir in der Verbundenheit mit den alten Geistern, den gern ingem, sehen, was für uns und unser Zusammenleben wichtig ist, eine Gefahr, eine Jagd … oder so etwas, dann versammeln wir uns alle bei ihm. Wenn er seine Kräuter anzündet, ist es wichtig, auf die richtige Art und Weise zu atmen. Das wirst du vermutlich nicht auf Anhieb können, wir haben es von frühester Kindheit an gelernt. Das Atmen ist bei uns sowieso und grundsätzlich eine ganz wichtige Geschichte«, schlug er doch noch mal einen weiteren Bogen. »Weißt du, mit deinem Atem kannst du ganz viel beeinflussen. Tief durchzuatmen, beispielsweise, kennst du sicherlich auch, um ruhiger zu werden, wenn du dich mal aufgeregt hast.«

Charlotta nickte. »Ja, ich weiß. Sobald man bewusst tief in den Bauch atmet, bekommt auch das Blut im unteren Teil der Lunge, das dort der Schwerkraft wegen sitzt, so viel Sauerstoff, dass es dann entsprechend angereichert wieder in den Kreislauf kommt. Dieses Mehr an Sauerstoff lässt einen dann ruhiger und konzentrierter werden – so wie man im Gegensatz dazu bei kurzen hektischen Atemstößen unruhiger wird und im Ernstfall hyperventiliert«, dozierte sie, ganz die Krankenschwester.

Schmunzelnd ergänzte Rob: »Und genau dieses tiefe Atmen nutzen wir hier immer wieder und ganz bewusst. Wir konzentrieren uns mit ruhiger Atmung, die manchmal etwas Meditatives hat. Wenn wir als Kinder Angst hatten, haben meine Eltern oder der Pisap Inua uns immer aufgefordert, mit ihnen im gleichen Rhythmus zu atmen. Du glaubst nicht, wie sehr das beruhigen kann. Außerdem bekommst du etwas Abstand zu dem, was dir Angst eingejagt oder dich beunruhigt hat. Du konzentrierst dich darauf, dich mit deinem Atem dem anderen anzupassen und das verbindet – vor allem, wenn dich dabei jemand in den Arm nimmt.« Ihrem skeptischen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, versuchte Charlotta gerade, sich das bildlich vorzustellen und Rob grinste.

»So ähnlich ist das auch, wenn wir uns alle beim Pisap Inua versammeln und er die Kräuter in seiner Schale anzündet. Du musst versuchen, richtig zu atmen. Du konzentrierst dich dabei auf den Rauch, aber auch auf die anderen. Wenn du erst ein bisschen von dem Rauch eingeatmet hast, wirst du viel bewusster wahrnehmen, wie die anderen atmen und dich ihnen ganz automatisch anpassen.«

Charlottas Atem veränderte sich, als probiere sie ein anderes Atmen aus. Daher wartete Rob einen Augenblick, bevor er mit seinen Erklärungen fortfuhr. »Und jetzt noch mal zurück zur Kommunikation in der Trance. Wenn wir dann also alle den rituellen Rauch in uns aufgenommen haben, spricht der Pisap Inua durch seine Gedanken mit uns. Das funktioniert in unserer Gestalt als Mensch, aber auch, wenn wir als Wölfe Eulen, oder Raben unterwegs sind. Und das geht, je nachdem, für welche Form von Trance er sich über die Auswahl der Kräuter entschieden hat, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. So sind wir immer über alles, was die anderen sehen und erleben, informiert.«

»Aber der Pisap Inua kann doch nicht gleichzeitig die Ansagen aller Leute in sich aufnehmen, sie verstehen, sie auseinanderdividieren, sie …«

»Doch, das kann er.«

»Oh! Mhm …« Charlotta schwirrte der Kopf. Sie schwieg, während Rob sie geduldig beobachtete. »Ähm … ich würde gerne noch mal auf das Partnerfinden im Dorf zurückkommen … weil … ich kann mir vorstellen, dass es vielleicht die eine oder andere Frau geben mag, die sich Hoffnungen gemacht hat. Also, dass sie die Auserwählte für dich ist, meine ich. Vor allem wenn ihr nicht allzu eng miteinander verwandt seid.«

»Gibt es einen besonderen Grund für dein Interesse?«

»Na ja«, sagte Charlotta verlegen und zog entschuldigend die Schultern hoch, »ich würde sehr gerne vermeiden, mich hier mit irgendwelchen Konkurrentinnen auseinandersetzen zu müssen. Ich …«

»Nele hat geplaudert, ja?«

»Mhm …« Sie merkte, dass ihr allein der Gedanke, mit einer Frau zusammenzustoßen, mit der Rob bereits intim gewesen war, überraschend unangenehm war. Allein schon, dass er eine andere Frau nur küsste, so, wie er sie selbst am Tag zuvor geküsst hatte, dort auf der Wiese am Fluss, behagte ihr nicht.

»Tja, es mag vielleicht wirklich … eine Frau geben, die gehofft hat, dass … nicht du die Auserwählte bist.« Charlotta merkte, dass er ihr auswich.

»Gibt’s das denn, dass euer Schamane für jemanden gar nicht die oder den Richtigen findet und man sich dann den Partner frei wählen kann?«

»Ja klar!«

»Warum hast du das nicht getan, sondern darauf gewartet, dass Ralph und ich uns trennen. Ich meine, es hätte ja durchaus sein können, dass wir zusammenbleiben und ich dann irgendwann so mit einhundertundfünf Jahren an Altersschwäche sterbe.«

Rob grinste schief. »Der Pisap Inua hat mich davon überzeugen können, dass es für mich sehr wohl die eine bestimmte Frau gibt. Und auch, dass ich der nicht nur aus der Ferne beim Altwerden zugucken muss. Dann blieb mir nichts anderes übrig, dann musste ich warten.«

»Womit?«, platzte Charlotta heraus, ohne vorher nachgedacht zu haben.

Rob zog irritiert die Stirn kraus. »Was meinst du?«

»Ach, nichts. Sag mir, was machst du beruflich?«

»Nee, nee, nee, meine Liebe«, lachte Rob. »Alleine schon weil du so verlegen aussiehst und so abrupt das Thema wechselst, möchte ich wissen, was du gemeint hast.«

»Ach Quatsch! Ich habe nicht … ich weiß gar nicht mehr, was ich wollte. Ich …«

Schweigen. Rob wartete, und Charlotta hoffte, dass er von einer Antwort absehen würde. Das Bild, dass Rob eine fremde Frau im Arm hielt, hatte sie zu dieser unbedachten Frage veranlasst. Wie peinlich ist das denn?

»Charlotta?«

Charlotta schwieg und mied Robs Blick. Als habe sie noch nie Milch in ihrem Kaffee gesehen, schaute sie intensiv in ihre Tasse und wagte nicht, aufzusehen.

»Vermutlich hast du es noch nicht mitbekommen, aber ich kann ziemlich hartnäckig sein. Vielleicht rekapituliere ich einfach noch mal, damit dir doch wieder einfällt, was du wissen wolltest. Ich glaube, wir sprachen darüber, dass ich irgendwann einsehen musste, dass es doch eine für mich vorbestimmte Frau gibt und ich deshalb warten musste. Und war deine Frage nicht ›womit‹?«

»Mhm … kann wohl sein … ich meinte wohl ›worauf‹ …«, murmelte Charlotta. Als ihr das Schweigen zu unangenehm wurde, sah sie auf und begegnete Robs amüsiertem Blick. »Na ja, das kann man doch … also das mit dem Warten … Ach, Rob, lass es doch gut sein!«, bat sie ungeduldig und leicht verzweifelt.

»Ich bin hartnäckig«, erinnerte er sie fröhlich.

Charlotta verdrehte die Augen. »Okay, dann sag mir einfach, ob du nur mit der weiteren Suche nach der für dich bestimmten Frau gewartet hast oder überhaupt. Also, überhaupt mit Frauen. Ich meine, wenn du doch wusstest, dass die anderen Frauen um dich herum auf gar keinen Fall für dich bestimmt sind und du auch nicht mit ihnen zusammenleben wirst …«, stammelte sie.

»Du möchtest also wissen, ob ich zwischendurch vielleicht mit anderen Frauen geschlafen habe, oder ob ich meine ersten sexuellen Erfahrungen jetzt mit dir mache?«, erkundigte er sich lauernd und weidete sich an Charlottas Verlegenheit.

»So direkt kann man es auch ausdrücken«, murmelte sie. »Na ja, es geht mich ja auch nichts an und …«

»Och, ich denke schon, dass es dich was angeht. Willst du nicht wissen, was dich erwartet?«

»Waas?«

»Möchtest du es austesten?«

»Nein!« Empörung auf der ganzen Linie.

»Ich denke, du meinst mit ›nein‹ eher ›nicht hier und jetzt‹«, mutmaßte Rob.

»Weißt du was, Robert?« Sie nannte ihn absichtlich mit seinem vollen Namen und erkannte zu ihrer Genugtuung, dass er zusammenzuckte und das Gesicht verzog. »Auch wenn euer Schamane dir gesagt hat, dass ich die Frau fürs Leben für dich bin und du ihm das glaubst – ich muss das noch lange nicht glauben. Im Moment merke ich, dass du mich permanent in Verlegenheit bringst und mich auflaufen lässt. Wenn ich auch noch feststellen soll, ob ich dich leiden kann oder nicht, und ob sich zwischen uns mehr entwickeln kann als reine Sympathie – oder eben nicht! –, würde ich mich gerne auch ganz sachlich mit dir unterhalten können.«

Rob ließ ihre Worte auf sich wirken. »Du scheinst auch gerade wieder ziemlich angespannt zu sein«, bemerkte er nach einer Pause nachdenklich.

»Boah, ich glaub es nicht!« Charlotta verdrehte die Augen und ließ sich betont theatralisch in ihrem Stuhl zurückfallen. »Wundert dich das? Für mich ist das hier totaler Stress. Ich komme in eine Welt, die mir fremd ist und die ich nicht verstehe. Ich kenne hier außer dir niemanden – und dich kenne ich im Grunde ja auch noch nicht. Mit deinen Fragen, die mir unangenehm sind, drängst du mich immer wieder in die Ecke … Jetzt guck nicht so unschuldig! Das weißt du doch ganz genau! Ja, das macht mir natürlich Druck.« Zu ihrem großen Entsetzen spürte Charlotta einen dicken Kloß in der Kehle. Na toll, jetzt wird’s ja noch unangenehmer.

Rob, der sie aufmerksam beobachtete, merkte in der Tat, wie emotional aufgewühlt Charlotta gerade war. Das hatte er nicht beabsichtigt. Aber schon bei ihrer ersten Begegnung auf dem Supermarktparkplatz durfte er seinerzeit feststellen, wie herrlich man sie in Verlegenheit bringen konnte. Vielleicht hatte er es tatsächlich damit etwas übertrieben, sie an ihre Grenzen zu bringen.

Aber zu sehen, wie sie sich wand und wehrte und sich ihm schließlich doch ergeben musste … Das war vermutlich – auch als Mensch – der Anteil Wolf und Jäger in ihm.

Er erhob sich. Noch bevor Charlotta das recht registrierte, stand er bereits hinter ihr. Rob legte seine Hände auf ihre Schultern, die Daumen strichen sanft über die verhärtete Schulter- und Nackenmuskulatur. Erschrocken darüber, dass sie seine Bewegung kaum hatte wahrnehmen können, zuckte Charlotta zusammen, begann sich aber recht bald unter der Massage zu entspannen. Gleichzeitig entspannte sich dabei auch ihre Atmung, und sie spürte, wie der Druck in ihr nachließ.

»Vielleicht sollten wir ein bisschen raus gehen«, schlug Rob vor. »Beim Laufen redet’s sich erfahrungsgemäß ein bisschen besser. Und wenn du willst, kannst du ja heute auch noch mal beim Pisap Inua vorbeischauen.«

Charlotta atmete tief ein. In der Nacht hatte es ein wenig geregnet. Noch lange nicht ausreichend für den ausgetrockneten Boden, aber die Erde war feucht. Unter den Bäumen schien nur wenig Regen angekommen zu sein, aber das reichte aus, um die Luft frischer wirken zu lassen. Sauberer. Sie liebte diesen erdigen Geruch. Die frühe Sonne bemühte sich redlich, die Erde wieder zu trocknen, weshalb stellenweise ein ganz feiner Dunst über dem Boden zu schweben schien.

Bald merkte sie, dass sie nicht zu der Lichtung liefen, die sie am Vortag bereits gesehen hatte. Es schien ihr so, als kämen sie diesmal von der anderen Seite an die Felsen heran.

