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23. Mai

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»Scheiße, Paul, was sollte das? Nee, Jungs, das ist echt nicht lustig. Ich warte jetzt schon ewig auf die Frau, von der unser Schamane behauptet, dass sie von den alten Geistern für mich vorgesehen ist. Und als ich sie gestern Abend endlich ansprechen konnte, hat Paul ihr so einen Schrecken eingejagt, dass sie fast tot umgefallen ist.«

Paul hob die Hände mit Rob zugewandten Handflächen, grinste aber unverschämt. »Ey, tut mir leid, Mann. Außerdem hat sie nicht gesagt, dass sie fast tot umgefallen wäre, sondern sich fast eingenässt hätte!«

Die Männer, die um Rob und Paul herum saßen, wieherten vor Lachen.

Rob bedachte seinen Bruder mit kaltem Blick. »Echt, Paul, manchmal bist du wirklich ein Arschloch. Ich weiß nicht, weshalb ich ausgerechnet dich gebeten habe, mir zu helfen. Ich sag dir eins: Bleib weg von der Frau!«

»Das hast du mir zu sagen, Kleiner?« Paul lehnte sich zurück, streckte die Beine, in Höhe der Fußgelenke übereinandergekreuzt, von sich und fuhr sich provokativ langsam mit einer Hand durch die flachsblonden Haare.

»Nein, ich sage das!« Eine tiefe leise Stimme.

Die Männer sprangen auf und drehten sich zur Tür um. Hinter dem alten Mann strahlte das Licht heller als im Raum, und so konnte man ihn nur als großen Schatten wahrnehmen. Es schien, als umgebe ihn ein Heiligenschein. Respektvoll nickten die Männer – alle immerhin zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt – dem alten Schamanen zu.

»Ich habe schon so viel Zeit benötigt, die Frau zu finden. Die Bilder waren nicht klar und deutlich zuzuordnen. Rob hat dadurch viele Jahre verloren. Ihr solltet ihm lieber helfen – das gilt auch für dich, Paul.«

»Das sollte nur ein Scherz sein«, versuchte Paul schwach, sich zu verteidigen. Doch die Miene des alten Mannes ließ ihn verstummen. »Es tut mir leid«, murmelte er.

»Komm mit mir mit, Rob«, sagte der alte Schamane und verließ das Haus.

Der Schamane führte ihn in einen großen Raum.

Rob sah die unzähligen Gegenstände, die an den Wänden hingen. Bei vielen ahnte er nicht einmal, wofür der alte Mann sie brauchte. Einige, das wusste Rob jedoch, benötigte er, um sich in Trance zu versetzen und Kontakt zu verschiedenen Geistern – insbesondere denen ihrer alten Ahnen – aufzunehmen. Aber auch Krankheiten erkannte der Schamane in der Trance, diagnostizierte und behandelte sie. Dabei setzte er sowohl auf Dinge wie das Untersuchen der Zunge, das Überprüfen der Iris, das Riechen an Atem und Urin und Ähnlichem mehr. Er behandelte mit seinen Händen, mit Kräutern, setzte aber auch schon mal das Messer an.

Was den alten Mann aber eindeutig von den klassischen Medizinern unterschied, die beispielsweise in einem Krankenhaus arbeiteten, war, dass er Körper und Seele nicht voneinander trennte. Jede Krankheit, so wusste er, hat auch eine seelische Ursache. Und die muss ich zuerst finden, nur dann kann ich die Waage wieder ausgleichen.

Obwohl er schon seit frühester Kindheit immer wieder bei dem Schamanen gewesen war, sah Rob sich in dem großen Raum auch diesmal wieder neugierig um. Denn jedes Mal entdeckte er etwas, was er vorher noch nie gesehen hatte – wenngleich er davon ausging, dass es schon seit urewigen Zeiten dort lag oder hing.

»Erzähl es mir«, forderte der alte Mann. Zielstrebig ging er währenddessen zu einem halbhohen Schrank. Dort nahm er eine darauf stehende steinerne Schale in die Hand. Hier musste bereits vor vielen, vielen Generationen ein anderer Schamane in mühevoller Arbeit eine Mulde in den Stein geschliffen haben. Der Schrank wiederum hatte viele kleine Schubladen, von denen er einige öffnete, um ihnen verschiedene Kräuter zu entnehmen. Er bedeutete Rob, der ihm ohne Scheu von seiner Begegnung mit Charlotta berichtete, sich auf den Teppich zu setzen. Mit einem Holzspan – Rob hoffte jedesmal wieder vergeblich, erkennen zu können, woran er ihn anzündete – setzte er die Kräuter in der Schale in Brand. Kurz sah man die Glut, dann nur noch Rauch.

