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Kapitel 8

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„Ihr tretet mich vom Himalaya und ich kletter wieder rauf.“ -

Jennifer Rostock

Als Exposition (wie es von den Therapeuten genannt wird, wenn man eine Aufgabe erfüllt, die einem meist Schwierigkeiten bereitet) ziehe ich mich heute mal so an, wie für einen Happy Rock Abend. Mein Standard-Weggeh-Outfit besteht immer aus einem kurzen Rock und einem knappen Top, damit meine schlanke Figur besonders gut zur Geltung kommt. Gleich fühle ich mich ganz anders. Wie beim Weggehen in sicherer Umgebung: arrogant und unglaublich cool. Ich genieße den Tag und kann mit meinem selbstbewussten Auftreten sogar den Chefarzt beeindrucken! Er meint, ich wäre eine Bereicherung für die Klinik Roseneck. Am nächsten Tag stehen neben den anderen üblichen Therapien auch Spiegelübungen gemeinsam mit meiner Therapeutin an. Das soll mir helfen, meinen Körper besser wahrzunehmen, wie er tatsächlich ist und nicht, wie er in meinem Kopf durch die Essstörung aussieht. Ich erkenne, dass es nicht so schlimm ist, wie ich befürchte. Meine Aufgabe besteht vor allem darin, meinen Körper zu akzeptieren. Das ist auch der Lieblingsspruch meiner Therapeutin, der in vielen Situationen angewandt werden kann: „Sie müssen es nicht schön finden, Sie müssen es nur akzeptieren!“ Nun ja, das klingt aber trotzdem weitaus einfacher als es dann in der Realität ist. Nach der erfolgreichen Therapiestunde gehe ich in die Stadt und suche mir eine Notfallbox mit Leopardenmuster aus, die ich auch gleich befülle mit verschiedenen Gegenständen, die mir helfen sollen, wenn ich den Druck verspüre, mich zu verletzen. Ich packe ein Gummiband hinein, einen Igelball, Duftöl, Entspannungsbad, Gesichtsmaske und noch vieles mehr. Außerdem telefoniere ich am Ende dieses erfolgreichen Tages mit meiner Patin und Leif, einem gemeinsamen Freund von Andi und mir. Gestärkt gehe ich aus diesen Gesprächen heraus und erkenne, dass ich mich jetzt erst einmal um mich kümmern muss. Für Andi kann ich im Moment wirklich nicht mehr tun.

Am darauffolgenden Wochenende hält meine gute Stimmung an und ich glaube, dass ich sogar glücklich bin. Ein sehr ungewohntes Gefühl, deshalb bin ich mir gar nicht so sicher, ob es wirklich da ist! Aber ja, ich bin zufrieden und verbringe einen schönen Tag mit Daniela und einer weiteren Mitpatientin in Rosenheim. Wir ziehen durch die Geschäfte, kaufen ein, essen Döner und haben viel Spaß. Ganz vergessen kann ich meine Beziehungskrise aber nicht und ich schreibe eine schöne Karte an Andi, weil ich mir einbilde, ich müsste jetzt auch mal etwas geben in unserer Beziehung. Wirklich echt fühlt es sich nicht an, aber ich möchte meine Freude über den schönen Tag teilen und wünsche mir, dass es ihm auch endlich wieder besser geht. Den nächsten Tag unternehme ich mit zwei anderen Mädels einen Schwimmbadbesuch und lasse es mir gut gehen.

Doch schon ein paar Tage später geht es wieder los: Andi und ich streiten uns am Telefon, bis es eskaliert und ich von ihm eine Entscheidung einfordere, ob er weiter mit mir zusammen sein will oder nicht. Wutentbrannt stürme ich danach aus dem Zimmer und reagiere mich bei einem Spaziergang in eisiger Januar-Kälte ab. Kaum bin ich wieder zurück, klingelt das Festnetztelefon in meinem Zimmer erneut, obwohl ich keinen weiteren Anruf an diesem Abend wollte. In diesem Gespräch schafft Andi es, die Tatsachen zu verdrehen und mich als die „Böse“ hinzustellen und ich hätte Glück gehabt, dass er seine Mutter angerufen hat, sonst hätte er für nichts garantieren können. Wofür lässt er offen, ich nehme aber an, er spricht von Drogenkonsum oder Alkohol. Also wenn DAS nicht mal Erpressung ist? Ich fühle mich ungerecht und unfair behandelt und das kann ich überhaupt nicht ertragen. Wie soll ich denn mit ihm umgehen? Am liebsten würde ich gar nicht mehr mit ihm telefonieren, weil mich das nur herunterzieht und ich Angst habe, etwas zu sagen, was dann wieder völlig anders ausgelegt wird, als ich es meine. Zusätzlich wächst in mir der Verdacht, dass er auffällig oft etwas mit einer gewissen Marie unternimmt. Noch beobachte ich aber nur und spreche es nicht an. Ich weine und weine, bis die Augen brennen und geschwollen sind und ich schließlich erschöpft einschlafe. Ein paar Tage später erreicht mich ein Brief, in dem Andi seinen Standpunkt erklärt, welcher nur aus Vorwürfen gegen mich besteht. Obwohl sich das alles sehr unfair anfühlt, mache ich mir die Mühe und beantworte den Brief sogar. Allerdings gibt mir unsere gemeinsame Freundin Anne Recht und sagt, dass ich gerade nichts richtig machen könne und er immer etwas finden wird, worüber er „meckern“ könne.

