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Vierzehnter Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

[Ohne daß ich dem Urtheile des Lesers und Juliens über diese Berichte vorgreifen will, glaube ich sagen zu dürfen, daß ich sie, wenn ich sie zu machen hätte, wenn auch nicht besser, wenigstens ganz anders machen würde. Ich bin mehrmals auf dem Punkte gewesen, sie wegzulassen und andere von meiner Feder an ihre Stelle zu setzen; ich lasse sie nun aber doch und bin stolz auf diese Kühnheit. Ich sage mir, daß ein Jüngling von vier und zwanzig Jahren, der eben in die Welt tritt, diese nicht so ansehen kann wie ein Mann von Funfzigen, der sie nur zu sehr aus Erfahrung kennt. Ich sage mir ferner, daß ich, obwohl ich in ihr keine sehr große Rolle gespielt habe, doch nicht mehr in dem Falle bin, unparteiisch über sie sprechen zu können. Mögen daher diese Briefe bleiben wie sie sind, mit allen ihren Gemeinplätzen, mit allen ihren trivialen Beobachtungen; das alles ist kein großes Uebel, aber das ist dem Freunde der Wahrheit wichtig, daß bis an sein Lebensende seine Schriften nicht durch seine Leidenschaften besudelt werden.] Ich trete mit einem inneren Grauen in diese weite Wüste, die man Welt heißt. Dieses Chaos zeigt mir nichts als eine schauerliche Einöde, wo düsteres Schweigen herrscht. Meine eingeengte Seele sucht sich auszubreiten und findet sich von allen Seiten zurückgedämmt. Nie bin ich weniger allein, als wenn ich allein bin, sagte ein Alter [Scipio Africanus, S. Cie. de offic. III. 1. D. Ueb.]: auch ich, ich bin nur allein unter der Menge, wo ich weder dir noch den Andern angehören kann. Mein Herz möchte sprechen; es fühlt, daß es nicht gehört wird; es würde gern antworten, man sagt ihm nichts, das bis zu ihm dränge. Ich verstehe die Sprache hier zu Lande nicht, und Niemand versteht die meine.

Nicht, daß man mich nicht sehr höflich, sehr freundschaftlich, sehr zuvorkommend aufnähme, daß nicht alle möglichen Gefälligkeiten mir entgegenzufliegen schienen; aber das ist eben das Schlimme. Wie kann man im Augenblicke Jemandes Freund sein, den man nie gesehen hat? Die aufrichtige Theilnahme der Menschenfreundlichkeit, die schlichte, rührende Hingebung einer offenen Seele haben eine Sprache, die von den falschen Höflichkeitsbezeigungen und trügerischen Formen, die der Weltbrauch heischt, gar sehr verschieden ist. Ich habe immer Furcht, daß Der, welcher mich beim ersten Begegnen wie einen zwanzigjährigen Freund behandelt, mich nach zwanzig Jahren wie einen Unbekannten behandeln werde, wenn ich ihn etwa um einen wichtigen Dienst zu bitten habe, und wenn ich Leute, die so in Zerstreuungen leben, zärtlichen Antheil an so vielen Personen nehmen sehe, kommt es mir immer vor, als nähmen sie ihn an keinem Einzigen.

Es ist aber dennoch etwas ernstlich Gemeintes in dem allen, denn der Franzose ist von Natur gut, offen, gastfreundlich, mildthätig; aber er macht auch tausend Redensarten, die man nicht buchstäblich nehmen muß, tausend Anerbietungen zum Schein, die nur gemacht werden, damit man sie ablehne, tausend Fallen so zu sagen, die die Höflichkeit dem ehrlichen Glauben des unpolirten Menschen stellt. Nie habe ich so oft sagen hören: zählen Sie aus mich vorkommenden Falles, verfügen Sie über meinen Einfluß, meine Börse, mein Haus, meine Equipage. Wäre das alles aufrichtig gemeint und wörtlich zu nehmen, so gäbe es kein Volk, das weniger am Eigenthume hinge; es wäre hier fast Gütergemeinschaft eingeführt; indem der Reichere immer gäbe und der Aermere immer annähme, würde sich Alles auf die natürlichste Weise ebnen und Sparta selbst hätte keine so gleichmäßige Vertheilung gehabt, als sie sich in Paris fände. Statt dessen giebt es vielleicht keine Stadt, wo die Glücksgüter so ungleich ausgetheilt wären und so hart neben dem üppigsten Wohlstande das kläglichste Elend herginge. Mehr braucht es nicht, um einzusehen, was es auf sich hat mit diesem zur Schau getragenen Mitgefühle, das dem fremden Bedürfnisse stets entgegenzukommen scheint, und mit dieser immer bereiten Herzlichkeit, die im Augenblicke ewige Freundschaft schließt [Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 2 S. 113-114.].