Rob atmete tief und ruhig. Rituale wie diese waren ihm durchaus geläufig, auch wenn sie nie auf den gleichen Weg führten. Dennoch vertraute er dem alten Mann, schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem.

»Wir sind für einander bestimmt! So was Beklopptes! Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ist das jetzt ein Modeausdruck? Erst Ralph, und dann dieser komische Typ!«

Gekicher kam zunächst als einzige Antwort.

Sie saß mit Sara und Angie zusammen in Angies pinkfarbenem Wohnzimmer. Die Farbe biss so in den Augen, dass Charlotta jedes Mal wieder befürchtete, mit einer Bindehautentzündung nach Hause gehen zu müssen. Aber dieses Gefühl trog nun schon seit drei Jahren.

Sara verdrehte verzückt die Augen. »Du hättest den Typen sehen sollen, Angie.«

Charlotta verdrehte verzweifelt die Augen.

»So ein Sahneschnittchen hast du schon lange nicht mehr gesehen. Groß, schlank, muskulös. Verstrubbelte Haare, als käme er direkt aus dem Bett …«

Charlotta rollte erneut mit den Augen. »Ich habe nie gesagt, dass er hässlich ist«, mischte sie sich ärgerlich ein. »Aber ich finde ihn … merkwürdig. Der macht mir Angst. Mit dem ist irgendwas nicht in Ordnung, ehrlich Mädels. Irgendwie hat er so eine ganz komische Art, einen anzugucken. Dabei ist der so was von bestimmend und selbstsicher, das macht mich echt aggressiv!«

»Du solltest dich mal wieder etwas lockerer machen, Lotta!«, mahnte Angie. »Du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Mach dir ein paar schöne Stunden mit ihm. So wie Sara ihn beschreibt, dürfte das für dich nicht so eine große Überwindung sein, oder?«

»Themenwechsel! Ihr seid echt blöd!«

»Apropos heiraten …«, begann Angie.

Charlotta sah gerade noch, dass Sara beschwörend den Kopf schüttelte und senkte den Kopf. »Wie wär’s, wenn wir heute Abend noch zu Henry’s gingen und da ’ne Kleinigkeit essen«, versuchte sie, das betretene Schweigen zu brechen.

Jedes Mal, wenn Charlotta zu Henry in den Pub kam, zelebrierten sie das gleiche Ritual. Er gab ihr Bescheid, wo sie einen freien Tisch finden konnte, ansonsten winkte er sie an die Theke, damit sie dort bei einem kleinen Plausch mit ihm wartete, bis an einem der Tische jemand bezahlte. Als Dank drückte sie jedes Mal einen Kuss auf ihre Handfläche und pustete ihn in seine Richtung. Als habe ihn dieser Kuss geradezu umgehauen, hielt sich Henry dann die Wange und freute sich königlich. Er mochte die junge Frau gerne, und er hatte von Anfang an gesehen, dass Ralph nicht der Richtige für sie war. Dieser Mann, mit dem sie gestern noch bei ihm war, da stimmte die Aura. Aber komischerweise schien Charlotta da anderer Meinung zu sein. Außerdem musste der Mann irgendetwas Dummes gesagt und damit die Situation verpatzt haben.

Henry hatte das Geschehen am Vorabend genau beobachtet. So sehr er auch jetzt noch der Meinung war, dass irgendetwas Ungewöhnliches zwischen den beiden bestand – der Blick des Mannes verursachte ihm eine Gänsehaut. Nicht so eine, die ihm Angst gemacht hätte. Aber irgendetwas an dem Mann schien … anders.

Umso mehr freute Henry sich, dass Charlotta auch heute wieder bei ihm auftauchte und so fröhlich wie immer wirkte, als sie ihm den Luftkuss zupustete. Bei diesen drei Frauen wusste er, was er mischen musste. Wenn sie ihm nicht beim Hereinkommen etwas anderes signalisierten, brachte er das aktuelle Lieblingsgetränk: Aperol mit viel Prosecco und wenig Soda.

