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12. Mai

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»Darf ich Ihnen behilflich sein?«

Erschrocken zuckte Charlotta zusammen. Noch bevor sie wusste, ob sie überhaupt gemeint war, nahm ihr jemand die Kiste mit den Mineralwasserflaschen aus den Händen und stellte sie in den Kofferraum ihres Autos. Dann erschienen die kräftigen Arme erneut in ihrem Blickfeld. So fand der Karton mit zehn Ein-Liter-Packungen Milch den gleichen Weg. Sie war dermaßen verblüfft, dass sie sogar vergaß, zu protestieren. Endlich sah Charlotta, die ratlos den Weg ihrer Einkäufe in ihren Kofferraum verfolgt hatte, auf.

Sie musste höher schauen, als zunächst angenommen, denn der Mann, der sie mit einem atemberaubenden Lächeln ansah, stand überraschend dicht vor ihr. Ein sehr großer Mann und – ein sehr attraktiver Mann. Endlich erinnerte sie sich, dass sie eine Stimme hatte. »Ähm … danke!« Sie merkte selbst, dass man ihre Verwunderung mehr als deutlich heraushören konnte.

»Bitte schön, gern geschehen.« Eine angenehme, ruhige Stimme. Der Mann lächelte sie noch einmal an, seine Augen schienen belustigt zu blitzen. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Supermarktparkplatz in Richtung Straße. Das Bemerkenswerteste aber war der riesige flachsfarbene Hund, der neben ihm herlief. Ohne Leine.

Erst als Charlotta aus ihrer Schreckstarre aufwachte, bemerkte sie, dass sie nicht als einzige – und vor allem nicht als einzige Frau – dem hochgewachsenen Mann mit seinem wirklich riesigen Hund hinterhersah. Verlegen schlug sie die Kofferraumhaube zu und stieg in ihren kleinen, der orangen Farbe wegen zärtlich Apfelsinchen genannten Wagen.

Gedankenverloren fuhr Charlotta nach Hause. Ihr ging der Mann nicht aus dem Kopf. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen. Weshalb hatte er nicht etwa irgendeinem vermutlich viel hilfsbedürftigeren Senioren auf dem Parkplatz geholfen, sondern ihr? Nur ihr.

Eine plumpe Anmache konnte es aber eigentlich nicht gewesen sein, sonst hätte er doch versucht, noch näher mit ihr ins Gespräch zu kommen. Oder? Seltsam.

So seltsam zumindest, dass sie sich Gedanken darüber machte.

Zu Hause angekommen, holte die Realität sie aus ihrer Träumerei. Wie so häufig fand sie keinen Parkplatz in aus ihrer Sicht tolerierbarer Wohnungsnähe. Sie fuhr mehrfach durch die anliegenden Straßen, doch überall parkten die Autos dicht an dicht. Charlotta begrüßte wohl zum hundertsten Mal ihre Entscheidung, sich nur ein kleines Auto gekauft zu haben, damit sie auch in schmalere Parklücken kam. Aber sogar die fand man selten. Schließlich bemerkte sie, wie ein Golf aus seiner engen Lücke mühselig herausrangierte. Der Parkplatz befand sich auf ihrer Straßenseite, aber von vorne kam ein dicker Q5.

»Ja, ja, ja, fahr doch endlich raus!«, flüsterte sie beschwörend, befürchtend, dass ihr der Audi die Parklücke wegschnappte. Der Gegenverkehr musste jedoch den Golf erst vorbeilassen und konnte ihr nicht gefährlich werden. Erleichtert und mit einem befriedigenden Gefühl huschte sie in die Lücke. Jeden Tag der gleiche Kampf.

Geschafft! Allerdings seufzte sie beim Gedanken an den gefühlt meilenweiten Weg bis zu ihrer Wohnung tief auf. Genau genommen handelte es sich nicht einmal um eine einzige Meile, aber sie fand es zu weit für ihre schweren Einkäufe. Jetzt hätte sie die Hilfe des Fremden gebrauchen können. Sie nahm es ihm fast ein bisschen übel, dass er nicht noch einmal aus dem Nichts auftauchte, um ihr die Sachen abzunehmen. Ihre Besorgungen aus dem Einkaufswagen in den Kofferraum zu heben, empfand sie als weniger anstrengend, als nun alles die etwa dreihundert Meter bis zu ihrer Wohnung zu schleppen.

Charlotta seufzte schwer, denn dieses Problem tauchte regelmäßig auf. Also packte sie erst einmal zwei Wasserflaschen und eine Tüte Milch in ihren Einkaufskorb zu den anderen Lebensmitteln. Die übrigen Sachen wollte sie nach und nach holen.