Sicheren Schrittes lief Rob einen schmalen Weg hoch. Er musste nicht schauen, wohin er seine Füße setzte. Zu oft war er hier schon entlanggelaufen. In seiner Gestalt als Mensch und in der als Wolf. Das wurde ihm deutlich bewusst, als er sich nach wenigen Metern nach Charlotta umschaute und bemerkte, wie unsicher sie sich immer wieder an dem links neben ihr aufragenden Felsen festhielt. Diese Erkenntnis ließ ihn seinen Plan, ihr die Gegend von oben zu zeigen, ändern. Sie würden nur bis zur Höhle laufen.

»Ich müsste mehr Sport machen«, schnaufte Charlotta, als sie auf einer ebenen Fläche neben Rob stand. Sie keuchte vor Anstrengung – sehr unangenehm.

»Komm mit, ich zeig dir was.« Wieder lief er vor. Als Charlotta nach Luft ringend protestieren wollte, sah sie, dass er in einem Loch verschwand. Neugierig folgte sie ihm.

Der Höhleneingang war mindestens fünf Meter hoch, die Decke senkte sich jedoch sehr schnell. Aber selbst zehn Meter weiter konnte sogar Rob noch aufrecht stehen. Dann wurde es für ihn und seinen Kopf allerdings etwas gefährlich.

Rob nahm aus einer Nische eine Fackel, eine Packung mit Zündhölzern und zündete die Fackel an.

»Wieso legt ihr hier nicht einfach eine Taschenlampe hin?«, wollte Charlotta wissen. Das mit der Fackel und dem Anzünden fand sie umständlich und wegen des offenen Feuers auch nicht ungefährlich.

»Grund Nummer eins ist«, sagte Rob in einem Ton, als habe er den tieferen Sinn ihrer Frage erahnt, »dass es im Schein der flackernden Schatten einfach viel schöner und eindrucksvoller ist. Grund Nummer zwei ist, dass es seltsamerweise nicht permanent, aber doch gelegentlich passiert, dass hier irgendwo aus einer Felsspalte Kohlenmonoxid austritt. Wir würden es mit der Taschenlampe nicht merken. Das Feuer der Fackel reagiert darauf, und wir können noch schnell raus laufen, bevor wir ersticken.«

»Ist das dein Ernst? Dann würde ich doch lieber direkt wieder gehen!«

»Glaubst du, ich würde dich absichtlich in Gefahr bringen?«, fragte er. »Ich selbst hänge übrigens auch zu sehr an meinem jungen Leben. Dieses Verfahren ist seit Generationen erprobt, und ich bin mir sicher, dass ich das beurteilen kann.« Er sah sie im Schein der Fackel prüfend an. »Vertraust du mir?«

Charlotta räusperte sich verlegen. »Na jaa«, sagte sie gedehnt, »da du gerade gesagt hast, dass du auch an deinem Leben hängst … solange du mich da nicht alleine rein schickst, kann ich es wohl wagen, denke ich. Aber nimm’s mir nicht übel – so’n bisschen komisch ist’s mir doch dabei.«

»Komm, ich nehme dich an die Hand«, schmunzelte Rob. »Dann kannst du dir auch sicher sein, dass ich nicht plötzlich weglaufe.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ihre kühle Hand in seine warme, große. Charlotta war verblüfft, wie viel sicherer sie sich in der gleichen Sekunde fühlte und lächelte ihn dankbar an. Für einen Augenblick schien es, als wollte Rob etwas sagen. Doch dann lief er los. Die Fackel in der linken Hand und Charlotta an der rechten.

Das Licht des Höhleneingangs konnte man nur noch erahnen, als Rob plötzlich stehen blieb. »An dieser Stelle musst du ein bisschen aufpassen. Wir müssen hier links um die Kurve, und der Boden ist feucht. Du kannst, wenn du fällst, nicht irgendwo in die Tiefe stürzen, aber du könntest dir empfindlich wehtun.«

»Okay!« In ihr machte sich eine leichte Unruhe breit, etwa vergleichbar mit der freudigen Aufregung, wenn sie als Kinder im Sommer heimlich im Dunkeln durch die Gärten in der gesamten Nachbarschaft gelaufen waren, um Kirschen zu klauen.

Rob spürte, dass sie unwillkürlich fester nach seiner Hand griff. Sie schien wirklich darauf zu vertrauen, dass er sie beschützte, und er merkte, dass ihm der Gedanke außerordentlich gut gefiel.

Auch jetzt ließ er sie nicht los, als er sie, die Fackel vor sich hertragend, auf dem schmaler werdenden Pfad hinter sich herzog. Dann blieb er erneut stehen. Charlotta, die sich vor allem auf seinen Rücken und ihre Füße konzentriert und nichts um sich herum mitbekommen hatte, sah zu ihm auf. In Erwartung der Überraschung, die er ihr bereiten würde, strahlte Rob über das ganze Gesicht wie ein kleiner Junge. Unwillkürlich musste Charlotta lächeln.

»Schau! Pass aber jetzt ein bisschen mehr auf, hier kann man doch abrutschen.« Robs Stimme hallte in dem unterirdischen Raum. Er schob sie vor sich, dass sie mit dem Rücken an seinem Bauch lehnte, und machte den Blick frei auf ein dunkles Loch.

Ängstlich drückte Charlotta sich gegen ihn, fort von dem Loch. Doch als Rob die Fackel hochhielt, holte sie hörbar tief Luft. »Oh wow! Das sieht ja … dafür habe ich gar keinen Ausdruck!«

Vor ihr öffnete sich ein weiterer Höhlenraum, dessen Boden komplett mit Wasser bedeckt war. Das, was für sie im ersten Augenblick wie ein schwarzes Loch aussah, war ein unterirdischer See. An einigen Stellen ragten Stalagmiten aus dem Wasser, was vermuten ließ, dass die schon dort gewachsen waren, bevor der See entstand. Sie brauchte ihre Hand nur auszustrecken, um eine der hellweiß aufleuchtenden Stalaktiten anzufassen, zögerte jedoch. Gerade dieses unberührte Weiß faszinierte sie. Deshalb wollte sie nicht als Erste dafür verantwortlich sein, dass das mutmaßlich mehrere zehntausend Jahre alte Naturkunstwerk irgendwann so schmuddelig aussah wie in den kommerziellen Tropfsteinhöhlen, in denen die Touristen ihre Finger eben nicht bei sich behalten konnten.

Was Charlotta aber noch viel mehr faszinierte, das waren die Wände des Höhlenraumes. Vor ihr tat sich eine ungleichmäßige Wand aus unterschiedlich dicken Erd- und Gesteinsschichten auf. Jede Schicht bestand aus einer anderen Farbe und Struktur. Überrascht und mit glänzenden Augen atmete sie tief ein und hielt den Atem an. Einige der Schichten reflektierten das Licht der Fackel. Für sie wirkte es, als seien tausende von Sternen in der Wand gefangen und glitzerten nun extra für sie um die Wette. »So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«, flüsterte sie bewegt. Sie mochte sich nicht losreißen, wollte so lange wie möglich diese fantastischen Bilder in sich aufnehmen. Stumm staunte sie, dermaßen eingenommen von dem naturgeschaffenen Gesamtkunstwerk, das sich ihr bot, dass sie gar keinen Gedanken daran verschwendete, ob ihr Robs Nähe unangenehm sein könnte.

Es war nichts zu hören außer ihrer beider Atem und dem nachhallenden Klatschen der Tropfen, die irgendwo in den Tiefen der Höhle durch den Felsen sinterten und in den dunklen See tropften.

Obwohl sie sich von dem Anblick kaum lösen mochte, merkte Charlotta schließlich, dass ihr langsam kühl wurde. Unwillkürlich zitterte sie und bemerkte dann, dass Rob sie von hinten umfasste. Sie spürte die rechte Hand, mit der er vorher ihre festgehalten hatte, an ihrem linken Arm, und er drückte sie noch ein wenig fester an sich. Sein Oberkörper gab so viel Hitze ab, dass er ihren Rücken damit warm halten konnte. Dennoch waren die Arme kalt.

An Robs Bauch angelehnt, fühlte sie sich überraschend wohl. Das war vermutlich der Grund, weshalb Charlotta zögerte ihn zu bitten, sie wieder nach draußen in die Sonne zu führen. Ein angenehmes Gefühl der Behaglichkeit und Nähe hüllte sie ein, obwohl sie sich doch kaum kannten. Auch der Arm, der zum Teil auf ihrer Brust lag, fühlte sich angenehm warm an. Und wenn sie den Kopf ein wenig drehte, berührte ihre Nase fast die nackte Haut seines Armes. Fast nur – aber sie stellte fest, dass sie ihn gut riechen konnte. Als sie dann noch spürte, dass Rob seine Nase in ihre Haare grub und tief einatmete, merkte sie plötzlich, wie ihr am gesamten Körper heiß wurde. Das hatte allerdings rein gar nichts mit der Außentemperatur zu tun.

Verlegen versuchte sie, sich aus seinem Arm zu lösen. »Wollen wir wieder zurückgehen?«, fragte sie zaghaft. »Vielleicht können wir ja noch mal hierherkommen.«

Rob räusperte sich mehrmals, bevor er antwortete. »Ja, ich merke auch gerade, dass du frierst. Versprich mir nur, dass du niemals alleine versuchst hierherzukommen. Du kannst dich hier prima verlaufen. Die Chance, dass wir dich dann hier in dem Labyrinth-System wiederfinden, dürfte ziemlich klein sein. – Versprochen?«, setzte er hinzu, weil Charlotta nicht reagierte.

»Okay«, sagte sie heiser. Sie stand noch immer unter dem Eindruck des gerade Gesehenen – außerdem fühlte sie sich gefangen in dem angenehmen und, weil es fremd war, etwas unheimlichen Gefühl, das sich in Robs unmittelbarer Nähe in ihr breitgemacht hatte. Sie glaubte, seine Körperwärme noch immer an ihrem Rücken zu spüren und auch dort, wo sein Arm gelegen hatte.

Draußen empfing sie helles Sonnenlicht. Sie mussten beide eine Weile blinzeln, bis ihre Augen sich wieder daran gewöhnt hatten. Dann folgte Charlotta ihrem Fremdenführer den schmalen Felsweg hinab, zurück in den Wald.

Rob sprach kein Wort. Unten angekommen, wandte er sich nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern in die entgegengesetzte. Nach nur wenigen Metern kamen sie wieder an den kleinen Fluss, was Charlottas Verdacht, dass sie sich dem Felsen diesmal von der anderen Seite näherten, zu bestätigen schien.

Sie setzten sich neben dem Felsen ins Gras. Der Stein reflektierte die Wärme der Sonne, was Charlotta nicht zuletzt ihrer Gänsehaut wegen als angenehm empfand.

Auf der anderen Seite saß Rob, sie schauten beide stumm auf den Fluss. Sie hatte das Gefühl, dass auch er, ähnlich wie der Stein, Wärme abstrahlte. Nur, dass er kein Stein war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein Mann. Ein sehr attraktiver Mann sogar.

Du liebe Güte, Lotta! Was ist mit dir los? Du kennst ihn kaum, und ob du glauben willst, dass er tatsächlich Mr. Right ist, weißt du noch nicht mal. Mach jetzt keine Dummheiten. Für spontane und unüberlegte hormongesteuerte Aktionen bist du schon ein paar Jahre zu alt!

Allerdings waren ihre Hormone und Rob erstens in der Überzahl und zweitens anderer Meinung. Bevor sie zum Nachdenken kam, lag sie im Gras, und Rob beugte sich über sie. »Ich würde dich gerne noch ein bisschen mehr wärmen«, sagte er mit rauer Stimme und suchte ihren Blick.

»Mehr wärmen?«, fragte sie mit zitternder Stimme, nur um überhaupt etwas zu sagen.

»Ja, noch viel mehr«, kündigte er an, und im nächsten Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihren.

Uah … wow … er fühlt sich gut an. Er riecht so gut. Die Lippen, die Hände … nein … oh ja … gut … so gut …

Winzige Gedankensplitter, die ihr durch den Kopf schossen. Bruchstückhaft. Schnell. Sie schossen von allen Seiten und durch den ganzen Körper – nicht nur die Gedanken. Aus ihrem Mund kam nur ein leises Aufstöhnen. Das wiederum schien Rob weniger zu irritieren, als vielmehr zu ermutigen. Sie spürte seine Lippen wieder auf ihren und seine Hand, die sich einen Weg unter ihr T-Shirt bahnte und merkte, dass ihr Körper augenblicklich auf ihn reagierte. Gleichzeitig nahm sie wahr, wie der Stoff ihrer Jeans hart in ihren Schritt gedrückt wurde, was sie erneut aufstöhnen ließ. Sie spürte ihn überall gleichzeitig. Wie viele Hände hatte dieser Mann?