Charlotta beharrte darauf, dass ›dieser blöde und aufdringliche Mann‹ heute Abend kein Thema mehr sein sollte. »Ich denke, ich habe ihm deutlich genug gesagt, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Ihr könnt noch so sehr reden. Ich. Will. Ihn. Nicht! Und wenn er nur einen Funken Stolz im Leib hat, bleibt er, wo der Pfeffer wächst!«

»Du meine Güte, was ist der riesig!« Sie befanden sich auf dem Weg nach Hause. Angie und sie hatten Sara bereits an deren Wohnung abgesetzt und liefen jetzt zu zweit weiter. Sie hatten lange bei Henry gesessen und ziemlich viel getrunken.

Eigentlich fühlten sie sich nicht betrunken.

Na gut, als recht deutlich angeschwipst konnte man sie zugegebenermaßen tatsächlich bezeichnen.

Aber lustig war’s gewesen. Charlotta kamen Angies Worte wieder in den Sinn, und sie drehte den Kopf in dieselbe Richtung, in die ihre Freundin sah.

»Ouh scheiße!«, flüsterte sie und hielt den Atem an.

»Was für ein riesiger Hund«, staunte Angie noch einmal fasziniert.

Charlotta glaubte, ein leises Knurren zu hören. »Nicht Hund! Wolf!«, verbesserte sie. »So groß ist kein Hund. Das ist ein Wolf! Komm, schnell weg von hier!« Hastig schob sie ihre Freundin weiter.

Kurz bevor sie um die nächste Ecke bogen, drehte Charlotta sich wie unter Zwang noch einmal um. Der große Wolf saß noch immer unter der Laterne und schien ihnen nachzusehen. Bevor sie sich wieder umdrehte, um weiterzugehen, erhob der Wolf sich und verschwand in einer Seitenstraße.

»Sind Wölfe echt so groß?«, staunte Angie.

»Ich habe keine Ahnung. Im Zoo wirken sie kleiner. Aber der, den dieser Rob bei sich hatte, der war echt riesig. Überleg mal: Der stand da, und seine Nase befand sich in meiner Magenhöhe. Das ist doch nicht normal!«

»Wie hieß der Hund noch mal?«

»Wolf! Das ist ein Wolf! Und der heißt Paul.«

Angie holte tief Luft. Geistesgegenwärtig hielt Charlotta ihr mit einer Hand den Mund zu. »Wie besoffen bist du eigentlich? Du hattest nicht wirklich vor, ihn zu rufen, oder?«

»Wieso denn nicht?«, erkundigte Angie sich beleidigt. Bei der Abwehr von Charlottas Hand geriet sie ein wenig ins Schwanken. »Ich meine, dir hat er doch auch nichts getan. Ich wollte ihn mal aus nächster Nähe sehen.«

»Da war ja auch sein Herrchen dabei.« Charlotta erinnerte sich, wie energisch Rob mit dem Wolf gesprochen hatte – das offensichtliche Ergebnis einer jahrelangen guten, strengen und konsequenten Erziehung. »Wölfe sind wilde Tiere, Angie! Die kannst du nicht wie einen Hund heranpfeifen und mit Leckerlis locken. Abgesehen davon ist dies außerdem ein anderer, weil der viel dunkler ist.«

»Ich hab doch gar keine Leckerlis!«

Charlotta schloss ergeben die Augen. »Schätzelein, wir sind gleich bei dir zu Hause. Geh schön rein, bleib fein drinnen und komm nicht auf die Idee, Wölfe zu rufen.«

»Und was ist mit dir? Ich kann dich doch nicht alleine durch die Weltgeschichte laufen lassen, wenn da wilde Wölfe und aufdringliche hübsche Männer unterwegs sind!« Entsetzt riss Angie die Augen auf.

Aufgrund der Alkoholmenge, die Angie offensichtlich doch nicht so recht vertrug, sprach sie sehr laut. Charlotta drehte sich unangenehm berührt um, in der Hoffnung, dass niemand sie gehört hatte. Sie fühlte sich selbst nicht ganz nüchtern, traute sich aber trotzdem durchaus zu, die letzten Meter bis zu ihrer Wohnung allein zu laufen. Die Entfernung betrug nicht mal mehr einen Kilometer. Wichtig schien ihr nur, dass Angie sich an die Anweisung hielt, die Tür zu schließen, sie geschlossen zu halten und auf direktem Weg ins Bett zu gehen.

