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28. Mai

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»Und du hast ihn wirklich noch nicht wieder getroffen?« Sara und Angie mochten es nicht glauben.

Etwas entnervt rollte Charlotta mit den Augen. »Neiheiiiiinnn!« Und trotzdem ließen sie nicht locker. So froh und dankbar Charlotta für die Freundschaft mit den beiden war, so anstrengend empfand sie es auch manchmal mit ihnen.

Den Traum verschwieg sie den Freundinnen selbstverständlich. Was sie sich dann hätte anhören müssen, wollte sie gar nicht erst wissen. Dagegen waren die jetzigen Bemerkungen ein Kindergeburtstag!

Charlotta mochte es sich nicht so recht eingestehen, aber der unglaublich realistische Traum hing ihr noch immer nach. Die Tatsache, dass dieser furchtbare Rob in ihrem Traum auftauchte, irritierte sie nicht unerheblich. Und dass sie ihm vertraut haben sollte … Was aber hatten der einerseits faszinierende, aber andererseits auch etwas unheimlich wirkende alte Mann und der Wolf nachts in ihrem Unterbewusstsein zu suchen? Das wiederum konnte doch nichts mit diesem merkwürdigen Rob zu tun haben – das musste ein anderer Wolf gewesen sein!

»Aber du denkst an ihn!« Angie grinste hinterhältig. »Wenn du so lange schweigst und so komisch vor dich hin lächelst … Oder hast du ihn doch noch mal getroffen?« Angie riss die Augen auf. »Sei ehrlich, Schätzelein! Du verheimlichst uns was!«

»Boah, was seid ihr blöd! Nein, ich habe ihn nicht wiedergesehen! Ist das okay für euch?«

Solche und ähnliche Wortwechsel führte sie mit ihren Freundinnen fast täglich. Entweder in langen Telefonaten oder in persönlichen Gesprächen. Seit ein paar Wochen trafen sie sich häufiger als sonst, damit sie Sara ablenken konnten, die die Trennung von ihrem letzten Freund noch nicht so recht verkraftet hatte. Sie selbst und Angie hatten ihn von Anfang an nicht leiden können. – Aber noch mal anders, als sie Rob nicht leiden konnte, stellte Charlotta nachdenklich fest. Dieses egoistische Arschloch, dem Sara gerade nachweinte, hatte sich nicht nur von ihr verwöhnen und versorgen lassen, sondern außerdem Schulden gemacht, für die ihre vertrauensselige Freundin nun geradestehen musste. Obwohl Charlottas Gerechtigkeitssinn empfindlich gestört war, gab es offenbar kein Argument, das Sara davon überzeugen konnte, den Mann anzuzeigen.

Diese regelmäßigen Treffen hatten dann allerdings den Preis, dass die Freundinnen sich begeistert auf das Thema mit diesem geheimnisvollen Mann stürzten.

Charlotta hörte nichts mehr von Rob. Okay, sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Aber – allein wegen dieses seltsamen Traumes könnte es vielleicht doch ganz interessant sein, sich noch mal mit ihm zu unterhalten. Männer hielten sich doch sonst auch nicht an das, was die Frauen ihnen sagten. Wieso also …?

Wovon sie aber hörte, das waren die Wölfe. In den Zeitungen, in den lokalen Radiosendern – überall sprach und las man davon, dass in der Nähe Breidewalds immer wieder Wölfe gesehen wurden. Auch aus Holzbach und Waldbruch, den ihnen am nächsten liegenden Orten, gab es Meldungen. Mit jedem Bericht wurden die Wölfe größer und blutrünstiger. Gerissene Tiere, erschrockene und verletzte Kinder – für alles schienen die Wölfe verantwortlich, die jetzt quasi über Nacht überall auftauchten, nachdem über die Zeit vieler Generationen niemand von ihnen erzählt hatte. Plötzlich aber konnte der eine oder andere doch mit alten Sagen und Geschichten aufwarten. In diesen berichteten sie von zahlreichen riesigen Wölfen in der Gegend um Breidewald, die angeblich früher, also vor vielen, vielen Jahren, schon einmal in der Gegend gelebt hätten. Und auch habe man in diesen Geschichten Wölfe in den Städten gesehen, wo ihnen sogar einige der Bewohner zum Opfer gefallen sein sollten.