Statt solcher zweideutigen Gesinnungen und trügerischen Traulichkeit will ich Aufklärung und Belehrung suchen, man ist hier an der liebenswürdigen Quelle; ja, man ist von vorn herein bezaubert von den Kenntnissen und Einsichten, die man im Gespräche, nicht allein bei Gelehrten und Literaten, sondern bei Leuten aller Stände und selbst bei den Frauen findet: der Ton der Unterhaltung ist fließend und natürlich, weder schwerfällig noch oberflächlich, gelehrt ohne Pedanterei, munter ohne Getöse, galant ohne Fadheit, witzig ohne Zweideutigkeiten. Man spricht weder in Abhandlungen noch in Epigrammen; man begründet, ohne mühsam zu entwickeln; man scherzt, ohne in Worten zu spielen; man verbindet geschickt Leichtigkeit und Tiefe, leitende Gedanken und gelegentliche Einfälle, scharfen Spott, gewandte Schmeichelei und strenge Moral; man spricht über Alles, damit Jeder etwas zu sagen finde; man geht den Fragen nicht bis auf den Grund, um nicht zu langweilen, man wirft sie wie im Vorübergehen auf, spricht sie kurz durch; die Kürze des Ausdrucks führt zur Eleganz; Jeder sagt seine Meinung und begründet sie mit wenigen Worten; Niemand greift die Meinung des Andern mit Eifer an, Niemand vertheidigt die seinige mit Eigensinn; man discutirt, um sich aufzuklären und hält inne, ehe es zum Disput kommt; Jeder belehrt sich, Jeder ergötzt sich; Alle gehen zufrieden fort, und selbst der Weise kann aus diesen Unterhaltungen Manches mit heim nehmen, was in der Stille erwogen zu werden verdient.

Im Grunde aber, was meinst du wohl, daß man aus diesen so reizenden Unterhaltungen lerne? Sich ein gesundes Urtheil über die Dinge der Welt bilden? sich richtig in der Gesellschaft stellen? wenigstens die Leute kennen, mit denen man lebt? Nichts von dem Allen, meine Julie; man lernt, mit Kunst die Sache der Lüge führen, mittelst der Philosophie alle Grundsätze der Tugend erschüttern, mit subtilen Sophismen seine Leidenschaften und Vorurtheile beschönigen und dem Verkehrten einen gewissen Modeanstrich nach der herrschenden Denkart geben. Es ist nicht nöthig den Charakter der Leute zu kennen, sondern nur ihre Interessen, um ungefähr zu errathen, was sie zu jeder Sache sagen werden. Wenn Einer spricht, so ist es so zu sagen sein Rock, nicht er, der eine Meinung hat, und er wird damit ohne Bedenken ebenso oft wie mit seinem Staate wechseln. Gebt ihm nach einander eine lange Perrücke, dann ein Ordonnanzkleid, dann ein Brustkreuz und ihr werdet ihn nach einander mit gleichem Eifer die Gesetze, den Despotismus und die Inquisition predigen hören. Es giebt einen Menschenverstand für die Robe, einen anderen für die Finanzpartie, einen anderen für den Degen; jeder von diesen beweist aufs stärkste, daß die beiden anderen nichts taugen, woraus die Folgerung für alle drei leicht zu ziehen ist [Man muß diese Bemerkung einem Schweizer schon hingehen lassen, der bei sich zu Hause einen wohl regierten Staat sieht, ohne daß es jene besonderen Stände giebt. Wie? Kann der Staat ohne Vertheidiger bestehen? Nein! er muß wehrhaft sein, aber alle Bürger müssen Soldaten sein aus Pflicht, nicht aus Beruf. Dieselben Männer waren bei den Römern und Griechen Anführer im Felde und Staatsbeamte daheim, und nie wurden beiderlei Geschäfte besser verrichtet, als da man noch nicht die lächerlichen Standesvorurtheile kannte, welche dieselben von einander scheiden und verunehren.]. So sagt Keiner je, was er denkt, sondern nur was er Andere glauben machen will, und der vorgebliche Eifer für die Wahrheit ist bei ihnen immer nur die Maske des Interesses.

