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Elfter Brief.
Von Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Es ist also wahr, daß meine Seele dem Vergnügen nicht verschlossen ist, und daß ein freudiges Gefühl noch in sie dringen kann! Ach, ich glaubte seit deiner Abreise nur noch für den Schmerz Empfindung zu haben; ich glaubte, daß ich fern von dir nur leiden könnte, und konnte mir nicht einmal einen Trost möglich denken, so lange du nicht da bist. Dein bezaubernder Brief an meine Cousine hat mich enttäuscht; ich habe ihn mit Thränen der Rührung gelesen und geküßt: er hat die Frische eines milden Thaues über mein vor Mißmuth welkes und von Trübsinn ausgedörrtes Herz ergossen, und an der Heiterkeit, die er mir zurückließ, fühle ich, daß du von fern nicht weniger Einfluß als in der Nähe auf die Stimmung deiner Julie übst.

Mein Freund, welches Entzücken für mich, dich zu dem Gefühle von Kraft zurückkehren zu sehen, welches dem Muthe des Mannes zukommt! Ich darf dich so höher schätzen und mich selbst weniger verachten, weil du eine redliche Liebe nun doch nicht ganz herabgewürdigt und zwei Herzen zugleich zu Grunde gerichtet hast. Ich will noch mehr sagen, jetzt da wir frei von unserer Angelegenheit sprechen können: was meine Verzweiflung steigerte, war besonders dies, daß ich durch die deinige jedes Hülfsmittel uns abgeschnitten sah, welches uns noch der Gebrauch deiner Talente darbieten konnte. Du kennst jetzt den würdigen Freund, den dir der Himmel geschenkt hat: dein ganzes Leben wird nicht zu viel sein, um dich seiner Wohlthaten werth zu machen, und nie genug, um die Beleidigung zu vergüten, welche du ihm zugefügt hast; du brauchst, glaube ich, keine andere Warnung, deine tobende Einbildungskraft künftig im Zaume zu halten. Unter dem Schirme dieses ehrenwerthen Mannes wirst du in die Welt eintreten; unterstützt durch sein Ansehen, geleitet durch seine Erfahrung, wirst du das mißa

chtete Verdienst an der Härte des Schicksals rächen. Thue dieses Mannes wegen, was du deinetwegen nicht thun würdest. Sieh, welche lachende Aussicht sich dir noch eröffnet; sieh, welchen Erfolg du auf einer Laufbahn hoffen darfst, wo Alles zusammenkommt, deinen Eifer anzuspornen. Der Himmel hat dir seine Gaben geschenkt; dein glückliches Naturell, durch deinen richtigen Geschmack ausgebildet, befähigt dich zu Allem; noch nicht vierundzwanzig Jahre alt, verbindest du, was dieses Alter Gefälliges hat, mit der Reise, welche späterhin für den Fortschritt der Jahre entschädigt;

Frutto senile in su'l giovenil fiore.

[„Greise Frucht auf judendlicher Blüthe.“]

Das Studium hat deine Lebhaftigkeit nicht abgestumpft und dich nicht steif und schwerfällig gemacht; die fade Galanterie hat nicht deinen Geist verkümmert und verschrumpft. Die glühende Liebe hat, indem sie dir alle erhabenen Gefühle einpflanzte, deren Mutter sie ist, dir den hohen Schwung der Ideen und den scharfen Sinn gegeben, die davon unzertrennlich sind [Scharfsinn unzertrennlich von der Liebe! Gute Julie, die deinige verräth ihn an dieser Stelle nicht.]. Bei ihrer sanften Wärme sah ich deine Seele ihre glänzenden Eigenschaften entfalten, wie sich eine Blume den Strahlen der Sonne aufschließt; du hast bei einander alles das, was dazu gehört, sein Glück zu machen, und was dazu gehört, es zu achten. Es fehlt dir, um weltliche Ehren zu gewinnen, nichts als daß du dich herabließest, darnach zu streben, und ich hoffe, daß ein Gegenstand, der deinem Herzen theurer ist, dir den Eifer um dieselben einflößen wird, welchen sie an sich nicht verdienen.

O mein süßer Freund, du wirst nun weit hinwegziehen …. o mein Geliebter, du wirst deine Julie meiden! …. Es muß sein, unsere Trennung muß sein, wenn wir noch wieder einen glüchlichen Tag sehen wollen; und der Erfolg der Mühen, die du dir geben wirst, ist unsere letzte Hoffnung. Möchte dich ein so lieber Gedanke anfeuern und dich trösten während dieser langen, bitteren Trennung! Möchte er dir das Feuer einhauchen, welches die Hindernisse überwindet und das Glück bezwingt! Ach, die Welt und die Geschäfte werden dir beständig Zerstreuungen darbieten und werden heilsam sein, dich von den Schmerzen der Trennung abzuziehen. Ich aber werde bleiben, mir selbst überlassen oder Verfolgungen preisgegeben, und Alles wird mich zwingen, ohne unterlaß um dich zu weinen. Glücklich werde ich noch sein, wenn nicht eitle Beunruhigungen meine wirklichen Qualen vermehren und wenn ich zu meinen eigenen leiden nicht noch di alle in mir fühle, denen du ausgesetzt sein wirst. —