So wartete sie, bis Angie im Haus war, wartete, bis sie hörte, dass der Haustürschlüssel von innen herumgedreht wurde, und wartete, bis in Angies Schlafzimmer, das zur Straße hinaus lag, das Licht anging. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie auch noch warten sollte, bis das Licht wieder gelöscht wurde. Sie kam dann aber doch zu dem Entschluss, dass Angie erwachsen war und sie selbst nicht für alle Angies auf dieser Welt die Verantwortung übernehmen konnte.

Charlotta würde sich nicht als sonderlich ängstlich bezeichnen. Doch plötzlich kam ihr die ungewohnte Ruhe in der Straße unheimlich vor. Kein Geräusch unterbrach die nächtliche Stille.

Kein Geräusch? Doch, irgendetwas schien dort zu sein. Sie nahm ihren Schlüsselbund in die Hand. Sollte ihr irgendjemand auflauern, würde sie ihm ihre Schlüssel erst durchs Gesicht ziehen und ihm dann … »Waaah!« Keine fünf Meter vor ihr, im Schein der nächsten Straßenlaterne, tauchte hinter einer Hausecke dieser riesige Wolf auf. Langsam, mit angehaltenem Atem und ohne ihn aus den Augen zu lassen, machte Charlotta einen großen Bogen um ihn herum. Das imposante Tier stand bei Charlottas Auftauchen augenblicklich regungslos da. Es verharrte ganz still und sah sie unverwandt an, drehte den Kopf in dem gleichen Tempo, wie sie um es herumlief und ließ sie die gesamte Zeit nicht aus den Augen. Sie unterdrückte den Impuls zu fliehen – zumindest sollte man das bei Hunden tunlichst unterlassen, um deren Jagdinstinkt nicht herauszufordern. Und einen anderen Weg nach Hause gab es im Grunde auch nicht. Die einzige Alternative, nicht an dem Wolf vorbeilaufen zu müssen, wäre ein Umweg von mindestens fünfhundert Metern gewesen. Und, dass der Wolf dann dort nicht auftauchen würde, schien zudem auch noch ungewiss.

Sie fühlte sich mehr als nur unbehaglich. Einunddreißig Jahre ihres Lebens hatte Charlotta keinen Wolf in freier Wildbahn gesehen, auch wenn bekannt war, dass in den riesigen Wäldern Wölfe lebten. Schon gar nicht so einen großen. Und jetzt tauchte dieses Tier immer wieder unvermittelt in ihrer Nähe auf. Nein, genaugenommen handelte es sich um mindestens zwei Wölfe. Denn dieser hatte ein braunes Fell.

Charlotta lief weiter, froh, schließlich in den übernächsten Hauseingang schlüpfen zu können. Dass sie den Haustürschlüssel bereits in der Hand hielt, erwies sich erst einmal als Vorteil. Jedoch zitterten ihre Hände dermaßen, dass sie ihn kaum ins Schlüsselloch bekam. Fast rechnete sie damit, dass dieser komische Fremde auftauchen und ihr behilflich sein oder der Wolf über sie herfallen würde. Aber in dem Augenblick öffnete sich die Haustür. Hastig schlüpfte sie hinein und schlug die Tür sofort wieder zu, ohne sich nur eine einzige Sekunde umzusehen. Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss. Somit erreichte sie die nächste Tür ganz schnell. Es dauerte noch einmal genauso lange, mit ihren zitternden Händen auch die Wohnungstür aufzuschließen, dann stand sie schwer atmend im dunklen Flur.

Leise und geduckt, als könnte man sie von draußen sehen, lief sie in ihr Schlafzimmer, das genau wie das von Angie zur Straße rausging. Vorsichtig zog sie die Gardine zur Seite und spähte hinaus.

Nichts. Erst als sie die Schultern erleichtert sinken ließ, spürte Charlotta, wie angespannt sie gewesen war.

Energisch zog sie die Gardinen wieder zu, die festeren Übergardinen darüber und stieg aus ihren Klamotten. Noch kurz ins Bad und dann ins Bett.