Im Laufe der nächsten Tage beruhigt sich die angespannte Situation wieder. Vielleicht liegt es auch daran, dass mein Geburtstag bevorsteht und Andi mich gemeinsam mit unserer Freundin Anne und deren einjähriger Tochter Lara besuchen kommen will. Nun kann ich den Fokus wieder ganz auf das Hier und Jetzt richten und mich auf meine Entwicklung konzentrieren. Es tut sich schließlich einiges: mein Gewicht klettert weiter nach oben und ich erreiche einen BMI von 18, somit bin ich laut Definition fast nicht mehr anorektisch, was ich auf der einen Seite schade finde (es macht Angst!), auf der anderen Seite ist mir klar, dass dies der einzige Weg ist, wieder ganz gesund zu werden und die Essstörung zu besiegen. Weiter muss ich meine Essensmengen steigern und gehöre nun an den „Familientisch“. Das bedeutet, ich muss beim Mittagessen meine Menge selbst portionieren. An diesem Tisch fühle ich mich nicht so wohl, ich vermisse meine Clique, mit der ich sonst immer so viel Spaß hatte, und fühle mich etwas einsam. Aber da ich so gute Fortschritte gemacht habe, bin ich jetzt an der Reihe für die Aufnahme an diesen Tisch.

Die Zeit vergeht und dann ist auch schon mein Geburtstag da. Heute werde ich 23 Jahre alt. Schon gleich am Morgen werde ich herzlich von meinen Mädels empfangen, habe nur einen Termin zur Massage und Chef-Einzelgespräch. Eigentlich war auch ein Gespräch mit meiner Therapeutin gemeinsam mit meiner Mutter geplant, aber das scheiterte dann an der zeitlichen Organisation. Beim Abendessen im italienischen Restaurant mit meiner Mama versuche ich ihr klarzumachen, dass ich tatsächlich an einer Krankheit leide und dass ich nicht zum Spaß eine Essstörung gewählt habe. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das wirklich verstehen kann, zudem geht es meist nur um sie, ihr Leben, ihr Schicksal und überhaupt. Empathie und Verständnis für andere stehen auf ihrer Liste leider ganz unten. Auch mein Vater meldet sich, um mir zum Geburtstag zu gratulieren und sagt am Telefon, er freue sich darüber, wenn ich wieder zu Hause bin. Komisch. Ich weiß nicht so recht, wie ich mit diesem regelrechten Gefühlsausbruch seinerseits umgehen soll, denn für mich ist klar, dass es mir lieber ist, ihn nicht um mich zu haben. Den weiteren Abend feiern wir mit fast allen meinen Mitpatientinnen der Station in einer Kneipe. Wir haben Spaß, lachen viel und ich werde reich beschenkt. So einen tollen Geburtstag hatte ich wirklich schon lange nicht mehr und ich bin froh, dass ich diese wunderbaren Menschen in der Klinik kennen lernen durfte! Auch der Samstag nach meinem Geburtstag ist ein schöner Tag: ich bekomme Besuch von Andi, Anne und Lara. Wir gehen am See spazieren, essen Kuchen und ich führe sie stolz durch meine Station und in mein Zimmer. Als sie wieder weg sind, gehe ich noch schwimmen und beende den Tag beim gemeinsamen Fernsehen. Ich bin rundum zufrieden. Der nächste Tag ist ein Sonntag und ein weiterer Geburtstagsbesuch steht auf dem Plan. Heute von meinem Bruder mit einem gemeinsamen Freund. Wieder fühle ich mich wohl und freue mich über den Kontakt außerhalb meines Kliniklebens. Allerdings hält mein Hochgefühl nicht lange an: Andi meint abends am Telefon, ich wäre gestern „komisch“ gewesen. Ich kann absolut nicht verstehen, was er meint. Schließlich war ich einfach nur fröhlich und ausgelassen. Er macht mir Vorwürfe und zählt auf, was ich alles „falsch“ gemacht habe. Beispielsweise hätte ich mich aufgespielt, sei nicht oft genug zu ihm hingegangen und außerdem habe ich erst noch etwas aufräumen müssen, bevor ich mich zu ihm aufs Bett gesetzt habe. Puh, das ist so anstrengend! Schließlich haben wir eine Beziehung und das ist kein Wettbewerb, bei dem einer gewinnt und der andere verliert. Aber irgendwie kommt es mir so vor. Wütend beende ich das Telefonat und die nächsten zwei Tage herrscht einmal Funkstille, auch wenn mir das richtig schwerfällt. Denn ich bin nach wie vor der Meinung, nichts falsch gemacht zu haben und diese Ungerechtigkeit steigert meine Wut und Anspannung. Es kommt sogar so weit, dass ich mich wieder ritze, weil ich dem Druck nicht standhalten kann. So langsam stelle ich mir die Frage, ob ich in meinem Leben gute Entscheidungen getroffen habe. War es richtig meinen „Vince-Schatz“ für Andi aufzugeben? Wie kam es überhaupt dazu, wo ich doch Vincent wirklich geliebt habe und es so schön mit ihm war?

Ich will brennen

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