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Vierter Brief.
Julie an Clara.

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Inhaltsverzeichnis

O, meine Theure! in welcher Verwirrung hast du mich gestern Abend zurückgelassen! und was für eine Nacht habe ich damit hingebracht, über diesen unseligen Brief zu grübeln! Nein, nie hat eine gefährlichere Versuchung mein Herz angefallen, nie habe ich eine ähnliche Aufregung gefühlt und nie weniger Möglichkeit vor mir gesehen, mich von ihr zu befreien. Sonst lenkte wohl ein Strahl von Klugheit und Vernunft meinen Willen; bei jeder Gelegenheit prüfte ich zuerst, was wohl das Rechte zu thun wäre, und that danach. Jetzt, in meiner Erniedrigung und stets besiegt, schwanke ich nur zwischen widersprechenden Leidenschaften hin und her: mein schwaches Herz hat nur noch unter seinen Vergehungen die Wahl, und meine klägliche Blindheit ist so groß, daß, wenn ich zufällig auch das Bessere wähle, ich mich doch dabei nicht von der Tugend geleitet weiß, und nicht weniger Gewissensbisse fühle. Du weißt, wen mir mein Vater zum Gatten bestimmt; du weißt, welche Bande meine Liebe geknüpft hat. Will ich tugendhaft sein, so legen mir hier der Gehorsam, dort die Treue entgegengesetzte Pflichten auf. Will ich dem Hange meines Herzens folgen, wem soll ich den Vorzug geben, meinem Geliebten oder meinem Vater? Ach, gehorche ich der Liebe oder der Natur, immer muß ich Einen von Beiden in Verzweiflung stürzen; ich kann mich nicht der Pflicht opfern, ohne ein Verbrechen zu begehen, und wie ich mich entscheide, immer werde ich unglücklich und strafbar zugleich untergehen.

Ach, theure, zärtliche Freundin, du, die du immer meine einzige Zuflucht warst, die du mich so oft von Tod und Verzweiflung errettet hast, sieh jetzt den schrecklichen Zustand meiner Seele an, und sieh, ob mir deine Hülfe und Beistand je nöthiger gewesen. Du weißt, ob ich auf dich höre, ob ich deinem Rathe folge; du hast gesehen, ach, auf Kosten meines Lebensglückes, ob ich den Zurechtweisungen der Freundschaft mich unterwerfe. Laß dich nun auch die Kraftlosigkeit dauern, in welche du mich versetzt hast; vollende, da du begonnen hast; hilf meinem gebeugten Muthe auf; denke für Die, die nur noch durch dich denkt. Genug, du liesest in diesem Herzen, das dich liebt; du kennst es besser, als ich es kenne. Lehre mich daher verstehen, was ich will, und wähle an meiner Statt, da ich keine Kraft mehr, zu wollen, keinen Sinn mehr, zu wählen habe.

Lies nochmals den Brief dieses großmüthigen Engländers, lies ihn tausendmal, mein Engel! Ach, laß dich rühren von dem reizenden Gemälde des Glückes, das mir Liebe, Friede, Tugend noch verheißen können! Süße, entzückende Vereinigung der Seelen, unaussprechliche Wonne, sogar unter Gewissensbissen! Gott! was wäret ihr meinem Herzen im Schooße der ehelichen Treue! Wie! Glück und Unschuld ständen noch in meiner Macht! Wie! ich sollte vergehen vor Liebe und Freude zwischen einem angebeteten Gatten und den theuern Pfändern seiner Zärtlichkeit!

.... Und ich nehme auch nur einen Augenblick Anstand, und ich fliege nicht, meinen Fehltritt in den Armen Dessen wieder gut zu machen, um dessen willen ich ihn beging! und ich bin nicht schon ein tugendhaftes Weib und eine keusche Mutter! .... Ach! warum können nicht die Urheber meiner Tage mich aus meiner Erniedrigung aufstehen sehen! warum können sie nicht Zeugen sein von der Art, wie ich meinerseits die heiligen Pflichten erfüllen will, welche sie gegen mich erfüllt haben! .... Und die deinigen, undankbare, unnatürliche Tochter, wer wird deine Pflichten bei ihnen erfüllen, während du sie vergissest? Den Dolch in den Busen einer Mutter stoßend, willst du dich vorbereiten, Mutter zu werden? Will Die, welche ihre Familie entehrt, ihren Kindern lehren, die ihrige ehren? Würdiger Gegenstand der blinden Zärtlichkeit eines Vaters und einer abgöttischen Mutter! gieb sie doch preis der Reue, dich in die Welt gesetzt zu haben; häufe doch auf ihre alten Tage Schmerz und Schande .... und genieße, wenn du kannst, eines Glückes um diesen Preis erkauft.

Mein Gott! welche Schrecken umringen mich! Heimlich sein Vaterland verlassen, seine Familie entehren, Vater, Mutter, Freunde, Alles verlassen, und dich selbst, dich, meine süße Freundin! dich, Geliebte meines Herzens! dich, von der ich seit meiner Kindheit kaum einen Tag lang getrennt sein kann; dich fliehen, dich verlassen, dich verlieren, dich nicht mehr sehen! …. Nein, nein! nie! .... Was für Qualen zerreißen deine unglückliche Freundin! sie fühlt zu gleicher Zeit alle die Leiden, unter denen sie die Wahl hat, ohne daß ein einziges der Güter, die ihr bleiben werden, sie zu trösten vermag. Ach! die Gedanken gehen mir aus. Dieses stete Kämpfen geht über meine Kräfte und verstört mir meine Vernunft: Muth und Besinnung zugleich sind dahin. Ich habe keine Hoffnung weiter als auf dich allein. Entweder wähle für mich oder laß mich sterben.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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