Читать книгу Ich will brennen - Jasmin Winter - Страница 7
Kapitel 5
Оглавление„This is just a Punk Rock Song!“ - Bad Religion
Die Waage am nächsten Morgen verschont mich: seit dem letzten Mal Wiegen habe ich 300 Gramm abgenommen. Ich bin erleichtert, weil ich nun weiß, dass die Gewichtszunahme nicht ewig unkontrolliert weitergeht. Aber natürlich ist mir klar, dass ich noch nicht am Ziel bin und mein Gewicht weiter steigern muss, wenn ich wieder gesund werden möchte.
Weil ich mich hier in der Klinik so wohl fühle und das Leben außerhalb überhaupt nicht vermisse, kommt es immer öfter zum Streit mit meinem Freund Andi. Er ist verletzt, wenn ich sage, dass ich jetzt endlich wieder glücklich bin. Zum Streiten fehlt mir aber wirklich die Kraft, ich bin hier, weil ich krank bin und Hilfe brauche. Ich fühle mich unverstanden von ihm, er fühlt sich nicht verstanden von mir und so geraten wir immer wieder am Telefon aneinander. Ich beginne zu grübeln und stelle unsere Beziehung immer mehr in Frage. Bin ich überhaupt noch glücklich mit ihm? Er hat mir wirklich eine Zeit lang gutgetan. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das schon sehr lange her. Zu Beginn unserer – hmm, wie soll ich es nennen? - Affäre, Liebschaft oder was auch immer, ging es mir auch nicht gut. Ich zweifle und stelle mir vor, wie mein Leben aussehen könnte, wenn ich noch mit meinem vorherigen Partner Vincent zusammen wäre. Mein Vincent, mein Vince-Schatz. Ich habe ihn wirklich von ganzem Herzen geliebt und tue es irgendwie immer noch. Vielleicht war die Beziehung mit Andi ein Fehler. Aber Vincent wird mir das alles nie verzeihen und ich kann es sogar verstehen. Aber wie kam es eigentlich so weit, dass wir uns letztendlich trennten?
Rückblick
Angefangen hatte Vincents und meine gemeinsame Geschichte als ich gerade einmal 16 Jahre alt war. Ich hatte sehr wenig Selbstbewusstsein und stand zu dieser Zeit total im Schatten meiner damaligen besten Freundin Miri. Was ich zu der Zeit nicht wusste: ich wurde auch tatsächlich so genannt: „der Schatten von der Miri“. Als ob ich kein eigenständiger Mensch mit Wünschen, Träumen und Bedürfnissen wäre. Auf jeden Fall hatte besagte Miri seit einigen Monaten einen Freund, was unsere bis dahin innige Freundschaft stark beeinträchtigte. Dennoch profitierte ich auch davon, denn oft nahmen sie mich mit. Ihr Freund Markus war bereits 18 und hatte ein eigenes Auto. So lernte ich im Dezember, als ich 15 war, mein geliebtes Happy Rock kennen. Die berühmt-berüchtigte Diskothek am Stadtrand, in der sich noch viele Dramen meines Lebens abspielen sollten. Jedenfalls war Markus Mitglied in einer Band, der auch ein sehr attraktiver Schlagzeuger mit Dreadlocks angehörte. Nachdem ich mir schon Fotos im Internet angesehen hatte und von diesem mysteriösen interessanten Typen geträumt hatte, nahm uns Markus endlich einmal mit zu einer Bandprobe in Vincents Wohnung. Ich habe ihn nur fasziniert beobachtet und es war klar: dieser Wahnsinns-Mann ist absolut unerreichbar für jemanden wie mich. Ich war doch eine kleine graue Maus, die keinem besonders auffiel. Alle interessierten sich für Miri, auch wenn ich nicht erkennen konnte, was sie so viel besser oder attraktiver als mich machte. Schließlich war ich definitiv schlanker als sie und meiner Meinung nach insgesamt auch hübscher. Außerdem hatte Vincent sowieso bereits eine Freundin. Damit erledigte sich die Spinnerei für mich vorerst und ich vergaß ihn wieder. Mein Leben zeigte sich auch so gerade von der wilden Seite mit diversen Sturmfrei-Partys und unerlaubten Happy Rock Besuchen. Ich hatte angefangen zu leben - ohne Rücksicht auf Verluste. Durch viele Kränkungen in der Vergangenheit war ich bereits richtig abgebrüht. Auf der einen Seite war ich eine gute, brave Schülerin, die noch nie wirklich etwas angestellt hatte, auf der anderen Seite kam die Abenteuerlust und ich wollte endlich etwas erleben. Meine Gefühle hatte ich bereits abgestellt, weil diese sowieso nie erwidert wurden und ich ging dazu über, Party zu machen: weggehen, betrinken, wahllos herumknutschen, alles selbstverständlich ohne Gefühle und Erwartungen. Inzwischen fiel mir das nicht mehr schwer.