Man sollte denken, daß wenigstens einzelnstehende, unabhängig lebende Personen ihren eigenen Sinn haben werden: keinesweges! abermals Maschinen, die nicht denken, die zum Denken wie ein Uhrwerk aufgezogen werden. Man braucht sich nur nach ihren Gesellschaften, ihren Coterien, ihren Freunden, nach den Frauen, die sie besuchen, nach den Schriftstellern, mit denen sie umgehen, zu erkundigen, und man kann aufs genaueste vorhersagen, wie sie über ein Buch, das nächstens erscheinen soll und das sie nicht gelesen haben, über ein Stück, das man geben wird und das sie nicht gesehen haben, über den und den Autor, den sie nicht kennen, über das und das System, wovon sie keine Vorstellung haben, ihre Meinung abgeben werden; und gerade wie eine Uhr in der Regel nur vierundzwanzig Stunden geht, so holen sich alle diese Leute jeden Abend in ihren Gesellschaften das, was sie den folgenden Tag denken werden.

Es giebt also eine kleine Anzahl von Männern und Frauen, die für alle Anderen denken und für welche alle Anderen reden und handeln, und da Jeder nur an sein Interesse, Niemand an das gemeine Wohl denkt, die Privatinteressen aber einander immer entgegengesetzt sind, so ist es ein beständiger Zusammenstoß von Ränken und Kabalen, eine Ebbe und Flut von Vorurtheilen, widerstreitenden Meinungen, wobei die Erhitztesten, von den Anderen getrieben, fast niemals wissen, um was es sich eigentlich handelt. Jede Coterie hat ihre Regeln, ihre Meinungen, ihre Prinzipien, welche sonst nirgend anerkannt sind. Der brave Mann des einen Hauses ist im Nachbarhause ein Schuft. Gut, schlecht, schön, häßlich, Wahrheit, Tugend, Alles hat nur ein lokales und bedingtes Dasein. Wer gern viel umher ist und mehre Gesellschaften besucht, muß geschmeidiger sein als Alcibiades, die Ansichten wie die Assembleen wechseln, seinem Geist bei jedem Schritte, so zu sagen, einen andern Zuschnitt geben und seine Maximen nach der Elle abmessen; er muß bei jeder Visite seine Seele, wenn er eine hat, vor der Thüre lassen, eine andere nach den Farben des Hauses anziehen, wie ein Lakai die Livreen, um sie im Hinausgehen wieder abzulegen, und mit der seinigen, wenn er will, bis zum abermaligen Wechsel zu vertauschen.