Eine Gefahr für die Bürger! Die lokale Jägerschaft hatte Blut geleckt. Nun glaubte man endlich zu wissen, dass es keine wildernden Hunde waren, die in der letzten Zeit häufiger das Wild rissen. Wölfe! Riesige Wölfe! So riesig, dass man es kaum glauben mochte. Aber es gab ausreichend Augenzeugen, die ihre exorbitante Größe bestätigten.

Ja, das konnte Charlotta auch. Allerdings schwieg sie. Es ekelte sie an, in den Kneipen und auf den Straßen den Gesprächen zu lauschen. Wenn sie in aller Ruhe darüber nachdachte, wunderte sie sich jedoch über sich selbst: Ihr Interesse für Hunde hielt sich bislang in Grenzen. Weshalb aber zogen die Wölfe sie dann jetzt so magisch an? Und weswegen schien sie die Einzige zu sein, die Berichte über diese Tiere für übertrieben hielt?

An den Theken in den Kneipen und an den Stammtischen protzte der eine oder andere mit mutigen Begegnungen. Wer noch keinen Jagdschein hatte, ließ sich eine Sondergenehmigung erteilen und in kurzen Einweisungskursen für die Wolfsjagd fit machen. Es schien zurzeit vergleichbar mit der Waffenvernarrtheit zu sein, wie man sie aus den Vereinigten Staaten kannte.

Und selbst in der Notaufnahme ihres Krankenhauses wurden Patienten mit außergewöhnlichen Verletzungen nach Kontakten beziehungsweise Begegnungen mit Wölfen befragt. Allerdings waren tatsächlich bereits Jäger verschwunden. Und erst kürzlich berichtete ein Mann unter Schock, von einem Tier angegriffen worden zu sein. Allerdings hatte er von »so was wie Bären« gesprochen.

Wenngleich Charlottas Furcht vor den Wölfen durch den eindrucksvollen Traum etwas abgenommen hatte, war der Respekt vor ihnen doch ungebrochen groß. Allerdings hatte sie im Moment weniger Angst wegen, sondern vielmehr um die Wölfe. Der große braune Wolf war ihr in den vergangenen Tagen noch ein paarmal begegnet. Einmal stand er so dicht vor ihr, dass sie ihn hecheln hören konnte. »Geh lieber weg«, flüsterte sie ihm zu. »Sonst erschießt dich noch jemand.« Nachdem sie das gesagt hatte, kam sie sich furchtbar albern vor, weil der Wolf sie natürlich nicht verstehen konnte. Aber das Gefühl, ihn warnen zu müssen, trieb sie dazu.

Wo mochte Rob wohnen? Mit Paul und mit wem auch immer. Er würde wohl nicht allein leben. Aber wo? Sie ertappte sich dabei, dass sie nach ihm Ausschau hielt. Sie hätte ihn gern gewarnt. Vielleicht las er keine Zeitung. Hörte er die Lokalnachrichten? Wenn er aufgrund der Abfuhr, die sie ihm erteilt hatte, seitdem nicht mehr in der Stadt gewesen war, konnte er auch von der aufgeheizten Stimmung gegen die riesigen und gefährlichen Monsterwölfe nichts mitbekommen haben.

Obwohl sie genau genommen gar keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihm hatte, wollte sie nicht schuld daran sein, wenn die großen Tiere den Jägern zum Opfer fielen. Dass sich die Wölfe tatsächlich noch in der Gegend befanden, wusste sie. Sie glaubte sogar, inzwischen drei verschiedene Exemplare ausgemacht zu haben – wenngleich sie sie selten im Hellen gesehen hatte.

WOLF CALL

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