Das Nächste was Charlotta sich fragte, war, weshalb sie nicht eine Sekunde lang ernsthaft versucht hatte, ihm Einhalt zu gebieten. Am Tag zuvor noch fand sie es für einen Kuss ›zu früh‹ und nun …? Sie lag im Gras, den Kopf auf Robs Schulter gebettet, von seinem Arm warm umfasst und glaubte, außer der Sonne auch seine Hände noch immer auf ihrer nackten Haut zu spüren. »Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte«, sagte Rob leise in die Stille hinein, »wäre mir spätestens jetzt so was von klar, dass wir zusammengehören.«

Es schien fast so, als habe er das mehr zu sich selbst gesagt. Doch Charlotta spürte bei seinen Worten, dass ein nie gekanntes Glücksgefühl in ihr aufstieg. Das lag nicht daran, dass sie gerade einen fantastischen Höhepunkt gehabt hatte … nicht nur … na gut, ein bisschen vielleicht doch … aber … ein Gefühl, das sie komplett erfüllte und das sie aus ihrer Beziehung mit Ralph nicht kannte.

Sie wollte nicht zu früh darüber urteilen, aber … war das Liebe? – Und falls ja, weshalb verspürte sie bei diesem Gedanken plötzlich einen unangenehmen Druck in der Magengegend?

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie zum Dorf zurückkehrten. Zwei Männer, denen sie begegneten, grinsten beim Anblick der beiden mit ihrer zerknitterten und mit Grasflecken übersäten Kleidung anzüglich, und Charlotta schlug verschämt die Augen nieder. Rob hingegen schien das nicht zu stören.

Zurück in seinem Haus drehte Rob sich zu Charlotta um. Er wollte ihr vorschlagen, sie zum Pisap Inua zu bringen. Doch beim Anblick des zerzausten Haares, in dem er jetzt noch ein paar kleine Fichtennadeln entdeckte, ihrer geröteten Wangen und der glänzenden Augen wollte er nicht, dass sie ging. Er zog sie vorsichtig an sich, legte die Hände auf ihren Rücken und drückte sie sanft an seinen Körper.

»Ich will dich noch mal, Lotta. Jetzt!«, sagte er heiser und war begeistert über ihre Reaktion. Die Augen wurden noch größer, die Lippen öffneten sich, als wollte sie etwas sagen, und er glaubte, ein leises, zitterndes Einatmen zu vernehmen. Sie rückte nicht einen Zentimeter von ihm ab. Unter seinem Blick schlug sie die Augen nieder und legte dann ihre Stirn an seine Schulter.

Rob stöhnte verhalten auf. Mit einem Ruck hob er die überraschte junge Frau hoch, und mit einer für sie unfassbaren Leichtigkeit trug er sie in atemberaubendem Tempo in sein Schlafzimmer. Charlottas Blick fiel auf das Fenster. Doch bevor sie sich weiter umsehen konnte, umfasste Rob ihr Gesicht mit beiden Händen und zwang sie damit, ihn anzusehen. Ihre Pupillen schienen groß und schwarz, die graublaue Iris drumherum war nur noch als schmaler Ring zu erkennen. Sie schien in seinen Augen die Antwort auf eine Frage zu suchen, die sie ihm nicht gestellt hatte.

Rob legte eine Entschlossenheit an den Tag, ihr eine eindeutige Antwort auf die unausgesprochene Frage zu geben, die ihr erneut den Atem raubte. Er atmete tief ein, dann küsste er sie lange und so intensiv, dass Charlotta schwindelig war, als er sie wieder losließ. Widerstandslos ließ sie sich von ihm ihr T-Shirt über den Kopf ziehen. Und noch bevor sie wahrnahm, dass er sich an ihrem BH-Verschluss zu schaffen machte, lag sie schon auf dem Bett. Sie sah, wie Rob sich ebenfalls auszog, und im nächsten Augenblick lag er neben ihr.

Als er sich über sie beugte, zuckte Charlotta zusammen. »Uuh, deine Haut ist ja immer noch so heiß! Ich hab vorhin gedacht, das hätte ich mir nur eingebildet, weil meine so kalt war.«

Rob lachte. »Meine Körpertemperatur liegt immer ein paar Grad über der anderer Menschen. Das ist bei uns Wölfen so.«

Bei uns Wölfen … Wie selbstverständlich er von etwas sprach, bei dem sie sich noch immer nicht so ganz sicher war, ob sie nicht halluzinierte. Schließlich hatte Rob ihr was in ihr Glas getan und sie betäubt. Vielleicht befand sie sich ja noch immer in irgendeinem Drogenrausch. Das würde auch das Gefühl erklären, Rob habe sich mit ihr innerhalb von Sekundenbruchteilen in sein Schlafzimmer gebeamt. Ihre Stimme klang unsicher: »Dann weiß ich ja, wo ich mich melden muss, wenn mir mal kalt ist.«

Von Rob hörte sie nur erneut ein leises Lachen. Seine Lippen schlossen sich nämlich gerade um ihre Brustwarze. Charlotta spürte, wie er mit der Zunge darüber strich und sie umkreiste. Die Empfindungen, die augenblicklich durch ihren Körper schossen, schlugen überfallartig über ihr zusammen. Sie bog den Rücken durch und stöhnte laut auf. Wenn das wirklich ein Drogenrausch war, war er einfach unglaublich geil!

War vorhin nach Verlassen der Höhle am Fluss alles irrsinnig schnell gegangen, hatte Rob diesmal offensichtlich beschlossen, sich mehr Zeit zu nehmen. Viel mehr Zeit, obwohl Charlotta sich schon nach wenigen Minuten auf die Lippe biss, um ihn nicht anzuflehen, um Himmels willen nicht so unendlich langsam … quälend …

»Wow, du bist … das ist unglaublich.« Robs Stimme klang rau, und es schwang ein Ton darin mit, den Charlotta nicht so recht einordnen konnte. Sie fühlte sich plötzlich befangen – mehr noch als vor zwei Stunden. Verlegen suchte sie seinen Blick und war dann doch dankbar, als Rob nichts mehr sagte, sondern sie zärtlich an sich drückte, seine Nase in ihrem Haar vergrub und tief einatmete.

Auf dem Weg zum Pisap Inua ging Rob das Geschehen der vergangenen Stunden nicht aus dem Kopf. Er konnte sich nicht entsinnen, dass vorher schon einmal eine Frau seine Gedanken so ausgefüllt hatte wie Charlotta. Dann fiel ihm etwas ein. Er zögerte noch einen Augenblick. »Sag mal«, begann er nachdenklich. »Versteh mich nicht falsch, aber … wir waren heute ziemlich leichtsinnig.«

»Womit?« Sie sah ihn beunruhigt an.

»Na ja … für mich ist das ja nicht so das Problem, nicht zuletzt deshalb, weil ich weiß, dass du zu mir gehörst. Aber das ist ja das, was du noch für dich prüfen willst. Wenn wir jetzt aber … Was ist, wenn du schwanger wirst, Lotta?«

Er sah, wie Charlotta das Gesicht verzog. Dann blieb sie stehen. Sie atmete tief durch. »Ich … Ralph und ich haben vier Jahre lang versucht eine Familie zu gründen. Was soll ich sagen … es hat nicht geklappt. Meine Gynäkologin hat bei mir nichts gefunden, was dagegen sprechen könnte. Laut der Untersuchungsergebnisse des Urologen lag es aber ziemlich sicher auch nicht an Ralph.«

Rob sah sie bestürzt an. Zum einen merkte er, wie unglücklich sie war. Selbst der unsensibelste Mensch hätte gemerkt, dass es ihr schwergefallen sein musste, ihm das zu sagen. Schließlich sah er aber auch seinen eigenen Wunsch nach einer Familie zerplatzen. Andererseits versuchte er sich damit zu beruhigen, dass es sicherlich einen Grund gab, dass die alten Geister sie beide für einander ausgesucht hatten. Er war in dem Wissen aufgewachsen, dass nichts ohne Grund geschah.

»Es tut mir leid«, sagte Charlotta leise mit gesenktem Kopf. »Ich hätt’s dir vermutlich sofort schon beichten sollen.«

»Nun ja, bis vor wenigen Stunden war das ja noch nicht so eng mit uns, und damit ist so etwas eben auch kein naheliegendes Gesprächsthema. Abgesehen davon bist du, Lotta, diejenige, die für mich bestimmt ist. Als Charlotta, als Frau, und nicht als Mutter meiner Kinder.«

Verblüfft sah Charlotta ihn an. Dann wich die ungläubige Verwunderung der Dankbarkeit, und sie lächelte zaghaft. Rob legte seinen Arm um die junge Frau und drückte sie liebevoll an sich.

Rob brachte Charlotta bis zum Haus des Schamanen. Er wusste, dass er sich feige verhielt – aber so wenig ihn das anzügliche Grinsen der beiden Männer vorhin gestört hatte, so unangenehm schien ihm der Gedanke, dass der alte Schamane ihn wissen ließ, dass er wusste, was passiert war. Und – dass der alte Mann das wusste, daran hegte Rob keinen Zweifel.

»Du kannst einfach reingehen, ich bin mir sicher, er erwartet dich. Ich komme nachher vorbei, um dich abzuholen«, erklärte er ihr, als ihn ein Geräusch herumfahren ließ. Der Pisap Inua kannte Rob seit dessen Geburt. Daher erfasste er nicht zuletzt aufgrund von Robs überrascht-verlegenem Gesichtsausdruck sofort die knisternde Situation zwischen den beiden. Seine Gesichtszüge verrieten allerdings nichts, als er Charlotta ansah und ihr einladend eine Hand hinhielt. »Bis später«, sagte Rob hastig. Charlotta lief die Treppe hinauf und ergriff die ihr dargebotene Hand.

»Ich würde mich gerne noch mal mit dir unterhalten, um dich etwas besser kennenzulernen«, begann der Pisap Inua das Gespräch. Vorher hatte er wieder einen Tee aufgebrüht und eine Schale mit rauchenden Kräutern auf den Tisch gestellt. Der Rauch roch ähnlich wie am Tag zuvor, doch der Tee schmeckte anders, wie Charlotta beim ersten Schluck feststellen konnte.

Sie zuckte mit den Schultern. »Was willst du wissen?« Sie gab sich lässiger als sie sich fühle.

»Ich wundere mich, dass so eine junge Frau wie du so verspannt ist. Und damit meine ich nicht nur deine Schultermuskulatur, sondern so ziemlich alles an und in dir. Was ist es, das dir so viel Druck macht?«

»Was wird das?«, fragte sie und kicherte nervös. »Eine Psychotherapie?«

Der alte Schamane lachte. Ein tiefes ruhiges Lachen, das von innen kam und den ganzen Körper schüttelte. »Das würde dir Angst machen?«, erkundigte er sich. Er wartete keine Antwort ab, beobachtete aber in den wenigen Sekunden, bis er weitersprach, genau Charlottas Reaktionen. »Nein, keine Psychotherapie. Aber trotzdem musst du wissen, dass der Körper nicht gesund sein kann, wenn die Seele nicht gesund ist.«

Die junge Frau, die ihm gegenüber saß, wirkte plötzlich nervös und schien sich in die Enge gedrängt zu fühlen. Er spürte, dass er bei ihr vorsichtig sein musste, damit sie sich nicht zurückzog. Im Gegensatz zu den Dorfbewohnern kannte sie ihn nicht. Sie vertraute ihm nicht so bedingungslos. Vor allem wusste sie nicht, was er alles Gutes zu tun vermochte, das über das, was Charlotta über schulmedizinische Behandlungen in ihrer Ausbildung gelernt hatte, weit hinausging. Er hoffte sehr, dass sie sich auf seinen Vorschlag einließ.

»Na ja«, sagte sie betont leichthin, »jeder hat doch so seine Leichen im Keller, oder?«

»Das ist keine Frage. Doch nicht jeden drücken die Leichen so nieder wie dich. Du versuchst mit deinen Schultern Dinge zu stemmen, die zu schwer für dich sind. Und deshalb möchte ich dir anbieten, dir zu helfen.«

»Was willst du denn mit meinen Leichen machen?«, fragte Charlotta leicht beklommen und versuchte ein Lachen.

