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Kapitel 4

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„I hear glasses breaking as I sit up in my bed.“ - Pink

Nach den Feiertagen geht es weiter mit der Auseinander-setzung mit meiner Vergangenheit. Unterstützt werde ich dabei von meiner Therapeutin in der Einzeltherapie.

Eine wichtige Ursache für meine Erkrankung sehe ich definitiv in meiner Kindheit; konkret bei meinen Eltern. Das hört sich immer so grausam und unfair an: den Eltern die Schuld geben und dann ist man aus dem Schneider. So ist das aber definitiv nicht! Ich bin sehr wohl der Meinung, dass sie zur Entstehung meiner Essstörung und anderen Problematiken beigetragen haben. Sie haben mir praktisch vorgelebt, dass man ohne Leistung nichts wert ist und außerdem die Frau unter dem Mann steht. Mein Vater hat meine Mutter ständig heruntergemacht und gedemütigt. Innerhalb der Familie und auch in der Öffentlichkeit. Dabei ging es wahrscheinlich nicht unbedingt darum, sie schlecht zu machen, sondern – wie ich inzwischen begriffen habe – darum, sich selbst besser aussehen zu lassen. Anerkennung kann man nur durch besondere Leistung in der Schule oder in der Musik (vermutlich auch im Sport, aber da war ich ja sowieso ein Totalversager) erlangen und selbst dann reicht es auch nie. Das war mein ständiger Begleiter in Kindheit und vor allem Jugend: egal was ich tue und erreiche, es ist nie genug! Vielleicht schon mal ein Hinweis auf eine Essstörung. Ich muss immer mehr und mehr essen, weil ich nie satt werde. Es muss immer noch besser, noch mehr sein, ein unendlicher Hunger nach mehr Anerkennung. Diese musste ich mir dann selbst geben und das ging sehr gut in Form von Bergen an fettigem Essen. Das war dann aber der Beginn eines Teufelskreises: um etwas wert zu sein, wollte ich auch gut aussehen, was in unserer Gesellschaft eng verknüpft ist mit schlank sein. Früher hatte ich Glück und war das von selbst. Mit der Pubertät kamen dann die Probleme und auch die Kilos auf den Hüften. Ich musste mir von meinem Vater anhören, dass ich nun auch so „Elefantenstampfer“ wie meine Mutter bekäme. Nicht gerade der beste Umgang mit seiner pubertierenden, verunsicherten Tochter und auch nicht respektvoll gegenüber seiner Ehefrau. Aber dieser Ton gehörte leider zur Normalität. Neben verbalen Sticheleien kam es hin und wieder leider auch zu körperlicher Gewalt, deren Zeuge ich bereits als 12-jähriges Mädchen sein musste. Besonders eingeprägt hat sich eine Szene aus den Osterferien, als wir im Skiurlaub in den französischen Alpen waren. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber plötzlich hatte mein Vater seine Hände um den Hals meiner Mutter geschlungen und drückte zu. Ich entwickelte Bärenkräfte und stürzte mich auf meinen Vater, riss ihm die Hände auseinander, sodass er locker ließ und sich schließlich abwandte. Die Erinnerungen sind nur bruchstückhaft vorhanden. Allerdings weiß ich noch, dass meine Mutter am Ende dieses Urlaubs ein blaues Auge hatte und wir auf der Heimfahrt einen Abdeckstift kaufen mussten, damit nur ja niemand aus der Verwandtschaft oder sonst jemand etwas mitbekam. Puh, bei diesen Erinnerungen wird es mir ganz komisch. Es erscheint alles so unwirklich und doch weiß ich, dass das wirklich passiert ist und einen Einfluss auf meine Entwicklung hatte. Ich will auf keinen Fall so werden wie meine Eltern. Weder so gewalttätig und eiskalt, noch will ich mich in einer Partnerschaft so behandeln lassen.


Viele dieser Erinnerungen an meine Kindheit kann ich in der Einzeltherapie abgeklärt und emotionslos erzählen. Meine Therapeutin sagt, dass dies mein Weg sei, damit klarzukommen. Die Essstörung bedeutet für mich eine Möglichkeit der Verarbeitung. In der weiteren Therapie soll es vor allem darum gehen, den Zugang zu meinen Gefühlen wieder zu finden und auch herauszufinden, was hinter der Angst vor dem Zunehmen steckt. Was bedeutet die Gewichtszunahme denn für mich? Ist es die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren? Ich klammere mich so sehr an mein niedriges Gewicht, als wäre ich mit mehr Kilos nicht mehr begehrenswert und minderwertig.