Der erste Höhepunkt meiner wilden Zeit spielte sich in einer Woche in den Osterferien ab, als ich 16 Jahre alt war. Zum ersten Mal erlaubten mir meine Eltern, dass ich alleine zu Hause bleiben durfte und nicht mit nach Frankreich zum Skifahren musste. Ich verbrachte diese Woche vor allem mit meiner besten Freundin Miri und ihrem Freund Markus. Wir feierten wilde Partys bei mir zu Hause, nachdem wir noch einen Ex-Knacki (Dani) aus dem Happy Rock aufgegabelt hatten. Diesen fand eigentlich Miri süß, aber da sie vergeben war, hatte ich ihn abbekommen. Was sich jetzt aber schlimmer anhört als es tatsächlich war. In Wahrheit war das eine sehr unschuldige Geschichte mit Kuscheln und Knutschen. Ich gab mich zwar nach außen hin hart und wild, war aber innerlich weiterhin schüchtern und auf dem Gebiet der Intimität nach wie vor unerfahren. Mein Selbstbewusstsein profitierte aber dennoch davon: ein älterer, attraktiver Typ zeigte Interesse an mir! Am Ende dieser Woche stand der 21. Geburtstag von Vincent an, zu dem wir eingeladen waren. Markus, Miri, ich und besagter Dani, der übrigens bereits 23 war; damals für mich quasi uralt. Das wichtigste an diesem Abend war für mich, den tollen Vincent zu bewundern. Der Geburtstagsumarmung habe ich sehr entgegengefiebert und auch die Gespräche waren schön. Aber er hatte ja zu diesem Zeitpunkt eine Freundin und ich war mit meinem 23-jährigen Ex-Knacki da. Irgendwann habe ich mir mit Miri so richtig die Kante gegeben. Unser gemeinsamer Tequila-Absturz an diesem Abend sorgte noch lange für Gesprächsstoff. Ein Freund von Vincent schenkte uns einen Kurzen nach dem anderen ein, die wir ohne viel nachzudenken einfach hinunterstürzten. Dieser Freund und wir beide trafen uns dann wieder im Badezimmer, um uns zu übergeben. Gleichzeitig hingen wir alle drei über Kloschüssel, Badewanne und Waschbecken. Was musste das für ein grandioses Bild gewesen sein! Außerdem habe ich auf dieser Party auch zum ersten Mal Bong geraucht. Ich war sehr stolz auf mich, dass ich diese wichtige Hürde für mein neues Rebellen-Leben so gut gemeistert habe! Völlig erschöpft fiel ich auf dem Wohnzimmerboden von Vincent – in den Armen von Dani – in einen unruhigen Halbschlaf. Wie im Delirium höre ich noch Gesprächsfetzen der anderen Partygäste: „Ja! Schon krass: 15 Tequila! Und auch das erste Mal gekifft.“
Die nächste Woche habe ich versucht, mit Dani eine „Beziehung“ zu führen. Im Nachhinein betrachtet erscheint das Ganze völlig lächerlich. Er hat mich nie wirklich interessiert, war vielmehr ein Symbol geworden gegen meine Eltern, gegen Miri und überhaupt für meine Freiheit. Ein paarmal haben wir uns getroffen und dann kam der Kontakt auch nicht mehr zu Stande. Die nächste Geburtstagsfeier im Freundeskreis fand dann auch schon ohne Dani statt. Dafür war aber Vincent dabei und ich fing wieder an, für ihn zu schwärmen. Es war ein schöner Abend und wir haben dann zu viert ein Zimmer geteilt: Miri und Markus im Bett, ich und Vincent auf der Schlafcouch. Puh, war ich aufgeregt! Wir haben uns sehr angestrengt, uns nicht in die Quere zu kommen und am nächsten Morgen haben wir uns auch noch alleine unterhalten. Sehr harmonisch und ich total geflasht: sein Oberkörper mit den Tattoos, die Dreadlocks, seine Piercings... ich war hin und weg!
Aber dann zu Hause angekommen, sollte sich einiges ändern. Meine Eltern hatten die Geschichte mit der Sturmfrei-Party in den vergangenen Ferien herausgefunden. Aufgeflogen war das Ganze, weil zwei dumme Freundinnen meines Cousins in der Küche mit rohen Eiern geworfen hatten. Die Spuren hatten sich nicht vollständig beseitigen lassen und führten nun dazu, dass alles ans Licht kam. Mein Vater bereitete mir die Hölle auf Erden. Das erste und einzige Mal in meinem Leben hatte ich Hausarrest und wurde gedemütigt. Ausgestoßen als schwarzes Schaf der Familie. Er nötigte mich sogar, einen ausführlichen Bericht über meine Woche allein zu Hause zu verfassen. Ohne Lügen und mit allen Details. Sollte er bekommen. Es schien ihm aber dennoch zu harmlos und meine Eltern hackten immer wieder darauf herum, dass man es überprüfen könne, ob ich noch Jungfrau sei. War ich übrigens auch noch. Zu guter Letzt wurde mir mein Handy abgenommen. Das war erst einmal das Ende meiner Sozialkontakte, ich isolierte mich und lebte zurückgezogen – die Ausnahme bestand im Gang zur Schule, denn da musste ich schon noch hin.