»Sie endgültig begraben«, sagte der Schamane mit ernstem Gesicht. Dann schaute er sie wieder lächelnd an. »Es sieht so aus, als habe Rob dir etwas von der Gegend hier gezeigt, und es schien mir auch so, als wärt ihr euch nähergekommen.« Die einzige Emotion, die das Gesicht des hochbetagten Mannes zeigte, schien Freude darüber zu sein, sodass Charlotta zu ihrer eigenen Überraschung nicht einmal verlegen wurde. Sie wusste, dass der Schamane wusste, wie nah sie sich gekommen waren.

»Heute ist es schon zu spät dafür«, sagte er, »aber ich würde dich gerne morgen früh wiedersehen. Bis dahin möchte ich dir die Gelegenheit geben, dir zu überlegen, ob du erlaubst, dass ich dich in Trance versetze. Gemeinsam können wir versuchen zu ergründen, was so schwer auf dir lastet. Ich würde dich in der Trance begleiten. Du wärst nicht alleine, und ich kann dann auch sofort spüren, an welcher Stelle es zu viel für dich wird.«

»Kann es das?«, fragte Charlotta. »Kann es zu viel für mich werden?«

»Das kann unter Umständen passieren«, sagte er. Charlotta rechnete es ihm hoch an, dass er ehrlich war und damit riskierte, dass sie Angst bekam und ablehnte. »Aber meine Aufgabe ist es eigentlich, schon vorher zurückzukehren oder mit dir einen anderen Weg einzuschlagen. Ich möchte es auch aus dem Grund morgens schon machen, damit du am selben Tag noch wieder so klar bist, dass du darüber reden kannst. – Wenn du das willst. Sprich heute Abend noch mit Rob darüber, wenn du magst. Rob kennt mich, und er ist mit den Ritualen und der Trance vertraut. Er kann dir helfen, zu einer Entscheidung zu kommen.«

»Entscheidung wofür?«

»Für oder gegen die Zustimmung, mit mir gemeinsam auf eine Reise zu gehen.«

»Reise? Eine Trance-Reise?« Doch Drogen?

Der Schamane nickte und sah sie weiterhin freundlich an. Charlotta hatte noch unzählige Fragen dazu, aber sie befürchtete, dass der alte Mann sie für schrecklich dumm halten könnte. Aus demselben Grund aber war sie sich aber auch nicht sicher, ob sie mit Rob darüber reden mochte. Allerdings imponierte ihr auch hier, dass er sie offenbar nicht überrumpeln wollte. Wenn er sie sogar aufforderte, mit Rob darüber zu sprechen und erst dann zu entscheiden, ob sie sich darauf einlassen wollte …

Ein Geräusch hinter ihr unterbrach ihre Gedanken. Sie drehte sich um und sah, wie die Tür sich langsam öffnete. Ein Mann erschien in der Tür und sah den Pisap Inua fragend an. Der nickte und winkte den Mann heran.

Die Ähnlichkeit mit Rob war so frappierend, dass die beiden unbedingt Brüder sein mussten. Dann fiel ihr eine Bemerkung von Rob ein, sein Bruder sei auserwählt, der nächste Pisap Inua zu sein. Der Schamane erhob sich aus dem Sessel, und Charlotta tat es ihm nach.

»Ich möchte dir Marc vorstellen. Vielleicht weißt du, dass er Robs Bruder ist?«

»Und wenn ich es nicht wüsste, würde ich es sehen«, schmunzelte Charlotta. Sie erkannte das gleiche anziehende Gesicht und das charmante Lächeln. Die gleichen braunen Haare, allerdings hatte Marc ganz dunkle Augen. Als er auf sie zukam, um ihr die Hand zu schütteln, sah sie auch ihren ersten Eindruck bestätigt, dass er ein wenig kleiner war als Rob.

»Ich heiße dich willkommen«, sagte Marc herzlich. »Schön, dass du da bist.« Ein Satz, der ihr zeigte, dass sie sich willkommen fühlen durfte. Sie merkte, wie sehr sie sich darüber freute.

Charlotta registrierte, dass er kurz zum Tisch schaute, die Nasenflügel blähten sich und nach einem Augenblick zog ein Ausdruck des Erkennens über sein Gesicht. Er sah den Schamanen an und die beiden wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

»Du weißt, was für Kräuter der Pisap Inua verbrennt?«, fragte sie direkt. »Und sagt dir das auch sofort etwas darüber, weshalb er das getan hat?«

Die Männer wechselten erneut einen Blick, diesmal schien er auf beiden Seiten ein wenig überrascht zu sein. »Du beobachtest gut«, sagte Marc anerkennend und nickte.

Marc begleitete sie zurück und Charlotta war ihm dankbar dafür. Sie wusste auch diesmal nicht, ob sie allein zu Robs Haus zurückfinden würde – dafür sahen die Häuser für sie alle zu ähnlich aus. Zwar liefen viele Leute herum oder saßen vor ihren Türen, um sie neugierig zu betrachten, aber sie war froh, niemanden nach dem Weg fragen zu müssen.

»Kannst du dir etwas darunter vorstellen, wie es ist, wenn man in Trance ist?«, fragte Marc und beantwortete ihren überraschten Blick mit einem Grinsen. »Du vergisst, dass ich im Grunde ein komplett ausgebildeter Schamane bin. Solange er lebt, unterstütze ich den Pisap Inua. Wenn er irgendwann stirbt, nehme ich seine Stelle ein.«

Charlotta erinnerte sich an Robs diesbezügliche Worte und nickte.

»Die Art der verwendeten Kräuter«, sprach Marc weiter, »sowohl in deinem Tee als auch die in der Schale, lassen für mich den Rückschluss zu, dass er das Gefühl hat, du brauchst etwas Unterstützung. Aus dem Grund gehe ich davon aus, dass er dir angeboten hat, dich in Trance zu versetzen und dich zu begleiten. Als ich vorhin in den Raum kam, habe ich deine Unsicherheit gespürt. Verständlicherweise kommt dir das hier alles befremdlich vor und ich kann verstehen, wenn du Bedenken hast. Vielleicht auch ein bisschen Angst. Und deshalb wollte ich wissen, ob du dir darunter überhaupt etwas vorstellen kannst.«

»Mhm … eigentlich nicht so recht«, gab Charlotta verlegen zu. »Ich stelle mir das so’n bisschen wie ’ne Hypnose oder so was vor.«

»Jaaa!«, sagte Marc gedehnt, »so ganz falsch ist das nicht. Nur, in der Trance begleitet er dich. Du wirst mehrere Menschen dort treffen, sie vielleicht beobachten oder mit ihnen sprechen. Es ist aber nicht so, dass du nur Dinge siehst, die tatsächlich so passiert sind. Es kann auch sein, dass du Dinge siehst, die erst noch passieren werden. Oder, dass du etwas siehst, was künftig deine Entscheidungen beeinflussen kann, damit das eben nicht passiert, wenn du …«

»Na, dann hatte ich das ja wohl doch schon mal, und da hat mich keiner vorher gefragt!«, unterbrach Charlotta ihn bitter und fügte wegen Marcs fragend hochgezogener Augenbraue hinzu: »Ich habe bis jetzt gedacht, das sei ein Traum gewesen. Ein Traum, in dem ich den Pisap Inua gesehen habe und Rob. Rob einmal als Mensch und einmal als Wolf. Ich vermute, sie wollten mir damit schon alles erklären. Aber ich war da wohl noch nicht so weit, das zu glauben.« Sie zögerte kurz. »Es ist ihnen damit zumindest gelungen, dass ich Rob von dem Tag an ein bisschen mehr Vertrauen entgegengebracht habe«, gab sie etwas widerwillig zu, denn die Methode fand sie weiterhin recht fragwürdig. »Danach hatte ich tatsächlich nicht mehr so viel Angst vor den Wölfen, die mir seitdem ständig in der Stadt begegnet sind. Na ja, Respekt schon, aber keine heillose Panik, wie bei den anderen Leuten im Ort.«

An Robs Haus angekommen, klopfte Marc an. Als er nichts hörte, öffnete er die unverschlossene Tür. Er rief nach seinem Bruder. Obschon er keine Antwort bekam, ging er wie selbstverständlich hinein. »Komm!«

»Wir können hier doch nicht so einfach …«

»Ja klar können wir das. Das ist hier so üblich. Falls du dich also gerade mit Rob in einer verfänglichen Situation befinden solltest, wenn jemand klopft, solltet ihr das zumindest so lange unterbrechen, bis ihr gesagt habt, dass ihr gerade nicht gestört werden wollt.«

»Ernsthaft?«

»Ja sicher! Und außerdem – du darfst doch auf jeden Fall hier rein. Du wohnst doch hier.«

»Na ja …«, wehrte Charlotta ab. Sie war Marc inzwischen ins Haus gefolgt. »Wenn man’s genau nimmt, habe ich jetzt ein einziges Mal hier geschlafen. Wohnen tu ich immer noch in der Stadt. Da habe ich eine Wohnung und einen Job und meine Freunde. Apropos – ich werde in den nächsten Tagen dorthin zurück müssen. Ob ich da bleibe oder wieder herkomme, weiß ich noch nicht. Aber zuhause weiß keiner wo ich bin. Und bei der Arbeit …«. Hilflos brach sie ab.

Marc saß inzwischen am Esszimmertisch und bedeutete Charlotta, neben ihm Platz zu nehmen. »Ich denke, dass sich das zeitnah machen lässt«, beruhigte er sie. »Das ging alles wohl ein bisschen schnell, was?«

»Allerdings! Und auch hier – ich fühle mich ziemlich überrumpelt. Auf mich prasselt so viel ein, das es in meinem bisherigen Leben nicht gegeben hat.«

»Zum Beispiel?«

»Na, angefangen damit, dass ein Mann mich, nachdem wir uns vielleicht drei- oder viermal gesehen haben, betäubt, entführt und sich dann wenige Stunden später in einen Wolf verwandelt. Ich lande in einem Dorf im Wald und spreche mit einem … einem Schamanen, womit ich bislang auch noch nichts zu tun hatte. Ehrlich gesagt gab es das in meiner Vorstellung bis gestern auch nicht. Ebendieser Schamane behauptet dann, ich müsste mal in meiner Vergangenheit wühlen. Er glaubt, ich hätte einige Leichen im Keller, die anscheinend verhindert haben, dass er mich und eine angeblich bei mir vorhandene Gabe, rechtzeitig für Rob finden konnte. Und während wir gemütlich bei Kräutertee und angekokelten Kräutern plauschen, erklärt er mir ganz nebenbei, dass er mich in eine Trance versetzen will – die ich auch nicht kenne. Das ist nur das, was mir gerade so spontan einfällt, das vorher nicht in meinen Alltag gehörte.«

Marc lachte. »Okay, ich gebe dir recht. Normalerweise lassen wir uns mehr Zeit, wenn Außenstehende zu uns kommen. Bei dir musste das schneller gehen. Und zwar deshalb, weil dieser komische Kerl aus dem Krankenhaus, zusammen mit noch ein paar anderen Leuten, alle verrückt gemacht hat, sie sollen die Wölfe jagen. Ich hoffe, du wirst mir glauben, dass wir kein einziges Schaf, Pferd oder Rind hier in der Region gerissen haben. Und die Menschen aus der Stadt haben uns auch schon häufiger gesehen. Zwar meist aus der Ferne und selten in der Stadt, aber dass das so eine Hysterie auslöst, haben wir diesem Mann zu verdanken.«

»Horst? Er behauptet aber, dass es nicht wilde Hunde waren, die plötzlich in großer Zahl Tiere gerissen haben, sondern Wolfsmenschen. Und die will er ausrotten.«

»Ja, so heißt er wohl. Und das mit den wildernden Wölfen …« Marc wirkte einen Augenblick beunruhigt. »Glaub mir bitte, dass das von uns, also aus unserem Dorf, niemand war.«

»Mhm … Marc, wenn du so sagst, dass … wenn andere von außen hier in eure Gemeinschaft kommen …«

»Ja?«

»Ich meine … nimmt euer Schamane sich dann auch so viel Zeit? Und will er dann auch mit Trance und-so-weiter …«

»Das ist dir unheimlich mit der Trance, was?«

Charlotta nickte verlegen. »Ich glaube schon. Schließlich überlasse ich da jemand anderem die Kontrolle über mich, mein Leben, mein Innerstes und kann das vermutlich nicht mal bewusst kontrollieren und steuern. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, möchte der Pisap Inua sogar Dinge sehen, die ich selbst nicht von mir weiß. Und das … ja, das macht mir Angst. Ich bin mir ja auch gar nicht sicher, ob ich das überhaupt wissen will. Außerdem habe ich keine Ahnung, was sonst noch passieren kann – vielleicht ist das sogar besser, dass ich ahnungslos bin, aber es könnte ja sein … na, dass ich mich da irgendwo verliere, oder dass er mich da irgendwo verliert.«

»Er möchte nicht sogar Dinge sehen, die du selbst nicht von dir weißt, sondern vor allem diese Dinge! Das ist nicht nur so’n bisschen aus der Realität heraus zu schweben und eine andere Form von Kino zu genießen, etwa so wie ein Drogenrausch. Es ist Arbeit, es ist Medizin, es ist Therapie … von allem etwas. Du wirst es nicht kontrollieren und steuern können, da hast du recht. Aber dafür ist der Pisap Inua bei dir, um die Situation in der Trance zu kontrollieren und in deinem Sinne zu steuern. Aber – verlieren wird er dich nicht.«

Beklommen sah Charlotta auf den Tisch und fuhr mit dem Finger die Maserung des Holzes nach.