Ich zittere, wenn ich an die tausend Gefahren denke, die deinem Leben und deinen Sitten drohen. Ich setze in dich alles Vertrauen, das einem ein Mensch einflößen kann: aber, da uns das Schicksal trennt, ach Freund, warum bist du nichts als nur ein Mensch? Wie viel guter Rath wäre dir nothwendig in dieser unbekannten Welt, in die du dich stürzen wirst. Nicht mir, die ich jung, ohne Erfahrung und weniger mit Kenntnissen ausgerüstet bin, als du, nicht mir kommt es zu, dir Weisungen in dieser Hinsicht zu geben; diese Sorge überlasse ich Milord Eduard. Nur zwei Dinge will ich Dir anempfehlen, weil sie mehr in das Gebiet des Gefühls als der Erfahrung fallen, und weil ich, wenn ich auch die Welt wenig kenne, doch ein Herz wohl zu kennen glaube: weiche nie von der Tugend und vergiß nie deine Julie.

Ich will dir nicht alle die spitzfindigen Argumente, die du mich selbst verachten gelehrt hast, ins Gedächtniß rufen, die so viele Bücher füllen und nie einen Menschen gut gemacht haben. Ach, die traurigen Schwätzer! was für wonnige Entzückungen haben ihre Herzen nie gefühlt und nie gespendet! Laß, mein Freund, die fahlen Moralprediger und gehe in die Tiefe deiner Seele hinein; dort wirst du allezeit die Quelle des heiligen Feuers finden, an welchem sich so oft in uns die Liebe der erhabenen Tugend entzündete, dort wirst du das ewige Bild des wahren Schönen erblicken, dessen Betrachtung uns mit heiliger Begeisterung erfüllt und das unsere Leidenschaft unaufhörlich beflecken, ohne es je auslöschen zu können [Die wahre Philosophie für Liebende ist bei Plato zu finden; so lange der Zauber währt, haben sie keine andere. Wer bewegten Gemütes ist, kann von diesem Philosophen nicht los: einem kalten Leser ist er unausstehlich.]. Erinnere dich der köstlichen Thränen, die aus unsren Augen flossen, des Pochens, welches unsere Herzen fast erstickte, der Verzückung, die uns über uns selbst erhob, bei den Lebensgeschichten der Helden, die das Laster unentschuldbar machen und die Ehre der Menschheit sind. Willst du wissen, was wahrhaft wünschenswerth ist, Glück oder Tugend? Denk nur welchem von Beiden das Herz den Vorzug giebt, wenn es unparteiisch wählt. Denke, was uns beim Lesen der Geschichte anzieht und reizt. Ist es dir jemals in den Sinn gekommen, dir die Schätze des Krösus, oder Cäsar's Ruhm, oder Nero's Macht oder die Freuden Heliogabal's zu wünschen? Wenn diese glücklich waren, warum versetzten dich deine Wünsche nie an ihre Stelle? Nein, sie waren nicht glücklich, und das hast du gefühlt; sie waren schlecht und verächtlich, und ein schlichter Mensch, der Glück hat, macht Niemanden Neid. Welche Menschen betrachtetest du denn mit dem meisten Vergnügen? Welches Beispiel verehrtest du? Welchem hättest du am liebsten mögen ähnlich sein? Unbegreiflicher Reiz der Schönheit, die nicht stirbt! Es war der Athenienser, der den Schierlingsbecher trinkt, Brutus, der für sein Vaterland stirbt, Regulus in seinen Martern, Cato, der sein eigenes Herz durchbohrt, alle diese tugendhaften Unglücklichen waren es, die deinen Neid erregten, und du fühltest im Grunde deines Herzens die wahre Glückseligkeit, welche sich unter ihren scheinbaren Leiden verbarg. Glaube nicht, daß dieses Gefühl nur dir eigenthümlich war; alle Menschen fühlen ebenso und oftmals wider ihren Willen. Das göttliche Urbild, welches Jeder von uns in sich trägt, bezaubert uns trotz unserer Unlust: sobald uns die Leidenschaft vergönnt, es nur zu sehen, wollen wir ihm ähnlich werden, und der schlechteste Mensch, wenn er sich anders machen könnte, würde ein guter Mensch sein wollen.

