Читать книгу Ich will brennen - Jasmin Winter - Страница 5
Kapitel 3
Оглавление„I´m Mrs. she´s too big, now she´s too thinn.“ - Britney Spears
Nachdem das erste Wochenende in der Klinik geschafft ist, läuft langsam mein Alltag für die nächsten Monate an. Montags findet nach dem Frühstück immer die Stationsversammlung in der Kanzel, wie die gemütliche Sitzgruppe auf unserer Station genannt wird, statt. Dort sitzen wir alle gemeinsam auf den großen Eckbänken, die Ärzte, Therapeuten und Pfleger auf Stühlen uns gegenüber und wir besprechen den Verlauf der letzten Woche. Es geht ganz schön zur Sache und wer es nicht schafft, über oder zumindest auf seiner Gewichtskurve zu liegen, muss sich hier vor allen dazu äußern. Nach dem Mittagessen habe ich meine erste Gruppentherapie. Alles ist aufregend und neu, ich lerne langsam meine Mitpatientinnen und meine Mitpatienten kennen. Es gibt viel Erschreckendes zu sehen. Zum ersten Mal begegne ich Mädchen, die unter 40 Kilo wiegen, mit einem BMI von 13 und zwei werden sogar mit einer Magensonde ernährt, die über einen Schlauch durch die Nase die Kalorien direkt in den Magen transportieren. Der Schritt vor der Magensonde ist das Einnehmen eines hochkalorischen Getränks, das auch manche mehrmals täglich trinken müssen. Ich komme mir im Vergleich dazu so gar nicht krank vor, was mich fast etwas enttäuscht, weil ich auch das nicht richtig geschafft habe. Da sind tatsächlich andere, die die Essstörung um Welten besser perfektioniert haben als ich! Vielleicht verstehe ich mich deshalb besonders gut mit der Gruppe, die zeitgleich mit mir angekommen ist. Liane, Daniela und Laura sind alle nicht (mehr) anorektisch und wir sind uns eine gute Stütze, leiden und lachen gemeinsam.
Nach der Gruppentherapie werde ich zum EKG gerufen, meine Werte sind nicht in Ordnung. Ich erfahre, dass ich Kaliummangel habe und nun täglich Brausetabletten nehmen muss. Kaliummangel kann laut Ärztin dazu führen, dass mein Herz versagt und ich einfach tot umfalle. Etwas mulmig wird mir bei dem Gedanken schon: ich habe mit meinem Leben gespielt! Durch die Mangelernährung und die Bulimie habe ich meinen Elektrolythaushalt derart durcheinandergebracht, dass ich hätte sterben können. Nun bin ich erleichtert und froh, dass ich hier angekommen bin und mir endlich helfen lasse. Nach meiner ersten Einzeltherapie verfalle ich in richtige Hochstimmung: es kann mir gar nicht schnell genug gehen. Endlich kann ich mit jemandem über alles sprechen. Ich möchte gesund werden und bemühe mich auch um die Erlaubnis, schwimmen gehen oder mich anderweitig sportlich betätigen zu dürfen. So groß ist meine Angst, dass ich unkontrolliert zunehme. Auf der einen Seite möchte ich ja gesund werden und diese ganze Essproblematik endlich hinter mir lassen, andererseits will ich dabei schlank bleiben. Also warum fange ich nicht gleich damit an und stähle meinen Körper! Hihi, da muss ich wirklich selbst lachen! Ich bekomme die Erlaubnis, zunächst zweimal wöchentlich 15 Minuten schwimmen zu gehen – wegen meines noch zu niedrigen Body-Mass-Index´. Aber der Anfang ist gemacht und ich bin wirklich motiviert.
Doch meine gute Stimmung hält nicht lange an. Mit der Einnahme der Antidepressiva habe ich erst begonnen, da dauert es noch mindestens zwei Wochen, bis die Wirkung einsetzt. Außerdem steht Weihnachten vor der Tür. Den heiligen Abend verbringe ich allein in meinem Zimmer und mit einem kurzen Spaziergang am See. Abends sitzen die letzten verbliebenen Mädchen bei entspannter Stimmung in der Kanzel. Ich bin froh, dass ich hier sein kann und mich nicht verstellen muss. Hier kann ich so sein, wie ich bin, ich muss nicht funktionieren. Weihnachten zu Hause bedeutet vor allem viel Stress. Wer verhält sich nicht richtig, wer sagt das Verkehrte, habe ich in der Kirche vielleicht einmal mit den Augen gerollt? So viel Druck und Äußerlichkeiten. Andererseits werde ich auch etwas wehmütig, weil ich die Rituale trotz allem vermisse.