»Ich weiß, dass wir viel von dir verlangen«, sagte Marc leise in die Pause hinein. »Vor allem verlangen wir innerhalb weniger Tage ein fast schon unbedingtes Vertrauen, das du insbesondere Rob und dem Pisap Inua entgegenbringen sollst. Und vielleicht auch mir.«

Verlegen verzog Charlotta den Mund. »Und das passiert mir! Ich bin normalerweise immer erst mal total skeptisch und kann nicht glauben, dass die Leute mich mögen und um meiner selbst wegen nett zu mir sind. Ich warte eigentlich immer drauf, dass man mich doch aufs Kreuz legen will.«

Nachdenklich sah Marc Charlotta an. Er bemerkte, wie sie – schon wieder mit hochgezogenen Schultern – am Tisch saß und so viel von sich preisgeben sollte, wie noch nie in ihrem Leben. Menschen gegenüber, die ihr fremd waren und deren Art zu leben ihr fremd war.

»Du hast mit mir jetzt gerade relativ offen über deine Ängste gesprochen«, sagte er vorsichtig.

»Mhm … ja … weißt du … keine Ahnung … vielleicht weil du Rob so ähnlich siehst?« Ihre Wangen röteten sich. »Vielleicht auch noch Nachwirkungen vom Tee? Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe bei dir gerade das Gefühl gehabt, ich kenne dich schon länger. Ich … ist dir das unangenehm?« Sie wirkte geradezu betroffen, und Marc unterdrückte das Bedürfnis, sie mal gehörig durchzuschütteln. Weshalb hatte diese Frau das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie existierte?

»Nein, gar nicht. Ich überlege nur gerade, dass das schon ein Zeichen von Vertrauen sein könnte, oder?« Er wartete Charlottas Antwort gar nicht erst ab. »Und daraus folgend habe ich mich gefragt, ob es dir vielleicht leichter fallen würde, wenn nicht nur der Pisap Inua, sondern auch ich dich auf deiner Reise in der Trance begleiten würde.«

»Geht das? Würdest du das tun?« Dankbar sah Charlotta Marc an. »Dann wärt ihr schon zu zweit und … ich würde mich sicherer fühlen.« Jetzt wirkte sie wieder verlegen.

Marc lachte leise. Das gleiche Lachen, das sie auch von Rob kannte, wenn er sich über sie amüsierte. »Wir werden erst mal ganz langsam anfangen. Aber du musst dich schon ein Stück weit fallen lassen.« Er merkte, dass sich ihre Verlegenheit sofort schon wieder in Angst verwandelte. Du liebe Güte, wie deutlich kann man dieser Frau ihre Emotionen ansehen!, schoss es ihm durch den Kopf.

»Vielleicht merken wir auch, dass wir erst nur ein kleines Stückchen gehen können und müssen in einigen Tagen noch einmal auf eine Reise gehen. Ich verspreche dir, dass wir aufpassen werden, dich nicht zu sehr zu überfordern – deshalb auch die Möglichkeit das Ganze zu unterbrechen. Aber dann versprich du mir bitte auch, dass du nicht beim nächsten Mal kneifst. Wenn du anfängst, bring es bitte zu Ende. Dir selbst zuliebe! Vor allem dir selbst zuliebe – vielleicht tust du’s auch ein bisschen für Rob. Versprichst du’s mir?« Marcs Blick war ernst, und die dunkelbraunen Augen hielten ihre fest. Erst als sie mit einem zaghaften Nicken ihre Zustimmung gegeben hatte, konnte sie wegsehen.

Ihr Blick fiel auf die Tür. Rob stand dort und beobachtete sie. »Ich hatte den Eindruck, es wäre gerade besser, euch nicht zu stören«, sagte er und kam zögernd näher.

Charlotta konnte seinen Gesichtsausdruck nicht recht einschätzen. Marc anscheinend schon. »Ich möchte dir zu deiner Freundin gratulieren. Wir sind gerade vom Pisap Inua zurück. Wir mussten Charlotta sagen, dass sie eigentlich noch nicht so weit ist, alles zu verstehen. Nicht zuletzt deshalb wollen wir sie auf eine fernast olos mitnehmen, eine Reise in Trance«, fügte er erklärend in Charlottas Richtung hinzu. »Ich habe gerade versucht«, wandte er sich nun wieder an seinen Bruder, »ihr ein wenig die Angst davor zu nehmen. Ich weiß nicht, inwieweit mir das gelungen ist, aber vielleicht hast du da ja mehr Erfolg.« Lächelnd sah er Rob an.

Dessen Blick fiel auf die junge Frau, und er grinste. »Das wird sowieso noch ’ne echte Aufgabe für euch, das sag’ ich dir. Charlotta ist eine Frau, die eigentlich nur das glaubt, was wissenschaftlich bewiesen werden kann.«

Marc zog eine Augenbraue hoch. »Und was ist mit dir und deiner Wandlung?«

Charlotta lachte. »Wenn ich hier nicht irgendeinem Trick aufgesessen bin, musste ich das glauben, als ich es gesehen habe.«

»Du hast direkt vor ihr deine Gestalt gewandelt?«

»Anders hatte ich keine Chance. Alle Erklärungen, alle Hinweise, die unser Schamane und ich ihr auch in dem Traum gegeben haben, sind an ihr abgeprallt. Du hörst es ja: ›Wenn ich hier nicht irgendeinem Trick aufgesessen bin …‹«

Charlotta warf Rob einen bösen Blick zu, wandte sich dann aber wieder an Marc. »Bist du … kannst du …«

»Ob ich auch ein Werwolf bin? Ja, das bin ich!« Er wartete einen Augenblick, doch als Charlotta schwieg, erhob er sich. »Bitte sprecht auch noch mal darüber«, bat er seinen Bruder und wechselte einen eindringlichen Blick mit ihm. »Wenn Charlotta mit dir hier leben soll, auf Dauer, meine ich, muss sie alles über sich erfahren. Sie hat eine Gabe. Der Pisap Inua und ich kommen aber beide nicht drauf, was es sein könnte, weil ihre innere Spannung zu groß ist. Wenn sie die nicht rauslässt, wird sie nicht nur sich selbst gegen andere abschirmen, sondern auch andere gegen sich. Sie kann ja nicht mal richtig atmen.«

Er sah ernst aus und warf Rob einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann lächelte er wieder. »Wir sehen uns morgen?«, fragte er Charlotta und die nickte zaghaft.

Sie kann ja nicht mal richtig atmen, hörte sie Marcs Stimme sagen und verzog das Gesicht.

»Wir werden heute Abend feiern«, verkündete Rob.

»Was feiert ihr denn?«

»Muss es einen Anlass geben?«, erkundigte Rob sich und lächelte. »In diesem Fall gibt es aber einen: Dich!«

»Was? Wieso?« Entsetzt starrte sie ihn an.

»Es freuen sich alle, dass du hier bist. Sie wollen dich kennenlernen, denn wir leben hier eng zusammen, und da muss die Chemie passen.«

Charlotta riss die Augen auf. »Und wenn jetzt ganz viele Leute feststellen, dass sie mich überhaupt nicht leiden können? Dann muss ich gehen? Oder ich darf nicht mehr aus dem Haus? Oder was passiert dann?«

»Nein!« Rob lachte. »Es ist nur so, dass hier nicht einfach jemand herkommt und nach einem Jahr dann langsam mal alle Leute einmal gesehen hat. Wir machen viel gemeinsam und sind auch aufeinander angewiesen. Da ist es wichtig, dass du von Anfang an mit dabei bist.«

»Ich mag aber nicht so im Mittelpunkt stehen«, sagte Charlotta kläglich.

»Ach Lotta, das tust du doch jetzt schon. Alle sind ganz neugierig und versuchen einen Blick auf dich zu erhaschen. Es gibt vermutlich kaum eine Minute, in der uns nicht irgendwer beobachtet.«

Entsetzt sah Charlotta ihn an. »Du meinst … auch heute Mittag, da am Fluss, als wir …«

Rob grinste, rief sich dann aber wieder in Erinnerung, dass er sich vorgenommen hatte, sie nicht ständig gezielt in Verlegenheit zu bringen. »Nein, da dürften wir allein gewesen sein. Wir waren ja erst in der Höhle«, bemühte er sich um eine plausible Erklärung, weil sein Gegenüber nicht so recht überzeugt schien, »und da setzt sich niemand hin und wartet, bis wir wieder rauskommen um dann noch hinter uns herzulaufen. Jeder, der dich sehen will, bekommt im Dorf auch die Gelegenheit. Und deshalb veranstalten wir heute Abend das Treffen in großer Runde. Es sind extra noch alle einkaufen gewesen und freuen sich, mal wieder einen Grund für ein Fest zu haben.«

»Duu … Sag maaal«, wechselte sie das Thema, »wann kann ich denn noch mal wieder zurück nach Hause? Du hast mich so abrupt aus meinem Leben herausgerissen, dass es für mich gar keine Möglichkeit gab, darüber nachzudenken. Vielleicht möchte ich ja weiterarbeiten, vielleicht möchte ich mich ja weiterhin mit meinen Freundinnen bei Henry treffen. Vielleicht …«

»Wie wichtig ist dir das?«, wollte Rob wissen. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass Charlotta das fordern würde. Allerdings hatte er gehofft, sie würde noch ein bisschen länger damit warten.

»Ziemlich!«, gestand sie. »Ich möchte selber entscheiden, wann ich meinen Job aufgebe und nicht rausgeworfen werden, weil ich nicht zum Dienst erscheine. Ich möchte mich – das gilt allerdings auch für die Zukunft – unbedingt auch weiter mit meinen Freundinnen treffen. An der Wohnung, das gebe ich zu, hänge ich nicht sonderlich. Aber ich müsste noch einige Sachen da rausholen, wenn es wirklich irgendwann dazu kommt, dass ich vielleicht nicht mehr in der Stadt wohne.«

»Wenn ich das jetzt richtig verstehe, ist für dich aber klar, dass du hierher zu mir ziehst?«, erkundigte Rob sich vorsichtig.

»Ich denke schon. Nur noch nicht unbedingt jetzt und heute. Vielleicht kann ich ja wenigstens auch mal telefonieren, damit die im Krankenhaus …«

»Du kannst hier nicht telefonieren.«

»Was? Wieso denn nicht?«

»Weil wir hier keine Telefone haben.«

»Ihr … Quatsch, jetzt willst du mich verarschen!«

»Dieses Dorf existiert vermutlich auf keiner Karte«, erklärte Rob. »Kein Telefonanbieter würde bei der Entfernung zur nächsten Stadt Leitungen hierher legen. Und für Handys sind wir hier viel zu weit weg vom nächsten Funkmasten.«

»Das mit den Handys leuchtet mir ein, das hat man ja schon, wenn man nur weit genug in den Wald läuft. Aber … wieso findet man euch auf keiner Karte? Wie weit weg ist ›weit weg‹? So weit kann’s doch nicht sein. Ich meine, du bist immer mal wieder in der Stadt aufgetaucht. Und du hast gesagt, alle waren heute einkaufen … und … wie lange warst du denn mit mir unterwegs hierher? Mehrere Tage?« Charlotta sah ihn entsetzt an.