Es lag vermutlich am Alkohol, dass sich ihr Bett sachte schaukelnd zu bewegen schien. Seltsamerweise glaubte sie, einen feinen Rauchgeruch wahrzunehmen. Aber sowohl das Schaukeln als auch der zarte süßliche Duft störten oder beunruhigten sie nicht. Ein eher angenehmes Gefühl, fand sie. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief Charlotta ein.

Der alte Mann stand plötzlich vor ihrem Bett. Er hatte ein von mindestens tausend Falten durchfurchtes Gesicht. Sie spürte, wie er die dunklen, wissenden Augen auf sie richtete. Ein sanftes Lächeln gab ihr das Gefühl, dass sie keine Angst zu haben brauchte.

»Komm mit mir«, hörte sie die tiefe Stimme des Mannes, die alles in ihr zum Vibrieren brachte. Dabei bewegte er nicht die Lippen.

Ohne zu zögern, schlug Charlotta ihre Bettdecke zur Seite und folgte ihm. Zunächst liefen sie durch ihr Wohnzimmer auf die Terrasse. Dort zeigte der alte Mann zum Himmel und erklärte ihr, dass man in dieser Nacht deutlich das Sternbild des Wolfes sehen konnte. Und – tatsächlich glaubte sie einen auf dem Rücken liegenden Wolf erkennen zu können. War der schon immer da gewesen?

Wieder folgte sie ihm, und innerhalb weniger Sekunden erreichten sie den Waldrand. Der Wind rauschte leise durch die Blätter. Charlotta fürchtete sich plötzlich. Als habe der alte Mann das gespürt, drehte er sich zu ihr um und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Er sah ihr freundlich lächelnd tief in die Augen, die Hände fühlten sich unglaublich warm an. Augenblicklich spürte sie, dass sämtliche Verspannung aus ihrer Schulter- und Nackenmuskulatur wich. Sie fühlte sich leicht und glaubte, über den Bäumen schweben zu können.

»Möchtest du das?«, fragte die tiefe Stimme wieder. Noch bevor Charlotta antworten konnte, verloren ihre Füße die Bodenhaftung. Sie sah die Baumkronen auf sich zukommen und durchbrach deren grüne Blätterfülle, um den dunklen Wald zu verlassen. Seltsamerweise machte ihr das weniger Angst als der rauschende Wald vorher.

»Was ist das?«, fragte sie den Mann und zeigte auf mehrere leuchtende Punkte.

»Feuer«, antwortete der Alte.

Als sei damit alles gesagt, gab Charlotta sich mit der Antwort zufrieden. Plötzlich glaubte sie, sie und der alte Mann seien nicht mehr allein. Und richtig: Hinter ihr schwebte noch eine weitere Gestalt.

Sie wurde ärgerlich. »Was willst du von mir, Rob?«

»Eine Chance!« Es klang, als hätten zwei Stimmen gleichzeitig gesprochen. Die des alten Mannes und die von Rob.

»Eine Chance wofür?«

»Gib dir die Chance, mich kennenzulernen.«

Verblüfft verschluckte Charlotta die nächste böse Bemerkung. Sie hätte eher damit gerechnet, dass er eine Chance wollte, um sie kennenzulernen. Dass sie sich nun aber die Chance geben sollte, ihn kennenzulernen …

Verunsichert drehte sie sich zu dem alten Mann mit dem zerfurchten Gesicht und den scheinbar allwissenden Augen um. »Warum möchte er das?«, wollte sie wissen, zuversichtlich, auch eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen.

Der Mund des alten Mannes verzog sich zu einem breiten verständnisvollen Lächeln. »Nur wen du kennst, dem kannst du vertrauen. Vertrauen aber ist die Basis für alles.«

»Ja schon, aber …« Charlotta drehte sich zu dem aufdringlichen Menschen um, der ihr plötzlich überall zu begegnen schien. Doch statt seiner stand ein großer Wolf dort. Sofort fiel ihr auf, dass es nicht der Wolf sein konnte, den Rob Paul genannt hatte. Dieser, der jetzt hier neben ihr stand, war womöglich noch ein bisschen größer, und sein Fell besaß eine satte hellbraune Färbung. Es schien ein anderer Wolf zu sein. Vielleicht der, dem sie und Angie abends begegnet waren? Fragend sah sie sich nach dem alten Mann um, doch der hatte ihr den Rücken zugekehrt und sich bereits einige Meter von ihr entfernt.

