Читать книгу Ich will brennen - Jasmin Winter - Страница 4
Kapitel 2
Оглавление„I am beautiful, no matter what they say!“ - Christina Aquilera
Die nächsten Tage in der Klinik plätschern ruhig dahin, schließlich ist es kurz vor Weihnachten und das Personal läuft auf Sparflamme. Auf dem Programm stehen ausnahmslos die Mahlzeiten, beginnend mit dem Frühstück. Dabei wird streng überwacht, dass jede die erforderliche Menge (zwei Semmeln mit Butter und Belag) zu sich nimmt. Das Mittagessen wird bereits portioniert an den Platz gebracht und es ist bei einigen stark untergewichtigen Mädchen sogar erwünscht, dass sie Nachschlag verlangen. Auch die Nachspeise, meist ein Pudding mit sehr unangenehmer Konsistenz, bei dem mir schon übel wird, wenn ich nur daran denke, muss zumindest mit drei Löffeln probiert werden. Ich halte mich an die Regeln, nehme mir aber fest vor, niemals Nachschlag zu verlangen und vom ekligen Pudding nie mehr als zwingend erforderlich zu essen. Abends läuft es dann ähnlich wie beim Frühstück, nur dass es statt zwei Semmeln nun drei Brote (bei neuen Patientinnen sind vorerst auch zwei Brote erlaubt) mit Belag sind. Da es sonst keine anderen Termine gibt, bleibt viel Zeit zum Grübeln. Wo stehe ich gerade in meinem Leben?
Rückblick
Nach dem Abitur 2005, also vor gut drei Jahren, bin ich nach Hannover gezogen und habe mein Studium begonnen: Pädagogik und Soziologie. Ich bin eine fleißige und zuverlässige Studentin und hatte eigentlich auch vor, meinen Abschluss vor Ablauf der Regelstudienzeit zu schaffen. Das kann ich nun auf Eis legen, weil ich hier in der Klinik bin, was als Urlaubssemester wegen Krankheit gilt. Während der Semesterferien habe ich Praktika absolviert, um mich von meinen immer stärker werdenden Depressionen abzulenken. Es fehlt nur noch meine Magisterarbeit und die Prüfung, dann wäre ich fertig. Es ärgert mich sehr, dass ich so kurz vor dem Ziel nun eine Zwangspause einlegen muss. Aber Andi und dessen Mutter haben mich quasi erpresst. Im Laufe meiner Beziehung mit Andi hat sich meine Essstörung manifestiert, was sicher auch damit zusammenhängt, dass in meiner eigenen Wohnung mein Essverhalten von niemandem kontrolliert wurde. In den letzten Wochen und Monaten war es wirklich so schlimm, dass sich alle meine Gedanken nur noch um Essen drehten: „Woher bekomme ich viel Essen für möglichst wenig Geld? Was esse ich wann? Wann habe ich „Zwangs-Esspause“, weil ich die Pille nehme und mich die Stunden danach nicht übergeben darf? Was ist eine normale Portion, die ich in der Öffentlichkeit vor anderen essen darf?“ Zudem stellte ich mich nach jeder Mahlzeit auf die Waage, um sicher zu gehen, dass ich nicht zugenommen hatte. Dieses Spiel „Essen - Wasser trinken - Kotzen - Wiegen - Wasser trinken - Kotzen - Wiegen“ beschäftigte mich den ganzen Tag bis zur völligen Erschöpfung. Klar muss das aufhören! Aber trotzdem wollte ich zuerst mein Studium beenden. Doch diese Wahl ließen mir die beiden (Andi und seine Mutter) nicht. Auf der Feier von Andis 30. Geburtstag im August setzten sie mir das Messer auf die Brust: Entweder ich lasse mir jetzt helfen oder sie werden meine Eltern über meinen Zustand informieren. Puh, Horror! Meine Eltern sollten natürlich auf keinen Fall etwas von meinen Problemen mitbekommen, das würden sie sowieso nicht begreifen können und – was viel ausschlaggebender als Verständnis ihrerseits ist – was würden denn da die Nachbarn denken? Das geht doch gar nicht! Die gute heile Familie, in der alles in Ordnung ist und dann so was! Die Tochter in einer Klinik? Nein, niemals!