»Nicht lange«, Rob grinste schief. »Ich bin schnell.«

Sie erinnerte sich, dass ihr schon mehrfach aufgefallen war, wie schnell Rob sein konnte. Das erste Mal, als sie sich im O’Learys bei Henry treffen wollten und er mit ihr gemeinsam dort angekommen war, obwohl sie mit dem Auto fahren konnte und er laufen musste. Und auch an diesem Nachmittag, als er sie in sein Schlafzimmer gebracht hatte. Charlotta kniff die Augen zusammen. »Du hast mich doch nicht hierher getragen!?«

»Doooch!« Er konnte nicht anders, er weidete sich an ihrem Entsetzen. »Als Wolf bin ich noch schneller, doch da konnte ich dich nicht mitnehmen«, setzte er hinzu, als würde das für sie mehr erklären.

»Aber ich bin nicht gerade ein Leichtgewicht«, murmelte sie und betrachtete ausgiebig ihre Schuhe.

Rob lachte leise. »Ich bin nicht nur schnell, ich bin auch ziemlich kräftig.«

»Wie lange würde ich denn brauchen, bis ich zu Hause bin?«, erkundigte Charlotta sich hartnäckig.

Seufzend zuckte Rob mit den Achseln. »Wenn du in normalem Spazier- gängertempo gehst und keine einzige Pause machst, vorausgesetzt du weißt, wo du hinmusst und verläufst dich nicht … ich schätze, so ’ne knappe Woche wäre es wohl.«

»Oh!« Erschrocken sah sie ihn an. »Das bedeutet also, dass ich auf dich angewiesen bin, wenn ich wieder zurück will, ja?«

»Mhm.«

Rob schwieg und Charlotta spürte, dass sie langsam ärgerlich wurde. »Heißt ›mhm‹, dass du mich nicht zurückzubringen gedenkst? Oder wie darf ich das verstehen?«

Wieder seufzte Rob tief auf. »Ich möchte dich bitten, erst mal morgen mit unserem Pisap Inua auf die fernast olos zu gehen, die Trance-Reise, über die ihr schon gesprochen habt. Danach sollten wir uns mit dem Pisap Inua und vielleicht auch mit Marc unterhalten und gucken, was das Beste ist. Das Beste für alle. Ich verstehe, dass du nicht so plötzlich und komplett dein bisheriges Leben aufgeben willst. Das Problem sind diese Jäger. Üblicherweise bauen wir Beziehungen schrittweise auf – wie bei jeder anderen Beziehung eben auch, und das klappt normalerweise auch gut. Aber bei dir ist irgendwie nichts normal.«

»… sagt der Mann, der sich in einen Wolf verwandeln kann«, warf Charlotta spöttisch ein.

Wider Willen musste Rob grinsen. Er hatte Angst. Angst, dass Charlotta ging und nicht wiederkommen würde. Die Art und Weise, in der er sie hatte ins Dorf bringen müssen, dürfte nicht gerade förderlich für einen Vertrauensaufbau gewesen sein – umso intensiver musste er jetzt den Beziehungsaufbau gestalten. Er hatte nun so lange gewartet, und er war der festen Überzeugung, dass er in ihr die Richtige gefunden hatte. Dennoch hieß das nicht, dass Charlotta sich nicht vielleicht verschloss oder sich von ihrem bisherigen Leben nicht trennen mochte. Wenn es dem Schamanen und seinem Bruder nicht gelang, ein Stück ihres Panzers aufzubrechen, war möglicherweise alles vergebens gewesen.

»Sag mal«, begann Charlotta zögernd, »wie weit geht eigentlich euer … ich weiß nicht wie ich’s nennen soll … euer mentaler Funkkontakt? Ich meine, du hast mir erzählt, dass der Pisap Inua mit euch Kontakt aufnehmen kann oder ihr mit ihm oder so. Und, dass das möglich ist, egal ob du gerade in deiner Gestalt als Mensch oder als Wolf unterwegs bist.«

Ratlos zuckte Rob mit den Achseln. »Keine Ahnung, wieso?«

»Na ja, wie gesagt … das mit uns kam ja für mich ziemlich überstürzt. Wir hätten uns normalerweise schon vor ein paar Jahren kennenlernen können, hätten verschiedene Dinge miteinander unternommen wie jedes andere Paar auch, bis ich dann irgendwann gemerkt hätte, mein Freund ist etwas anders als die anderen kleinen Kinder. Schließlich hätte ich mich langsam an den Gedanken gewöhnen können, mit einem Menschen zusammenzuleben, der sich jederzeit in einen mächtig großen Wolf verwandeln kann und mir überlegen können, ob das – nach der langen Zeit, in der ich nun mit ihm zusammen bin – ein Grund für mich sein muss, mich von ihm zu trennen, ja?«

»Ja, so wäre es vermutlich abgelaufen«, gab Rob zu. Er wusste nicht, worauf Charlotta hinauswollte, hatte nur den Eindruck, dass es nichts war, was ihm wirklich gut gefallen würde.

»Wie wäre es, wenn wir die Reihenfolge noch ein bisschen mehr durcheinanderbringen?«

Robs Gesichtsausdruck wurde immer misstrauischer, und Charlotta grinste. Sie freute sich, dass sie ihn auch mal verunsichern konnte.

»Was wäre«, erklärte sie weiter, »wenn du mir die Chance gibst, erst mal wieder in die Stadt zurückzukehren? Dann kann ich langsam anfangen, mich von vielem aus meinem bisherigen Leben zu verabschieden. Du könntest zum Beispiel mit mir zusammen in meiner Wohnung leben. Sie ist für zwei vielleicht ein bisschen klein, das aber würde vermutlich meinen Wunsch nach mehr Platz«, sie machte eine ausladende Bewegung mit beiden Armen, die das Haus umschloss, »beschleunigen«, beendete sie ihren Gedankengang.

Rob sah nicht begeistert aus.

»Komm schon, Rob! Ihr könnt mich nicht einfach da so rausreißen. Ich habe Freunde, die mich teilweise schon mein ganzes Leben begleiten. Denn das Problem ist ja, dass es anders ist, als wenn ich in eine andere Stadt ziehe. Ich kann nicht mal telefonischen Kontakt halten. Und das ist nichts, was ich an einem Tag entscheiden kann.«

Sie wartete, bis Rob zögernd aber zustimmend nickte. »Gestern und heute ist enorm viel passiert. Heute Abend werde ich mit vielen Leuten sprechen, die mir alle fremd sind, die sich aber alle untereinander kennen. Und morgen wollen der Schamane und Marc mit mir ’ne Trance-Reise unternehmen, vor der ich ehrlich gesagt unheimliche Angst habe. Aber ich stelle mich dem, weil ihr mir klargemacht habt, dass sonst ein Zusammenleben mit dir und deinen Leuten nicht möglich sein wird. Ich möchte aber mit dir zusammenleben – zumindest möchte ich es versuchen«, schränkte sie ihre Aussage vorsichtig wieder ein.

»Deshalb wollte ich ja auch wissen, ob du auch von der Stadt aus Kontakt zum Pisap Inua aufnehmen kannst. So als Telefonersatz, verstehst du, was ich meine? Ich würde mir wünschen, dass ich die Gelegenheit bekomme, zurückzukehren, aber ich möchte, dass du mitkommst.«

»Ich gehöre hierher«, sagte Rob, doch es klang nicht sehr sicher.

»Und ich gehöre eigentlich in eine ganz andere Welt. Trotzdem versuche ich, mich mit dem Gedanken anzufreunden, hier mit dir zu leben. Aber das geht nicht ad hoc. Bitte, Rob, denk darüber nach.«

Rob wurde zu seiner Erleichterung einer Antwort enthoben, weil es an der Tür klopfte. Paul trat gemeinsam mit einer Frau ein. Sie erhoben sich und traten dem Besuch entgegen. »Hi, ich bin Helen, Pauls Frau. Ich habe ihn gebeten, uns einander vorzustellen. Vielleicht ist es schöner für dich heute Abend, wenn du schon mal ein paar Gesichter kennst.«

Das Fest! Charlotta versuchte tief durchzuatmen, merkte jedoch, dass ihr das schwerfiel. Rob, der das ebenfalls gespürt hatte, trat hinter sie und legte die warmen Hände beruhigend auf ihre Schultern. Da er groß genug war, um über ihren Kopf hinwegzusehen, wirkte es ganz normal, dass er seiner Freundin unübersehbar den Rücken stärkte. Wie erhofft, schien Charlotta durch den sanften Druck seiner Hände wieder etwas ruhiger zu werden. Sie tat noch einen zitternden Atemzug, dann reichte sie Helen die Hand und lächelte sie dankbar an. »Danke für das Willkommen. Ja, es macht mir schon ein bisschen Angst, wenn ich daran denke, dass da heute Abend ich-weiß-nicht-wie-viele fremde Augen auf mich gerichtet sein werden.«

Helen lachte. »Wenn du heute Abend so lächelst, hast du zumindest bei den Männern schon mal alle Sympathiepunkte.«

»Danke, lieb von dir. Du machst mir Mut!«

Rob sah seine Schwägerin dankbar an. Er wusste von Charlottas Angst, und es war ihm ungeheuer wichtig, dass sie die Chance auf einen guten Start im Dorf bekam. Dann grinste er. »Du merkst, Lotta, auch Männer, die gemein zu dir sind, können trotzdem nette Frauen haben.« Dann lachte er, weil Helen ihren Mann fragend ansah.

»Na«, verteidigte Paul sich unbehaglich, »ich musste sie doch testen.«

»Testen?«, kam es synchron und im gleichen gefährlichen Tonfall aus den Kehlen der beiden Frauen.

Rob lachte fröhlich. »Du kannst jetzt nur noch verlieren, Paul!«

»Was hast du mit ihr gemacht?« Helen kannte ihren Mann.

»Na ja …«, er sah Rob hilfesuchend an, doch von dort war keine Unterstützung zu erwarten. Der erinnerte sich nämlich gerade an Pauls schadenfrohes Gelächter, als er deswegen wütend auf ihn geworden war. Damals wollte sein Bruder das darstellen, als gäbe es daran nichts zu beanstanden. »Nun, als Rob … er wollte, dass ich Charlottas Fährte aufnehme. Es wurde wegen der Jäger ja immer enger und er musste schneller und häufiger Kontakt mit ihr aufnehmen. Und dann hatte er sie morgens getroffen, wollte sie aber abends noch mal wiedersehen, um mit ihr zu reden. Wenn er nun aber selber die Fährte aufgenommen hätte, hätte er das Problem gehabt, sich möglicherweise auf einem hell beleuchteten Parkplatz zurückwandeln und sich dann auch noch wieder anziehen zu müssen. Also hat er mich gebeten das zu machen.«

Die Blicke der Frauen wurden auch nicht nur eine winzige Spur freundlicher, und Paul breitete entschuldigend die Arme aus. »Das hat ja auch gut geklappt, aber ich wollte sie natürlich sehen. Also bin ich neben ihrem Auto sitzen geblieben. Und nachdem wir das mit ›Hund oder Wolf‹ klären konnten«, er grinste Charlotta an, »habe ich gedacht, wenn sie bislang nicht schreiend vor mir weggelaufen ist, weil sie Rob zutraut, seinen Hund im Zaum zu halten … da konnte ich’s mir nicht verkneifen, ihr noch ein bisschen näher zu kommen.«

»Näher?« Helen.

»Als Wolf«, mischte Charlotta sich ein, »geht er mir ungefähr bis zur Hüfte. Rückenmaß, meine ich. Als er da auf mich zukam und mir seine Nase knapp unterhalb meiner Brust in den Bauch gestoßen hat, da hatte ich sehr wohl Panik. Wenn es Rob nicht gelingt, seinen Hund«, sie übernahm absichtlich Pauls abfälligen Ausdruck »davon abzuhalten, näher zu mir heranzukommen, wie sollte ich da annehmen, dass er schnell genug ist, wenn das Tier zubeißen will?«

»Und da war sie so sauer«, setzte Rob hinzu, »dass sie mich nie wiedersehen wollte. Fast hätte Paul dafür gesorgt, dass wir jetzt nicht hier stehen.«

»Na jaa«, versuchte der, sich lahm zu verteidigen, nachdem er sich den Blicken der anderen auf so unangenehme Weise ausgesetzt sah. »Hey! So schlimm wird’s schon nicht …«

»Doch«, sagte Charlotta überraschend ernst. »Doch, genau so war’s. Wenn der Pisap Inua und Rob mir nicht sehr kurz darauf in einem Traum erschienen wären und mir dadurch ein wenig meine Ängste genommen hätten, wäre ich heute vermutlich nicht hier. Oder Rob hätte zur Keule greifen und mir heimlich aus dem Hinterhalt eins überbraten müssen, um mich hierher zu schleppen.« Sie drehte sich halb zu Rob um, der immer noch mit den Händen auf ihren Schultern hinter ihr stand, und lächelte ihn an. »Aber«, sagte sie versöhnlich und an Paul gewandt, »das ist jetzt Geschichte. Du kannst ja versuchen, mir in Zukunft zu zeigen, dass nicht nur deine Frau nett ist.«

Helen lachte hell auf, was ihren Mann dazu veranlasste, erleichtert die Schultern sinken zu lassen. Trotzdem hatte er das Gefühl, gerade nicht sonderlich gut weggekommen zu sein. »Du gefällst mir«, sagte sie begeistert.