Neben der Einzeltherapie beginnen nun auch verschiedene Gruppen wie die Depressionsbewältigungstherapie oder die Essstörungsbewältigungstherapie. Die Kurse sind anstrengend und fordern mich sehr. Es geht darum, die Ursachen der Krankheit zu erforschen, Auslöser zu erkennen und Strategien zu finden, die schwierige Situationen bewältigen helfen. Meist kommt heraus, dass wir Kranken nicht mit unseren Gefühlen umgehen können oder sogar gar nichts empfinden können. Um dieser Abstumpfung entgegenzuwirken, suchen wir nach Möglichkeiten, uns wieder zu spüren und auszudrücken. Eine andere Theorie ist die des Kontrollieren-Wollens. Das bedeutet, dass wir als klassische Perfektionistinnen die Kontrolle über unser Leben behalten oder zurückerlangen wollen, indem wir die Kontrolle über unser Gewicht gewinnen. Was neben den ganzen Therapien stattfindet, hilft mir mindestens genau soviel. Nach Silvester genieße ich das Beisammensein mit meinen Mädels in der Klinik sehr. Ich lerne die 17jährige Julia besser kennen und wir unternehmen gemeinsame Spaziergänge ins Dorf. Auch ihre Geschichte ist nicht einfach: aus einer überbehüteten Familie stammend hat sie eine Magersucht entwickelt. Sie ist extrem perfektionistisch und selbstkritisch. Wir verstehen uns sehr gut und ich finde sie total süß, möchte eine Art Vorbild für sie sein. Außerdem entwickelt sich eine großartige Freundschaft mit Daniela, die seit Jahren mit Bulimie zu kämpfen hat. Wenn man sie so kennenlernt, würde man niemals auf die Idee kommen, dass sie ein Problem mit ihrem Körper haben könnte. Sie wirkt wahnsinnig stark und selbstbewusst. Mit ihr kann ich viele ungezwungene Momente erleben. Gerade waren wir noch in der Kneipe gegenüber, im König Ludwig (genannt KL) ein Bier trinken. Das Quatschen und Herumblödeln mit ihr tut so gut, da kann ich mal den ganzen Ernst des Lebens ausblenden. Ich bin so froh, dass wir uns hier am Chiemsee gefunden haben! Im Moment fühl ich mich wirklich glücklich, ich wünschte, diese Zeit fernab der Realität würde niemals enden...

Doch leider muss ich mich auch noch mit den Vorgängen in der echten Welt auseinandersetzen. Der 50. Geburtstag meiner Mutter steht bevor. Dieses Ereignis setzt mich unter Druck. Das ist eine große Familienfeier, die „man“ eben feiern muss - im Kreis der gesamten Familie. Wie es mir dabei geht oder wie schwierig die Situation im Gasthaus mit Unmengen an Essen ist, kann meine liebe Mutter natürlich nicht sehen. Für sie geht es wie immer nur um ihr persönliches Schicksal. Es ist ihr Geburtstag und da habe ich natürlich dabei zu sein. Schlimm genug, dass ich bereits über Weihnachten in der Klinik war und meinen Aufenthalt dort nicht mal verheimlicht habe. Was sollen denn die Leute denken? Na gut. Da muss ich wohl durch. In mehreren Gesprächen mit meiner Therapeutin bereite ich mich auf die Heimfahrt vor und übe mögliche bevorstehende Situationen sogar im Rollenspiel in der Gruppentherapie. Auf Andi freue ich mich ja – zumindest rede ich mir das ein. Am Samstag ganz früh geht es los: ich fahre mit dem Zug bis in die nächstgrößere Stadt und treffe mich dort mit Andi. Wir gehen etwas bummeln, verstehen uns gut und dann beginnt auch schon die Feier. Es verläuft, wie ich schon vorher wusste: viele Oberflächlichkeiten und Essen, aber auch ein sehr gutes Gespräch mit meiner Patentante. Diese war die Einzige in meiner Familie, die Bescheid wusste, wie es mir wirklich geht. Zu ihr habe ich großes Vertrauen und ich weiß, dass ich mich bei ihr nicht verstellen muss. Ein tolles Gefühl! Nach vielen Gesängen und viel zu viel Essen verabschiede ich mich gemeinsam mit Andi, den Rest des Abends wollen wir zu zweit in seiner Wohnung verbringen. Trotz der üblichen Proteste, ich solle doch noch etwas länger bleiben, machen wir uns schließlich auf den Heimweg. Das war wirklich wieder einmal eine Herausforderung, die ich aber gut gemeistert habe! Ein wichtiger Schritt in Punkto Selbstfürsorge.

Am nächsten Tag setze ich mich wieder in den Zug zurück in die Klinik. Während der Fahrt denke ich viel nach und bin erleichtert, dass es wieder zurück in meine geschützte Parallelwelt geht. Ich bin für das „normale“ Leben da draußen noch nicht bereit. Erschöpft komme ich am Abend auf meiner Station bei meinen Mädels an. Ich freue mich so, sie alle wiederzusehen und genieße den Abend mit Daniela & Co. in der Kanzel. Es zählt nur der Augenblick und ich verschwende keinen Gedanken mehr an die Waage, die mich morgen früh erwartet.

Ich will brennen

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