Noch mehr. Jeder setzt sich unaufhörlich mit sich selbst in Widerspruch, ohne daß es Jemanden einfällt, Anstoß hieran zu nehmen. Man hat seine Denkungsart für die Conversation und seine Denkungsart für das praktische Leben; daß diese einander widersprechen, findet Niemand auffallend; man ist vielmehr darüber einverstanden, daß sie gar nichts mit einander gemein haben müssen; man fordert nicht einmal von einem Schriftsteller, sonderlich von einem Moralisten, daß er in Uebereinstimmung mit seinen Büchern spreche, oder daß er handle wie er spricht; seine Schriften, seine Reden, seine Ausführung sind drei völlig verschiedene Dinge, die er nicht verpflichtet ist gleichförmig einzurichten; mit einem Worte, Alles ist widersinnig und kein Mensch wundert sich darüber, weil alle Welt daran gewöhnt ist; ja es liegt sogar in solcher Haltungslosigkeit etwas von gutem Tone, so daß sie sich Manche zur Ehre rechnen. In der That, obgleich Alle eifrig ihren Stand und Beruf herausstreichen, ahmen sie doch zugleich am liebsten die Manieren eines anderen nach. Der Robenmann tritt chevaleresk auf, der Finanzmann spielt den großen Herrn, der Bischof führt galante Reden, der Hofmann spricht von Philosophie, der Staatsmann will für einen Schöngeist gelten; so geht es bis zum Handwerker herunter, der, da er keinen andern Ton annehmen kann als den seinigen, wenigstens Sonntags einen schwarzen Rock anzieht, um wie eine Gerichtsperson auszusehen. Nur die Militärs, die alle übrigen Stände verachten, behalten sans façon den Ton des ihrigen bei und sind unausstehlich aus Ehrlichkeit. Ich will nicht sagen, daß nicht Herr von Muralt [In den Lettres sur les François et les Anglois (1726. 2 Bde. in 12.), Muralt, ein Berner, starb gegen 1750. D. Ueb.] Recht hatte, ihren Umgang jedem andern vorzuziehen, aber was zu seiner Zeit wahr war, ist es heute nicht mehr. Der Fortschritt der Literatur hat den allgemeinen Ton verbessert; die Militärs allein haben nicht mit fortgehen wollen, und so ist der ihrige, der ehedem der beste war, der schlechteste geworden [Dieses Unheil, wahr oder falsch, kann nur von den Subalternen verstanden werden, und von solchen, die nicht in Paris leben; denn übrigens sind die höchsten Personen des Landes im Dienste und der Hof selbst ist ganz militärisch. Aber für die Manieren, welche man sich aneignet, macht es einen großen Unterschied, ob man in Kriegszeiten zu Felde liegt, oder ob man sein Leben in Garnisonen hinbringt.].

So sind die Leute, mit denen man zu thun hat, nicht dieselben, mit denen man sich unterhält; ihre Gesinnungen kommen ihnen nicht von Herzen, ihre Einsichten wurzeln nicht in ihrem Geiste, ihre Reden geben nicht ihre Gedanken wieder; man sieht von ihnen nichts als ihr Aeußeres und man befindet sich in einer Assemblee etwa wie vor einem Gemälde mit beweglichen Figuren, wo der ruhige Zuschauer das einzige durch sich selbst bewegte Wesen ist.

Dies ist die Idee, welche ich mir von der großen Gesellschaft, nach dem, was ich in Paris sehe, gebildet habe. Diese Idee steht vielleicht mehr in Verhältniß zu meiner besondern Lage, als zu der wahren Beschaffenheit der Dinge und würde sich ohne Zweifel, die Dinge in anderem Lichte gesehen, umgestalten. Uebrigens besuche ich nur die Gesellschaften, in die mich Milord Eduard's Freunde eingeführt haben, und ich bin überzeugt, daß man zu anderen Ständen hinuntersteigen muß, um den sittlichen Zustand eines Landes wahrhaft kennen zu lernen; denn die Sitten der Reichen sind überall so ziemlich die nämlichen. Ich werde darüber noch mehr in's Reine zu kommen suchen. Inzwischen sage, ob ich nicht Recht habe, dieses Menschengewühl eine Wüste zu nennen und vor einer Oede zu erschrecken, in welcher ich nichts gewahre, als den leeren Schein von Empfindung und von Wahrheit, welcher sich mit jedem Augenblicke wandelt und sich selbst zerstört, nichts als Larven und Spukgestalten, die einen Augenblick lang vor dem Auge stehen und, sobald man danach greifen will, verschwinden. Bisher habe ich viele Masken gesehen; wann werde ich menschliche Gesichter erblicken?

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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