Die Brüder wechselten einen Blick und Paul nickte erst anerkennend und grinste dann. »Wir sehen uns dann, Kleiner.«

»Kleiner?« Charlotta drehte sich zu Rob um, nachdem die beiden gegangen waren. »Du bist doch viel größer als er.«

»Er war als Kind aber naturgemäß erst mal viele Jahre lang größer als ich. Immer wenn er sich als großer Bruder aufspielen will, sagt er das noch mal.« Rob grinste. Dann sah er auf die Uhr. »Wir können uns schon langsam umziehen und rausgehen. Das Fest beginnt erst später, aber wir können den anderen ja bei den Vorbereitungen zuschauen. Magst du?«

Wenngleich sich ihr beim Gedanken an die vielen Fremden schon wieder der Magen verkrampfte, nickte Charlotta. »Gerne, dann sehe ich noch mal ein bisschen mehr von eurem Dorf. Allerdings würde ich ganz gerne vorher noch duschen. Diesmal kann es ein bisschen länger dauern, weil ich mir auch die Haare waschen will.«

»Okay, dann komme ich mit«, sagte Rob in dem selbstverständlichen Ton, den sie erwartet hätte, hätte sie verkündet, zum Einkaufen zu fahren. Er lachte, als er ihr verblüfftes Gesicht sah.

»Fast hätte ich dir das geglaubt«, grinste Charlotta. Sie drehte sich um und holte sich aus Robs Gästezimmer frische Wäsche.

Bislang hatte niemand ein Wort darüber verloren, aber da sie mangels Stadtwasserversorgung sicherlich gerade mit Grundwasser duschte, das in diesem trockenen Sommer knapp werden könnte, bemühte Charlotta sich um etwas Eile. Außerdem hatte sie an diesem Tag schon zweimal geduscht. Sie merkte, wie ihre Haut prickelte, als sie daran dachte, was der Grund dafür gewesen war. Sie glaubte, noch einmal zu spüren, wie Robs Hände über ihren Körper strichen, seine Lippen ihre berührten …

Ein Luftzug ließ sie erschaudern. Sie wischte sich das Shampoo aus den Augen, um zu sehen, woher der plötzlich kam.

Rob bedauerte, dass Charlotta seine Anwesenheit bemerkt hatte. Gerne hätte er sie noch ein wenig beobachtet. Nun erkannte er, dass sie sich verlegen hastig das Shampoo aus den Haaren wusch, und sich heimlich sowohl nach ihrem Handtuch als auch einer Fluchtmöglichkeit umzusehen schien. Wortlos zog er sich das T-Shirt aus. Während er über Charlottas er­schrockenen Gesichtsausdruck grinste, knöpfte er seine Jeans auf. Er zog sie gleichzeitig mit der Unterhose aus, und als er sich wieder aufrichtete, hörte er, wie Charlotta den angehaltenen Atem ausstieß.

Als sei es das Normalste der Welt – was es vielleicht tatsächlich war –, trat er auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Hüften und seine Lippen auf ihre. Er zog sie an sich, und sie spürte seine Erektion an ihrem Bauch. Rob drehte sich mit ihr, sodass das Wasser nun auf ihn herabprasselte. »Du liebe Güte, was duschst du heiß!« Das war das Erste, was er sagte, seit er ins Bad gekommen war.

Charlotta lachte. Sie sah Rob an, der schließlich das Wasser abstellte. Gleich zog er sie wieder an sich und sah ihr herausfordernd in die Augen. Überraschung und Begeisterung vermischten sich, als Charlotta seine Aufforderung annahm. Sanft rieb sie sich an ihm und hörte, wie er aufstöhnte. Um seine Beherrschung ringend, schob Rob sie ein Stückchen von sich fort. Seine Lippen fuhren an ihrem Hals entlang. »Dein Puls rast schon wieder«, murmelte er.

Charlotta kicherte. »Diesmal ist es keine Angst«, flüsterte sie und krallte sich in seine Oberarme, als sie seine Finger in ihrem Schritt spürte.

»Ob man deine roten Wangen damit begründen kann, dass du gerade so heiß geduscht hast?«, zog Rob sie auf, als sie später wieder im Wohnzimmer aufeinandertrafen. Er legte seine Zeitschrift zur Seite und erhob sich. Er hielt Charlotta in Armeslänge von sich und sah sie aufmerksam an. »Ich glaube, ich bin ziemlich froh, dass die alten Geister eine so hübsche Frau wie dich für mich ausgewählt haben«, sagte er und strahlte sie mit seinem atemberaubenden Lächeln an, das Charlotta schon auf dem Supermarktparkplatz aufgefallen war.

Unwillkürlich lächelte sie zurück, schüttelte dann aber den Kopf. »Quatsch, ich bin nicht hübsch«, wehrte sie ab.

»Natürlich!«, beharrte Rob, hatte aber doch das Gefühl, es sei keine Koketterie, sondern ihr Ernst. »Und Helen hat auch recht«, fügte er etwas vorsichtiger hinzu. »Wenn du gleich so wunderschön lachst, hast du alle auf deiner Seite. Es wäre mir übrigens sehr recht, wenn du nur die Frauen anlächeln würdest.« Er grinste übermütig, zog ihr Gesicht zu sich heran und gab ihr einen zärtlichen Kuss.

»Weißt du, was gleich das Problem sein wird?«, fragte sie ihn mit einem schiefen Grinsen und fügte, als er den Kopf schüttelte, hinzu: »Erfahrungsgemäß wird mich niemand fragen, weshalb ich so rote Wangen habe. Alle werden sich ihre Gedanken machen, und ich befürchte, niemand wird annehmen, dass ich heiß geduscht habe und deshalb noch so erhitzt bin.«

Rob lachte laut auf. Er drückte sie an sich, ließ sie jedoch gleich wieder los. »Komm, gehen wir.«

Jetzt erst sah Charlotta, dass Rob statt der T-Shirts, in denen sie ihn bislang gesehen hatte, ein weißes Hemd mit dezenten Schriftzügen darauf, trug. Es stand ihm ausgezeichnet, und das sagte sie ihm. Überrascht registrierte sie, dass Rob verlegen wurde und sich eine sanfte Röte über sein sonnengebräuntes Gesicht zu ziehen schien.

Rob musste Charlotta mehrfach versichern, dass von ihr nicht erwartet wurde, sich an den Festvorbereitungen zu beteiligen. Also schlenderten sie über den großen Platz, an den Häusern entlang und dazwischen hindurch. Rob hielt sie umfasst, und es dauerte nicht lange, da legte Charlotta einen Arm um seine Hüfte. So fühlte sie sich gewappnet, den Blicken der anderen zu begegnen. Überall wurden sie angesprochen und konnten kaum zwei Meter gehen, bis sie wieder stehenbleiben mussten.

Plötzlich spürte Charlotta, dass Robs Körperhaltung sich veränderte und er angespannt wirkte. Ein Blick in sein Gesicht bestätigte das. Sie sah wieder nach vorne und folgte seinem Blick: Eine junge Frau kam auf sie zu. Sie wäre vermutlich hübsch gewesen, doch im Augenblick zeigte ihr Gesicht vor allem Wut.

»Hi Rob, hallo Charlotta!«, grüßte sie. Dass die Menschen alle wussten, wie sie hieß und nicht mehr fragten, kannte sie. Dass die junge Frau allerdings nur Rob ansah und sie keines Blickes würdigte, das irritierte Charlotta sehr. Bislang waren die meisten eher daran interessiert gewesen, sie anzusehen, denn wie Rob aussah, wussten alle. Und alle waren ihr mehr oder weniger herzlich, aber doch ausnahmslos freundlich und höflich begegnet. Sie löste sich sanft aus Robs Arm und trat einen Schritt zur Seite, sodass sie beide im Blick behielt.

»Hallo Anna!« Mehr sagte Rob nicht und sah die junge Frau mit unbewegtem Gesicht abwartend an.

Aus den Augenwinkeln erkannte Charlotta, dass sich einige Leute näherten. »Na, dann hat’s ja doch noch geklappt, was?«, stieß die junge Frau gehässig hervor. Anna wirkte sehr verletzt, was deren Verhalten in Charlottas Augen allerdings höchstens erklären, nicht aber entschuldigen konnte.

»Anna, wir haben uns schon vor langer Zeit getrennt. Und was Charlotta angeht, weißt du, dass ich keine Wahl hatte«, sagte Rob bemüht ruhig. »Ich habe dir auch nie etwas anderes gesagt.« Er sprach leise; allerdings machte er sich keine Illusionen, dass nicht alle, die mit angehaltenem Atem um sie herum standen, doch jedes Wort verstanden.

Wütend darüber, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und wohl wissend, dass sie sich selbst in diese demütigende Situation gebracht hatte, drehte Anna sich auf dem Absatz um – nicht, ohne Charlotta einen hasserfüllten Blick zugeworfen zu haben. Sofort öffnete sich in der Zuschauermenge eine Gasse, durch die sie zwischen den Häusern verschwinden konnte. Plötzlich fiel allen ein, dass sie ja noch etwas erledigen mussten, und die Menge zerstreute sich eilig.

Rob seufzte tief auf. »Das war das, was Nele gestern gemeint hat, vermute ich.«

»Mit wie vielen solcher oder ähnlicher Begegnungen muss ich denn jetzt noch rechnen?«, erkundigte Charlotta sich bemüht sachlich. Der Hass, den die junge Frau ihr entgegenbrachte, erschreckte sie.

»Ich hoffe, mit keiner mehr. Es gibt hier in diesem Dorf nur noch eine Frau, mit der ich – allerdings eher schon als Jugendlicher – mal was hatte. Aber da ist die Trennung so verlaufen, wie Trennungen verlaufen sollten. Abgesehen davon, dass sie es war, die mich verlassen hat und … wir sind jetzt locker befreundet. Auch das mit Anna ist schon wieder … drei oder vier Jahre her. – Lass uns vielleicht später noch mal darüber reden, wenn du noch möchtest, ja?« Seine Stimme klang etwas resigniert. Doch dann spürte sie, dass er sie wieder dicht zu sich heranzog. Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar und atmete tief ein. »Jetzt geht’s mir wieder besser«, sagte er leise, und dann schob er sie weiter zum nächsten Haus.

Dort saß ein kleines Mädchen auf einem Stein. »Riecht sie gut, Rob?«, erkundigte sie sich ernsthaft. Sie hatte ein winziges Gesicht, das von den großen Augen geradezu beherrscht wurde.

Rob lachte. »Wie kommst du darauf, Mona?«

»Du hast an ihren Haaren gerochen, und dann hast du gelächelt.«

Fasziniert, dass das Kind so eine gute Beobachtungsgabe hatte und Rob dann so unbefangen darauf ansprach, lächelte Charlotta sie an. Währenddessen lachte Rob laut auf. Er beugte sich vor und wuschelte Mona mit einer Hand durch die Haare. »Natürlich riecht sie gut! Du glaubst doch nicht, dass ein Wolf mit seiner feinen Nase mit ’ner Frau zu tun haben kann, die nicht gut riecht.«

Das Kind kicherte und wehrte erfolglos Robs Hände ab. Schließlich trat Rob einen Schritt zurück und grinste. »Ich glaube, du musst dich jetzt noch mal kämmen, kleine Eule.« Er lachte über ihren empörten Gesichtsausdruck und zog Charlotta weiter.

Er kann gut mit kleinen Kindern umgehen. Charlotta seufzte tief auf, doch das ging in dem allgemeinen Gewusel unter.

Obwohl die Tage lang waren und es erst spät dunkel wurde, wurden auf dem großen Dorfplatz nach und nach mehrere Feuer angezündet. Charlotta hatte die vielen Feuerstellen – teils als dunkle Flecke auf dem festgetretenen Boden, teils als Feuerreste mit verkohltem Holz und Asche – schon gesehen. Da sie unregelmäßig auf dem Platz verteilt waren, kam sie beim Zählen, wenn sie dazwischen stand, immer wieder durcheinander.

