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Neunzehnter Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Schilt mich, meine Julie, straf' mich, schlage mich, ich werde Alles leiden, aber ich werde nichtsdestoweniger fortfahren, dir Alles zu sagen, was ich denke. Wo soll ich alle meine Empfindungen niederlegen, wenn nicht bei dir, die du sie verklärst? Gegen wen würde mein Herz sich auszusprechen wagen, wenn du ihm kein Gehör mehr schenken wolltest? Wenn ich dir Rechenschaft ablege über meine Beobachtungen und Urtheile, so geschieht dies, damit du sie berichtigst, nicht damit du sie billigst; und je mehr ich in Irrthümer verfallen kann, desto mehr muß ich mich beeilen, dich von Allem in Kenntniß zu setzen. Wenn ich die Mißbräuche tadle, die sich mir in dieser großen Stadt aufdrängen, so will ich mich nicht damit entschuldigen, daß ich nur mit dir im Vertrauen darüber rede, denn ich sage nie etwas über einen Dritten, was ich nicht bereit wäre, ihm in's Gesicht zu sagen, und in Allem, was ich dir über die Pariser schreibe, wiederhole ich nur, was ich ihnen selbst alle Tage sage. Sie nehmen es mir nicht übel; sie geben Vieles zu, Sie beklagten sich über unseren Muralt, das glaube ich gern; man sieht, man fühlt, wie er sie haßt, selbst in dem Lobe, das er ihnen ertheilt, und ich müßte mich sehr irren, wenn man bei mir, selbst in meinem Tadel, nicht das Gegentheil bemerken sollte. Die Achtung und Erkenntlichkeit, welche mir ihre Güte gegen mich abgewinnt, vergrößern nur meine Freimüthigkeit: sie mag Manchem nicht unnütz sein, und nach der Art, wie Alle die Wahrheit in meinem

Munde aufnehmen, getraue ich mir zu glauben, daß wir würdig sind, sie zu hören und ich, sie zu sagen. Hier wenigstens, meine Julie, ist die Wahrheit im Tadeln ehrenvoller als die Wahrheit im Loben; denn das Lob dient nur dazu, diejenigen, die es schmecken, zu verderben und die es am wenigsten verdienen, sind immer am gierigsten danach, aber der Tadel ist nützlich und nur das Bewußtsein des eigenen werthes kann ihn ertragen. Ich sage es dir aus dem Grunde meines Herzens, ich ehre das französische Volk als das einzige, welches wahrhaft die Menschen liebt und von Charakter wohlthätig ist, aber eben deshalb bin ich weniger geneigt, ihm die allgemeine Bewunderung zuzugestehen, die es selbst auch für seine eingestandenen Fehler in Anspruch nimmt. Wenn die Franzosen keine Tugenden besäßen, so würde ich Nichts sagen; wenn sie keine Laster hätten, würden sie keine Menschen sein; sie haben zu viele lobenswerthe Seiten, um immer gelobt zu werden.

Was die Versuche betrifft, von denen du sprichst, so sind sie für mich nicht thunlich, weil ich sie nicht machen könnte, ohne Mittel in Bewegung zu setzen, die mir nicht anstehen und die du selbst mir untersagt hast. Republikanische Sittenstrenge ist nicht wohl angebracht hier zu Lande; es bedarf da biesamerer tugenden, die sich besser den Interessen der guten Freunde oder Gönner anzuschmiegen wissen. Man schätzt hier die Fähigkeit, ich gebe es zu, aber die Gaben, welche zu gutem Rufe führen, sind hier nicht dieselben, mit denen man sein Glück macht, und wenn ich das Unglück hätte, diese letzteren zu besitzen, würde sich Julie wohl entschließen, die Frau eines Emporkömmlings zu werden? In England ist es eine ganz andere Sache, und wenn auch die Sitten dort vielleicht noch weniger taugen als in Frankreich, so verhindert das nicht, daß man auf ehrenhafteren Wegen emporkommen kann, weil wegen der größeren Betheiligung des Volkes an der Regierung die öffentliche Achtung daselbst mehr das Mittel ist, zu Ansehen zu gelangen. Es ist dir nicht unbekannt, daß es Milord Eduard's Absicht ist, diesen Weg zu meinen Gunsten zu benutzen, und meine seinen feundschaftlichen Eifer zu rechtfertigen. Der Ort auf erden, wo ich am entferntesten von dir bin, ist derjenige, wo ich nichts thun kann, was mich dir näher brächte. O Julie, wenn es schwer ist, deine Hand zu wehalten, noch schwerer ist es, sie zu verdienen. Und das ist die edle Aufgabe, welche mir die Liebe stellt.

Du reisest mich aus einer großen Sorge, indem du mir bessere Nachrichten von deiner Mutter giebst; ich sah dich schon vor meiner Abreise so unruhig ihretwegen, daß ich nicht wagte, dir zu sagen, was ich von ihrem Zustande dächte, aber ich fand sie abgezehrt, verändert und fürchtete eine gefährliche Krankheit. Erhalte sie mir, weil sie mir theuer ist, weil ich sie von Herzen ehre, weil auf ihre Güte meine einzige Hoffnung gebaut ist und vorzüglich, weil sie die Mutter meiner Julie ist.

Ueber die beiden Bräutigame will ich dir sagen, daß mir dies Wort unangenehm ist, selbst im Spaße; übrigens verscheucht mir der Ton, in welchem du von ihnen sprichst, jede Furcht und ich hasse die Armen nun nicht mehr, da du sie zu hassen glaubst. Aber ich bewundere deine Unschuld, daß du von Haß zu wissen meinst; siehst du denn nicht, daß es nur die erzürnte Liebe ist, was du für Haß hältst? So murrt das weiße Täubchen, dessen Geliebten man verfolgt. Geh, Julie, geh, unvergleichliches Mädchen; wenn du wirst hassen können, werde ich aufhören können, dich zu lieben.

N. S. Wie bedauere ich dich, daß du von diesen beiden Ueberlästigen belagert bist. Um der Liebe deinerselbst willen, mach' und schicke sie eilends fort.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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