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Dreizehnter Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Ich bin gestern Abend in Paris angekommen; er, der nicht leben konnte, durch zwei Straßen von dir getrennt, ist es jetzt durch mehr als hundert Meilen. O Julie, beklage mich, beklage deinen unglücklichen Freund. Wenn ich mit meinem Blute in langen Strömen diesen unendlichen Weg gezeichnet hätte, würde er mir nicht so lang erschienen sein und ich hätte nicht so meine Seele immer ohnmächtiger werden gefühlt. Ach, kennte ich wenigstens den Augenblick, der uns wieder vereinigen soll, so gut wie den Raum, der uns trennt, so würde ich die Entfernung der Orte in dem Fortschreiten der Zeit aufheben, ich würde an jedem Tage, der meinem Leben genommen wird, nur die Schritte zählen, um die er mich dir näher brächte. Aber diese Schmerzensbahn ist bedeckt mit dem Dunkel der Zukunft: die Grenze, welche ihr gesetzt ist, ist meinen schwachen Augen entzogen. O Ungewißheit! O Marter! Mein unruhiges Herz sucht sie und findet nichts. Die Sonne geht auf, und bringt mir nicht mehr die Hoffnung wieder, dich zu sehen; sie geht unter, und ich sah dich nicht: meine Tage, genuß- und freudenleer, fließen hin in einer langen Nacht. Umsonst, daß ich in mir die erloschene Hoffnung wieder zu beleben suche, sie bietet mir nur eine ungewisse Hülfe und verdächtigen Trost. Zärtlich geliebte Freundin meines Herzens, ach, ach, auf was für Wehe muß ich gefaßt sein, wenn es meinem vergangenen Glücke die Waage halten soll!

Laß dich durch diese Schwermuth nicht beunruhigen, ich beschwöre dich: sie ist die vorübergehende Wirkung des Alleinseins und der Betrachtungen unterweges. Fürchte keine Rückkehr meiner vorigen Schwachheit: mein Herz ist in deiner Hand, meine Julie; und da du es hältst, wird es sich nicht niederschlagen lassen. Einer der tröstlichen Gedanken, welche die Frucht deines letzten Briefes sind, ist der, daß ich mich jetzt durch eine doppelte Kraft getragen fühle; und wenn selbst die Liebe die meinige vernichtet hätte, würde ich doch noch dabei gewinnen, denn der Muth, welcher mir von dir kommt, hält mich viel besser aufrecht, als ich es selbst vermöchte. Ich bin überzeugt, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Die Menschenseelen wollen gepaart sein, um zu ihrem vollen Werthe zu gelangen, und die vereinigte Kraft der Freunde, wie die der Platten eines künstlichen Magnets, ist unvergleichlich größer als die Summe der vereinzelten Kräfte. Göttliche Freundschaft, das ist dein Triumph. Was aber ist die bloße Freundschaft gegen diese vollkommene Vereinigung, die zu der ganzen Wirkungskraft der Freundschaft Bande, die hundertmal heiliger sind, hinzufügt? Wo sind sie, jene groben Seelen, welche die Entzückungen der Liebe für nichts als ein Fieber der Sinne halten, eine Brunst der verderbten Natur? Sie sollen kommen, sollen sehen, sollen fühlen, was im Grunde meines Herzens vorgeht, sollen einen unglücklichen Liebenden sehen, getrennt von dem, was er liebt, ungewiß, ob er es je wieder sehen wird, ohne Hoffnung, sein verlorenes Glück wieder zu erlangen, und dennoch beseelt von dem unsterblichen Feuer, das er in deinen Augen auffing, und das dein hoher Sinn genährt hat; bereit, dem Geschicke zu trotzen, seine Widerwärtigkeit zu ertragen, selbst sich deiner beraubt zu sehen und aus Tugenden, die du ihm eingeflößt hast, eine würdige Zierde des anbetungswerthen Bildes zu machen, welches nie aus seiner Seele verlöschen wird. Julie, o was wäre ich gewesen ohne dich? Die kalte Vernunft hätte mich vielleicht aufgeklärt; ein lauer Bewunderer des Guten, würde ich es wenigstens in Anderen geliebt haben. Ich werde aber mehr thun, ich werde es mit Eifer auszuüben streben, und durchdrungen von deinen weisen Lehren, werde ich so handeln, daß Die einst sprechen, die uns gekannt haben: O, was für Menschen würden wir alle sein, wenn die Welt voll wäre von Julien, und von Herzen, die sie zu lieben wüßten!