»Es sind vierzehn Feuerstellen«, erklärte Rob, der sie beobachtet hatte und ihr ihren Unmut darüber, dass sie sich zum wiederholten Mal verzählte, ansah. »Die in der Mitte ist die des Pisap Inua. Sie ist die Größte. Als das Dorf seinerzeit gegründet wurde, gab es dreizehn Familien und Einzelpersonen, die sich ihre Häuser bauten und zu jedem Haus gehörte dann auch ein Feuer. Dazu kam der Pisap Inua, der damals auch eine eigene Familie besaß. Da innerhalb des Dorfes kaum geheiratet wird, ist es auch eher selten, dass sich jemand zu zwei Feuern zugehörig fühlt. Wenn alle da sind, zu großen Festen beispielsweise, kann es an einigen Feuern auch schon mal sehr, sehr eng werden. Andere Feuer sind gelegentlich auch schon aufgegeben worden und wurden deshalb dann verteilt. Manchmal tun sich auch befreundete Familien zusammen … Deshalb haben diese vierzehn Feuerstellen bislang auch gereicht.«

»Hat deine Familie auch ein eigenes Feuer?«

»Ja, dort hinten. Paul ist schon dabei, es anzuzünden. Am Anfang sitzen alle an ihren Familienfeuern, und dann geht’s auch schon bald durcheinander. Irgendwann gehen die ersten nach Hause, und am Ende hockt der harte Kern am großen Feuer in der Mitte.«

»Aber der Pisap Inua hält doch nicht auch so lange durch, oder?«

Rob lachte. »Weil er schon so alt ist, meinst du? Sagen wir’s mal so – er ist normalerweise nicht der, der das Feuer löscht. Aber er hält schon ziemlich lange durch.«

»Ist das so ein Spruch: ›Der das Feuer löscht‹, so wie wir sagen ›Der die Tür abschließt‹?«

»Ja, und mit dem gleichen Hintergrund. Ihr schließt die Tür ab, damit nichts passieren kann, und wir löschen tatsächlich die Feuer, damit nicht irgendwann eins der Holzhäuser brennt, weil sich durch Funkenflug etwas entzündet. Denn dann brennt sofort das ganze Dorf. Es ist klar, dass jeder, egal wie betrunken er ist und wo er zuletzt gesessen hat, noch mal zu seinem Feuer zurückkehrt und nachschaut, ob es richtig aus ist. Wenn dann doch noch jemand aus seiner Familie an einem anderen Feuer gesessen hat, ist es eben aus und er muss sich an einem anderen Feuer aufwärmen.«

»Mhm … das kommt mir alles so … so zeitfremd vor … so altertümlich … also …« Charlotta wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte, ohne jemandem auf die Füße zu treten.

Wieder lachte Rob. »Ist es ja auch. Ich weiß nicht, vor wie vielen Generationen dieses Dorf gegründet wurde. Aber im Grunde hat sich daran nicht viel verändert. Zumindest von dieser Art Sitten und Gebräuche. Wir haben durchaus den Anschluss an die Zivilisation hier, mit Strom, mit Waschmaschine und anderem mehr. Auch wenn wir weder Fernseher noch Telefone haben. Aber vieles haben wir uns auch sehr bewusst bewahrt. Es gibt noch ein paar weitere Traditionen, die dir etwas zeitfremd und altertümlich vorkommen dürften«, nahm er ihre Formulierungen auf. »Die wird dir aber dann zu gegebener Zeit irgendwer erklären.«

Neugierig sah Charlotta sich auf dem großen Platz um. Dieser füllte sich gerade mehr und mehr mit Bewohnern des Dorfes, deren Stimmen wie eine in ihrer Lautstärke auf- und abschwellende Geräuschwolke über dem Platz zu wabern schienen. »Was sind das für Steine?« In scheinbarer Unordnung, aber immer in der Nähe einer der Feuerstellen, standen größere, nach oben abgeflachte Felsbrocken, die ihr schon einmal aufgefallen waren.

»Sitzsteine. Die sind für die Alten gedacht oder wenn jemand mit einem gebrochenem Bein nicht stehen kann. Aber vor allem die Alten sitzen da, damit sie mit dabei sein können.«

»Und auf die Idee, einen Stuhl zu holen, ist noch keiner gekommen?«

»Zu der Zeit, als die Steine hier aufgestellt wurden, gab es die Art Hausmöblierung, wie wir sie kennen, noch nicht.«

»Oh!« Das klang in ihren Ohren alles so fremd.

An der Feuerstelle von Robs Familie war inzwischen etwas mehr los. Paul hatte ganze Arbeit geleistet, es loderte bereits ein kleines Feuer, und er winkte ihnen zu. Seine Söhne, Jakob und Tom, schafften soeben noch Holz heran. Etwas, das man im Moment an allen Feuern beobachten konnte. Der Ferien wegen sah man viele Kinder und Jugendliche im Dorf. Rob schob Charlotta, zu allen Seiten grüßend und von allen Seiten beobachtet, zwischen den Feuerstellen hindurch zu der seiner Familie.

Mona rannte an ihnen vorbei – das mit dem Kämmen hatte sie offensichtlich ausfallen lassen – und verfolgte fröhlich kreischend einen Jungen. An dem Feuer standen im Moment nur Marc und Paul, Letzterer mit seinen beiden Söhnen. Allerdings kam Helen, die für die Familie etwas vorbereitet hatte, mit einem großen Korb heran. Ihr folge eine junge Frau, ebenfalls mit einem Korb beladen, die Charlotta freundlich anlächelte. »Holt einer von euch eben die restlichen Sachen aus dem Haus?«, bat Helen, und sofort liefen ihre beiden Söhne los.

Charlotta war schwer beeindruckt über die Hilfsbereitschaft der Jungs, als sie Rob lachen hörte. »Fremden vorgestellt zu werden, ist immer erst mal komisch in dem Alter. Wenn wir nachher essen, ist das schon wieder anders, da ist man beschäftigt.« Der Gedanke, dass die beiden ihretwegen fortgelaufen waren, behagte Charlotta gar nicht.

Inzwischen stand die junge Frau vor ihr. »Hi, ich bin Nelly, das Nesthäkchen in Robs Familie. Ich freue mich, dass du da bist. Wir haben so lange auf dich gewartet. Ich bin schon ganz neugierig, dich näher kennenzulernen.«

Marc blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Und bevor du weißt, was dir geschieht, kennt Nelly dein ganzes Leben – du aber auch ihres.«

»Das stimmt doch überhaupt nicht!«, empörte seine Schwester sich. »Helen, sag du ihr, dass Marc lügt und mich nur ärgern will«, wandte sie sich hilfesuchend an ihre Schwägerin. »Charlotta kriegt ja einen ganz falschen Eindruck von mir!«

Lachend wich Marc ihrer Faust aus, mit der sie auf seinen Oberarm gezielt hatte. »Soll ich ihn für dich festhalten, damit du ihn verkloppen kannst?«, bot Paul grinsend an.

Helen berührte Charlotta, die dem Geplänkel etwas ratlos gefolgt war, vorsichtig an der Schulter. »Daran wirst du dich in der Familie gewöhnen müssen. Ich habe lange gebraucht, bis ich wusste, dass ich nicht alles für bare Münze und zu ernst nehmen darf. Sie ärgern sich eben gerne untereinander. Da bleibt niemand verschont!«

Marc grinste, ohne einen Funken schlechten Gewissens. »Ja, gewöhn dich lieber bald daran.«

Rob zog sie zunächst ein Stückchen weiter, fort von seiner lauten Familie. Er überlegte es sich dann aber nach etwa zwanzig Metern doch anders, als Jakob und Tom an ihnen vorbeiliefen, und wandte sich wieder zum Feuer seiner Familie um.

Charlotta war stehen geblieben und sah den Jungs erstaunt hinterher. »Wie groß ist eure Familie eigentlich?« Jakob trug einen riesigen Korb und Tom noch mal eine große Schüssel mit Kartoffeln.

»Wir sind sieben Kinder und …«

»Nein, das meine ich nicht. Wie viele leben hier, also wie viele werden heute an diesem Feuer essen?«

»Mhm … Paul, Helen, Marc, Nelly, vier Kinder … Eva kennst du noch nicht, sie ist Pauls und Helens Tochter und kommt gleich … und wir beide – also zehn Leute«, zählte er an den Fingern ab.

»Und wer isst sonst noch hier mit?«

»Ach das meinst du!« Obwohl sie nun einige Meter vom Feuer entfernt standen, schien es, dass Paul und Marc ihr Gespräch bereits gehört hatten. Die Brüder brachen nämlich kollektiv in herzhaftes Gelächter aus. Jakob grinste.

Schmunzelnd schob Rob sie wieder zurück zu den anderen. »Charlotta wollte wissen, wie viele Familien hier heute essen«, klärte Paul die beiden Frauen und Tom auf, die fragten, worum es ging.

»Wieso …« Charlotta wusste nicht, ob sie sich ausgelacht fühlen sollte und war verunsichert.

»Wir Wölfe können sehr viel essen. Hier am Feuer sind vier Wölfe. Was glaubst du, was hier so verputzt wird im Laufe eines Abends?«

»Ihr wollt mich auf den Arm nehmen! Als Ralph seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert hat, waren ungefähr einhundert Leute eingeladen. Ich glaube, dass das, was bei uns auf dem Buffet stand, kaum weniger war!«

Die anderen lachten und fuhren in ihren Vorbereitungen fort.

Nachdenklich musterte Charlotta Robs Familie und zog die Stirn kraus. Sie wandte ihnen den Rücken zu, sah Rob an und wisperte: »Sag mal, wieso haben die denn alle gerade über mich gelacht? Wir waren noch viel zu weit weg, als dass die hätten hören können, was ich gesagt habe.«

»Weil wir Wölfe nicht nur besonders gute Nasen, sondern auch besonders gute Ohren haben!« Marc schmunzelte, als Charlotta ruckartig herumfuhr. »Der Beweis wurde soeben erbracht, denn normalerweise hätte ich deine leise Stimme übers Feuer hinweg nicht hören dürfen. Und dass ich es dir von den Lippen ablesen kann, hast du verhindert, weil du dich von uns weggedreht hast.«

Skeptisch sah Charlotta einen nach dem anderen an. An dem breiten Grinsen in den Gesichtern der drei Brüder und Jakobs erkannte sie, dass Marc die Wahrheit sprach.

Paul ließ es sich nicht nehmen, derweil die übrigen drei Nicht-Wölfe aufzuklären, worüber sie gerade sprachen. Ein verständnisvolles Lächeln erschien auf den Lippen der beiden Frauen, während Tom nur grinste. Auch wenn er nicht die guten Ohren der Wölfe besaß, hatte er der fremden Frau gegenüber einen großen Wissensvorsprung und freute sich heimlich über ihre Naivität.

»Es wird lange dauern, bis du damit klarkommst: Hier ist nichts privat. Irgendwo ist immer ein Wolf, der dich hört oder hört, was du tust.« Helen sah die junge Frau mit einer großen Portion Mitleid an. Sie wusste, wovon sie sprach.

Nachdenklich musterte Charlotta die anderen über das Feuer hinweg, dann zog sie Rob weiter. Ihr war das gerade alles zu eng. Sie brauchte für sich noch einen Moment, bevor sie sich erneut Robs Familie zu stellen bereit war.

Während sie über den Dorfplatz schlenderten, sah Charlotta sich skeptisch um. Das Ganze wurde ihr immer unheimlicher. Sie schwieg jedoch, weil sie nicht wusste, wer sie alles hören konnte.

Entgegen Charlottas Befürchtungen wurden keine Reden auf ihre gemeinsame Zukunft mit Rob geschwungen. Stattdessen gab es einfach eine Feier, bei der gegessen, getrunken, viel geredet, noch mehr getrunken und viel gelacht wurde. Pausenlos kam irgendjemand vorbei, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Oder sie schlenderte mit Rob von einem Feuer zum anderen, wo sie jedes Mal herzlich begrüßt und zum Trinken aufgefordert wurde. Charlotta schwirrte der Kopf, sowohl vom Alkohol als auch von den vielen Namen, die sie gehört hatte. Es war ihr unmöglich, sich alle zu merken, und schon nach kurzer Zeit hatte sie die ersten Dorfbewohner miteinander verwechselt. Ihr Vorschlag, dass sich alle ein Namensschild zulegen, fand keine Mehrheit. Nicht, dass sie das ernsthaft erwartet hätte.

WOLF CALL

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