So war das. Psychische Probleme existierten in meiner Familie nicht. Dabei gab es inzwischen allen Grund dazu, sich damit auseinander zu setzen. Ich war zum Zeitpunkt meiner Abiturprüfungen sehr instabil und wusste mit dem Druck und sämtlichen anderen Belastungen nicht mehr anders umzugehen als mich selbst zu verletzen. Lange habe ich versucht meine Schnittwunden zu verstecken, doch es wurde Sommer und meine Eltern konnten schließlich Blicke auf meine Arme und Beine erhaschen. Von seitens meiner Mutter kam nie eine Reaktion, wohingegen mich mein Vater zum Gespräch zitierte. Ich solle doch damit wieder aufhören und auch die Tabletten (Antidepressiva, die ich mir heimlich vom Neurologen und Psychiater meines Vertrauens habe geben lassen) nicht mehr nehmen. Keine Fragen, kein Interesse, wieso ich das tat, wie es dazu gekommen ist. Es zählte nur der äußere Schein. Also hörte ich damit auf. Aus Angst vor meinem Vater. Besser ging es mir dadurch natürlich nicht. Im Gegenteil! Es war mein Ventil gewesen, das mir Erleichterung schaffte. Ein tiefer Schnitt mit der Rasierklinge, dann das fließende Blut und der Adrenalinstoß mit dem Schmerz und ich fühlte mich lebendig. Am liebsten zelebrierte ich meine Selbstverletzung – auch Ritzen genannt – in der Badewanne, wo sich das Wasser dann langsam rot färbte und das heiße Wasser in den frischen Wunden noch einmal zusätzlich schmerzte. Aber nun tat ich das nicht mehr, das Ritzen war Vergangenheit und somit hatte ich keine sichtbaren Wunden mehr, also ging es mir wieder gut. So ist das in unserer Gesellschaft.
Eine weitere Geschichte, die eindeutig auf psychische Krankheiten in unserer Familie hinweist, war mein Cousin. Dieser hatte bereits im Alter von 19 Jahren versucht sich das Leben zu nehmen, indem er sich zu viel (oder zu wenig?) Insulin spritzte. David war Diabetiker und wurde zum Glück zufällig am Morgen noch rechtzeitig gefunden. Dass dies ein Suizidversuch war, wurde natürlich vertuscht und nicht thematisiert. Stattdessen tat man das als Unfall ab und ging nicht mehr weiter darauf ein. Von nun an nahm er Medikamente und war besonders gut drauf. Er lebte noch weitere 4 Jahre, bis es dann bei seinem zweiten Versuch geklappt hat. Die ganze Familie fiel aus allen Wolken, als wir erfuhren, dass sich mein 23jähriger Cousin vor einen Zug geworfen hatte. Auch bei mir löste diese Nachricht im Januar dieses Jahres eine Verschlechterung meines Zustandes aus. Ich konnte nicht mehr weinen und war von nun an gleichgültig und verschlossen und verlor mich immer weiter in meiner Depression und Essstörung. Psychische Probleme existierten also sehr wohl in unserer Familie, doch was sollte noch alles passieren, damit diese wahrgenommen werden?
Heute
Durch meine – wenn auch nicht ganz freiwillige – Entscheidung, mir in einer psychosomatischen Klinik helfen zu lassen, habe ich das Muster durchbrochen. Das Bild der heilen Familie ist nun gänzlich zerstört. Ich bin nun also die sichtbar gewordene Störung. Ich bin nicht normal und ich will, dass alle das sehen können. Dennoch ist es aber an der Zeit, etwas zu ändern und neu zu beginnen. Davor habe ich Angst, weil das auch bedeutet, dass ich irgendwann wieder Verantwortung für mein Leben übernehmen muss. Dieses Nichts-Tun nervt unglaublich. Ich muss das Wochenende abwarten, bis wieder Termine (außer Essen) auf dem Plan stehen. Andererseits bin ich auch so froh, hier zu sein. Endlich muss ich nicht mehr funktionieren und etwas leisten. Außerdem kann ich Abstand bekommen und mich um mich kümmern. Wer bin ich wirklich und was brauche ich jetzt? Bin ich auf dem richtigen Weg oder muss ich mich völlig neu orientieren? So viele Fragen, die sich hoffentlich in den nächsten Einzeltherapiesitzungen klären lassen.