Rückblick
Seit frühster Kindheit an verlief bei uns der Heilige Abend nach dem gleichen Muster. Am Nachmittag wurde der Baum geschmückt und dann fuhren wir gemeinsam in die Kirche. Früher habe ich im Kinderchor und dann in der Jugendkantorei gesungen, genau wie meine Mutter auch schon in ihrer Jugend. Danach warteten wir in unseren Kinderzimmern gemeinsam mit Oma und Tante Lina. auf die Bescherung. Diese wurde dann durch das Klingeln der Glocke verkündet. Voller Vorfreude auf die Geschenke gingen mein Bruder und ich die Treppe ins Wohnzimmer hinunter, welches im Glanz des Kerzenlichtes erstrahlte. Wir sangen gemeinsam einige Weihnachtslieder und packten dann die Geschenke aus. Nach dem Essen widmeten wir uns unseren neuen Spielzeugen, Computerspielen usw., während die Erwachsenen noch einige Gläschen alkoholische Kaltgetränke zu sich nahmen, bis mein Vater schließlich auf der Couch einschlief und meine Mutter unsere Gäste nach Hause fuhr.
Heute
Ich bin sehr erleichtert, dass das alles dieses Jahr ohne mich stattfindet und ich hier in der Klinik am Chiemsee in Sicherheit vor dieser anstrengenden Außenwelt bin. Doch schon am 1. Weihnachtsfeiertag werde ich frühmorgens auf der Waage aus meiner schönen heilen Welt gerissen. Die Waage zeigt 44 Kilo, das sind 2,1 Kilo mehr als beim letzten Mal und bedeutet natürlich den absoluten Weltuntergang für mich. Ich male mir aus, wie dick ich wohl werde, wenn ich in diesem Tempo weiter mache. Absolute Panik und das an einem Feiertag. Kein Therapeut anwesend, keine Gespräche möglich. Ich kann in meinem Zimmer sitzen oder am See spazieren gehen. Bis auf meine Mitpatientinnen bin ich völlig auf mich allein gestellt und die haben natürlich auch mit sich zu kämpfen. So ist das hier: jeder hat sein Päckchen zu tragen.
Am Nachmittag kommt mich dann Andi besuchen. Wir verstehen uns gut, tauschen Weihnachtsgeschenke aus und unterhalten uns einige Stunden, bis er schließlich wieder nach Hause fährt. Den restlichen Abend verbringe ich mit den wenigen Mädels, die wie ich über die Feiertage in der Klinik bleiben, und ich merke, dass ich deren Gesellschaft mehr genießen kann als die von Andi. Ich fühle mich frei und ungezwungen, das erste Mal seit Jahren!
Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester vergehen eher schleppend, es passiert nichts und ich bin gefrustet, weil es mir viel zu langsam geht, abgesehen von der Gewichtszunahme. Zwischen den Jahren finden keine Therapien statt. So gerne würde ich endlich alles anpacken und vorankommen. Ein weiteres Ereignis ist der Silvesterabend. Diesen möchte ich gerne zu Hause verbringen. Die Vorbereitungen für die erste Heimfahrt seit meinem Klinikaufenthalt wühlen mich auf und ich stehe dem Ganzen zwiespältig gegenüber. Letztendlich organisiere ich die Zugfahrt und versuche dann in der kurzen Zeit meines Aufenthalts, möglichst viele Menschen zu sehen. Andi holt mich vom Zug ab und wir treffen uns in Amberg in einer Kneipe mit guten Freunden (Caro und Leif), schauen im Anschluss kurz im Jugendtreff der Stadt vorbei und fahren dann nach Hause. Wie jedes Jahr zu Silvester gibt es Raclette und ich komme erstaunlich gut zurecht mit dem Essen. Kurz vor Mitternacht besuchen wir dann die Geschwister von Andi und feiern dort das neue Jahr. Am Neujahrstag machen wir zunächst einen Abstecher zu seinen und dann zu meinen Eltern und endlich geht es für mich wieder zurück in meine wohlbehütete Käseglocke. Ich bin unendlich froh, wieder zurück in meinem Zimmer zu sein und merke, dass mir der ganze Stress da draußen in der „echten“ Welt viel zu viel ist und es noch dauern wird, bis ich bereit bin, mich dem zu stellen.