In ihrer Wohnung angekommen, stellte sie ächzend den schweren Korb in der Küche ab. Früher hätte sie Ralph gebeten, die übrigen Einkäufe aus dem Auto zu holen. Doch seit ihrer Trennung hatte sich das erledigt.

Ralph. Er habe die Frau seines Lebens gefunden. Sie seien füreinander bestimmt! Charlotta schluckte den Kloß herunter, der ihr in der Kehle saß, und begann automatisch, die Lebensmittel in die Schränke zu räumen. Nach sieben gemeinsamen Jahren mit einer derart komischen Begründung abgefertigt zu werden, schmerzte sie sehr.

Die in aller Eile bezogene, bescheidene und entsprechend günstige Wohnung konnte sie sich mit ihrem Gehalt als Krankenschwester auch alleine leisten. Die für die neue und kleine Wohnung ohnehin viel zu großen Möbel überließ sie Ralph. Charlotta schnaubte durch die Nase: Mit den zweitausend Euro von ihm konnte sie wahrhaftig keine Küche plus Wohnzimmereinrichtung und eine Schlafzimmereinrichtung kaufen! Sie wollte auch nicht lange mit ihm diskutieren und freute sich schließlich, überhaupt etwas zu haben und ihn so schnell wie möglich nicht mehr sehen zu müssen.

Ihr Blick wanderte über die gebrauchte Küche, die aus einer Haushaltsauflösung stammte. Über eine Kleinanzeigenplattform hatte sie ein Sofa, zwei Sessel und einen Tisch ergattert. Mehr gaben ihre Ersparnisse auch vorerst nicht her. Dann aber bekam sie wenige Wochen später ein Bett geschenkt, für das sie einen neuen Lattenrost und eine neue Matratze besorgte. Seitdem schlief sie auch viel besser. In den nächsten Wochen sollte sie über eine Freundin einen ausrangierten Wohnzimmerschrank von deren Oma bekommen, die ins Altenheim ziehen wollte. Vermutlich entsprach dieser Schrank nicht ihrem Einrichtungsstil, aber im Moment durfte sie nicht wählerisch sein. Dafür nahm ihre kleine Wohnung langsam Gestalt an.

Immer wieder ertappte Charlotta sich im Laufe des Abends dabei, dass sie an den fremden Mann mit seinem ungewöhnlich großen Hund dachte. Sein lächelndes Gesicht vor Augen, bereitete sie sich ihr Abendessen zu. Auch geisterte er durch ihre Gedanken, während sie vor dem Fernseher saß und gar nicht mitbekam, welches Programm gerade lief. Vielmehr meinte sie, in ihrer Erinnerung noch einmal die angenehme Stimme zu hören und die amüsiert blitzenden Augen zu sehen.

In der Nacht träumte Charlotta von einem großen, flachsfarbenen Wolf. Ein Wolf, der immer tiefer in den Wald hineinlief, als verfolge er ein konkretes Ziel und sei auf dem direkten Weg dorthin.

Auch nach ein paar Tagen noch ging ihr der Fremde nicht aus dem Kopf. Bei der Arbeit dachte sie an ihn, in der Stadt glaubte sie, ihn manchmal in der Menschenmenge ausmachen zu können und spürte jedes Mal einen Stich der Enttäuschung, wenn sie feststellen musste, dass sie sich getäuscht hatte. Sah sie einen Hund mit flachshellem Fell, klopfte ihr Herz. So ein riesiges Tier jedoch, wie das dieses Fremden, begegnete ihr nicht noch einmal.

Einem Menschen begegnete sie jedoch immer wieder: Ralph. Ralph mit der Frau seines Lebens. Der Frau, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte.

Charlotta schnaubte verächtlich durch die Nase ob dieses theatralischen Ausdrucks.

Sie fand außerdem, dass er den Anstand haben sollte, nicht in ihren früheren gemeinsamen Lieblingskneipen aufzutauchen. Aber diesbezüglich schien er keine Hemmungen zu haben.

Dass der weitaus größere Teil ihrer Freunde sich nicht für einen von ihnen entscheiden wollte, war für Charlotta von Anfang an in Ordnung. Sie wusste aus Erfahrungen in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, dass sich das im Laufe der Zeit meist automatisch irgendwann ergab. Trotzdem tat es weh, ihn zu sehen, und dass ihre gemeinsamen Freunde auch seine neue Freundin herzlich aufnahmen.

Doch sie wollte nun auch nicht damit anfangen, diese Orte zu meiden, um sich nicht selbst ins Abseits zu stellen. Umso häufiger verabredete sie sich mit ihren engsten Freundinnen, bei denen sie davon ausgehen konnte, dass zumindest diese die Neue nicht mit offenen Armen aufnahmen.

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