Als ich unterweges mir deinen letzten Brief in Gedanken wiederholte, nahm ich mir vor, jetzt da ich keine Weisung mehr aus deinem Munde erhalten kann, alle Briefe, die du mir geschrieben hast, in eine Sammlung zu bringen. Obgleich keiner darunter ist, den ich nicht auswendig wüßte, glaube mir, mag ich sie doch immer gern wieder und wieder von vorn lesen, wäre es auch nur um die Züge von dieser geliebten Hand zu sehen, die mich allein glücklich machen kann. Aber unvermerkt nutzt sich das Papier ab, und ehe sie zerrissen sind, will ich sie alle in ein reines Buch schreiben, das ich mir ausdrücklich dazu ausgesucht habe. Es ist ziemlich dick, aber ich denke an die Zukunft und hoffe nicht so jung zu sterben, daß ich an dem einen Bande genug hätte. Ich bestimme die Abende zu dieser reizenden Beschäftigung, und ich werde langsam schreiben, um länger daran zu haben. Diese kostbare Sammlung will ich im Leben nicht von mir lassen: sie wird mein Handbuch sein in der Welt, in die ich einzutreten im Begriff bin: sie wird das Gegengift sein wider die bösen Grundsätze, die man in ihr einathmet; sie wird mich trösten in meinen Leiden; sie wird mich vor Fehltritten bewahren oder mich bessern; sie wird mich zurechtweisen, so lange ich jung bin; sie wird mich erbauen zu allen Zeiten, und diese Liebesbriefe, meine ich, werden die ersten sein, von denen ein solcher Gebrauch gemacht wird.

Was den letzten betrifft, den ich gegenwärtig vor Augen habe, so schön er mir scheint, finde ich doch darin eine Stelle auszuscheiden. Gewiß schon ein seltsames Gericht! aber was es noch seltsamer macht, es trifft gerade die Stelle, welche von dir handelt, und ich mache es dir zum Vorwurf, daß es dir auch nur einfallen konnte, sie zu schreiben. Was redest du mir von Treue, von Beständigkeit? Ehedem kanntest du besser meine Liebe und deine Macht. Ach, Julie! flößest du Gefühle ein, die vergänglich sind? und wenn ich dir nichts versprochen hätte, könnte ich denn je aufhören dein zu sein? Nein! Nein! Mit

dem ersten Blick deiner Augen, mit dem ersten Wort aus deinem Munde, mit dem ersten Aufwallen meines Herzens entzündete sich in ihm diese ewige Flamme, die nichts auslöschen kann. Hätte ich dich nur diesen einen Augenblick gesehen, so war es doch vorbei, war schon zu spät, dich je wieder vergessen zu können. Und ich sollte dich jetzt vergessen! jetzt da, berauscht von meinem vergangenem Glücke, der bloße Gedanke daran hinreicht, es mir von neuem zu schenken, jetzt, da ich erdrückt von der Last deiner Reize nur in ihnen noch athme! jetzt, meine vorige Seele vergangen ist und mich die belebt, die ich von dir habe! jetzt, Julie, da ich mir selbst zum Ekel bin, daß ich dir so schlecht ausdrücke, was ich fühle! Ha! möge alle Schönheit der Welt mich zu verführen suchen, giebt es in meinen Augen eine andere, als die deine? Möge Alles sich verschwören, diese meinem Herzen zu entwenden, möge man es durchbohren, möge man es zerreißen, möge man diesen treuen Spiegel Juliens zertrümmern, ihr reines Bild wird nicht aufhören, noch in dem letzten Splitter zu glänzen; nichts ist fähig, es daraus zu tilgen. Nein, die höchste Macht selbst würde nicht so viel vermögen; sie kann meine Seele vernichten, aber nicht machen, daß sie sei und dich nicht mehr anbete.

Milord Eduard hat es übernommen, dir bei seiner Durchreise über das, was mich betrifft, und über seine Pläne zu Gunsten meiner Bericht zu geben; aber ich fürchte, daß er sich in Bezug auf seine gegenwärtigen Verfügungen seines Versprechens nicht vollständig entledigen wird. Vernimm, daß er sich untersteht, das Recht, welches ihm seine Wohlthaten über mich geben, so zu mißbrauchen, daß er sie über alle Gebühr hinaus ausdehnt. Ich sehe mich durch eine Pension, die, wenn es nach ihm ginge, unwiderruflich gemacht worden wäre, in Stand gesetzt, eine Rolle weit über meine Geburt zu spielen, und in London werde ich das auch vielleicht gezwungen sein zu thun, um mich seinen Absichten zu fügen. Für den hießigen Aufenthalt, wo mich kein Geschäft bindet, werde ich fortfahren, nach meiner Weise zu leben, und werde nicht in Versuchung kommen, den Ueberfluß meines Unterhalts in nichtigen ausgaben zu vergeuden. Du hast mich gelehrt, meine Julie, daß die ersten Bedürfnisse, oder wenigstens die fühlbarsten die eines wohlthätigen Herzens sind: und welcher rechtschaffene Mensch hätte Ueberflüssiges, so lange es noch einem menschen am Nothdürftigsten fehlt?

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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