Sie wollte aber nicht mit dem großen Wolf, der ihr ein bisschen Angst machte, allein sein. Deshalb lief sie los und ließ den braunen Wolf hinter sich. Doch so sehr sie sich auch beeilte, trotz seines Alters und des scheinbar gemächlichen Schrittes, vergrößerte der Mann den Abstand zwischen ihnen beständig. Charlotta sputete sich immer mehr, sie fürchtete, dass sie ihn verlor und allein war. Allein über dem Wald, nicht wissend, in welcher Richtung die Stadt lag und vor allem, wie sie dann wieder runter auf die Erde kam.

Plötzlich spürte sie, dass sie gar nicht mehr allein war. Neben ihr lief der große Wolf, locker und lässig. Sie ging davon aus, dass er sicherlich schneller hinter dem alten Mann herlaufen könnte, dennoch aber bei ihr blieb. Als ihr das bewusst wurde, machte sich in ihr ein schier unbeschreibliches Gefühl der Sicherheit breit, und sie verlangsamte ihren Schritt wieder. Jetzt schien es egal, wenn sie den alten Mann verlor. Sie vertraute zuversichtlich darauf, dass der große braune Wolf ihr half.

Sie gingen immer weiter. Weit vor ihr lief jemand – mehr konnte sie inzwischen nicht mehr erkennen. »Komm mit mir nach unten«, sagte eine Stimme, die sie zu kennen glaubte. Doch außer ihr und dem Wolf befand sich niemand in Sichtweite. Noch während sie sich umsah, wer sonst in ihrer Nähe sein und gesprochen haben könnte, durchbrachen sie und der Wolf, der ihr keinen Meter von der Seite wich, erneut die Blätterkronen der Bäume. Bei dem Tempo, in dem sie wieder zur Erde zurückkehrten, hätte sie eigentlich den Luftzug wahrnehmen müssen, und normalerweise hätte sie auch Angst verspürt. Aber sie empfand keine Furcht.

Sanft landete sie auf ihren Füßen. Gerade stellte sie fest, dass sie keine Schuhe trug und es hier unten seltsamerweise heller war als über den Bäumen. Doch im gleichen Moment sah der große Wolf sie auffordernd an und lief los. Ohne zu zögern, heftete Charlotta sich an seine Fersen.

Sie überquerten eine weitläufige Wiese, folgten dem Lauf eines schmalen Flusses und kamen schließlich an einen großen Felsen.

»Bitte warte hier«, hörte sie wieder die Stimme, von der sie inzwischen glaubte, dass sie Rob gehören könnte. Doch den konnte sie nirgends sehen. Gehorsam setzte sie sich ins Gras und schaute auf den klaren Fluss, in dem das Wasser gurgelnd zwischen größeren und kleineren, im Laufe der Jahrtausende glattgespülten Steinen hindurchfloss. Sie sah den Wolf Richtung Fluss laufen und hinter einem Felsen verschwinden. Es war still. Außer dem plätschernden Wasser hörte sie nichts. Keine Tiere, keine Menschen – nicht einmal in weiter Ferne die Geräusche vorbeifahrender Autos. Umso mehr erschrak Charlotta, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Sie wandte sich um und sah Rob aus der Richtung auf sich zukommen, in die vorher der Wolf verschwunden war. Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn fragend an. »Irgendwann wirst du alles verstehen«, sagte er – in seiner Stimme schwang ein leicht resignierter Unterton mit. »Komm, ich bringe dich jetzt nach Hause.« Automatisch griff sie nach seiner dargebotenen Hand, ließ sich von ihm hochziehen und lief neben ihm her. In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, das sei so in Ordnung.

Überraschend schnell standen sie vor ihrem Haus. Rob, der Mann, den sie eigentlich überhaupt nicht leiden konnte, beugte sich zu ihr herab und drückte ihr einen sanften Kuss aufs Haar. Dabei hörte sie, wie er tief einatmete. »Schlaf jetzt«, sagte er leise. Noch bevor sie antworten konnte, spürte sie die weiche Matratze unter sich und registrierte, dass sie in ihrem Bett lag. Aber auch das war etwas, worüber sie sich erst am nächsten Morgen wundern würde.

WOLF CALL

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