Verzeihe mir diese Begeisterung, liebenswürdiger Freund; du weißt, daß ich sie von dir habe, und die Liebe, der ich sie verdanke, will sie dir zurückgeben. Nicht will ich dir hier deine eigenen Maximen lehren, sondern nur einen Augenblick auf dich die Anwendung davon machen, und sehen, was in ihnen Brauchbares für dich liegen mag; denn jetzt ist es Zeit, das auszuüben, was du zu lehren wußtest, und zu zeigen, wie man nach seinen Grundsätzen handelt. Wenn nicht davon die Rede ist, ein Cato oder Regulus zu sein, so muß doch Jeder sein Vaterland lieben, rechtschaffen sein und muthig, Wort halten, auch auf Gefahr seines Lebens. Die Privattugenden sind oft um so erhabener, als sie nicht nach dem Beifall Anderer streben, sondern nur nach dem Zeugniß des eigenen Gewissens, und dem Gerechten ist sein Bewußtsein so viel werth, als das Lob der ganzen Welt. So wirst du fühlen, daß die Größe allen Ständen eignet, und daß Niemand glücklich sein kann, wenn er nicht seiner eigenen Achtung genießt; denn wenn der wahre Seelengenuß in der Betrachtung des Schönen liegt, wie kann dieses der Schlechte im Anderen lieben, ohne gezwungen zu sein, sich selbst zu hassen?

Ich fürchte nicht, daß dich die groben sinnlichen Genüsse verführen; das sind keine sehr gefährlichen Fallstricke für ein empfindsames Herz; für ein solches müssen feinere sein. Aber ich fürchte die Maximen und Lehren der Welt; ich fürchte die entsetzliche Gewalt, welche das allgemeine und beständige Beispiel des Lasters haben muß; ich fürchte die schlauen Sophismen, mit denen es sich schminkt; ich fürchte endlich, daß dein Herz selbst dich hintergehen und dich weniger schwierig machen möchte in der Wahl der Mittel, um zu einem Ansehen zu gelangen, das du allerdings verachten würdest, wenn nicht unsere Verbindung die Frucht davon sein könnte.

Ich warne dich, mein Freund, vor diesen Gefahren; deine Weisheit wird das Uebrige thun: denn um sich davor zu schützen, ist schon viel gewonnen, wenn man sie vorauszusehen gewußt hat. Ich will nur noch eine Bemerkung hinzufügen, die es meiner Meinung nach ebensowohl mit der Scheinvernunft des Lasters aufnimmt, als mit den übermüthigen Verirrungen unbedachter Thoren, und eigentlich hinreichen müßte, um das Leben des vernünftigen Menschen auf die Bahn des Guten zu lenken, nämlich diese, daß die Quelle des Glückes ganz weder in dem begehrten Gegenstande, noch in dem Herzen, welches ihn besitzt, liegt, sondern in dem Verhältnisse beider zu einander, und daß ebenso wie nicht alle Gegenstände, deren wir begehren, geeignet sind, Glück zu spenden, auch nicht alle Zustände des Herzens geeignet sind, es zu empfinden. Wenn die lauterste Seele für sich allein nicht genug ist, um glücklich zu machen, so ist es doch noch gewisser, daß alle Wonnen der Welt nicht im Stande sein werden, ein verderbtes Herz zu beglücken; denn es ist von beiden Seiten eine Vorbereitung nöthig, ein gewisses Zusammenwirken, aus welchem erst jenes köstliche Gefühl entspringt, das alle gefühlvollen Wesen suchen und das der falsche Weise niemals erfährt, der bei dem Vergnügen des Augenblicks stehen bleibt, weil er ein dauerhaftes Glück nicht kennt. Was würde es daher nützen, einen dieser Vortheile auf Kosten des anderen zu erwerben, nach außen zu gewinnen, um im Innern desto mehr zu verlieren, und sich die Mittel zu verschaffen, glücklich zu sein, indem man die Kunst einbüßt, sie anzuwenden? Ist es nicht noch besser, wenn nur eines von beiden vergönnt ist, dasjenige, welches uns das Schicksal wohl wieder schenken kann, demjenigen zu opfern, welches man nicht wiedererlangt,

wenn man es einmal verloren hat? Wer soll das besser wissen als ich, die ich nichts erreicht habe, als daß ich mir die Freuden meines Lebens vergiftete, indem ich ihnen die Krone aufzusetzen wähnte? Laß also die Bösen nur reden, welche ihr Glück zeigen und ihr Herz verbergen, und sei gewiß, wenn es auf Erden ein einziges Beispiel von wahrem Glück giebt, so wird es in einem guten Menschen zu finden sein. Dir hat der Himmel den glücklichen Hang verliehen zu Allem, was gut und recht ist: gieb denn nur deinen eigenen Wünschen Gehör, folge nur deinen natürlichen Neigungen; denke vorzüglich an unsere erste Liebe; so lange jene reinen, köstlichen Augenblicke in deinem Gedächtnisse leben werden, ist es nicht möglich, daß du aufhörest, das zu lieben, was sie dir so süß machte, daß der Reiz des sittlich Schönen in deiner Seele ersterbe, oder daß du je daran denkest, deine Julie durch Mittel erlangen zu wolllen, die deiner unwürdig sind. Was wäre an einem Gute zu genießen, davon man den Geschmack verloren? Nein, um die Geliebte besitzen zu können, muß man sich dasselbe Herz erhalten, mit welchem man sie geliebt hat.

Da bin ich nun bei meinem zweiten Punkte; denn ich habe, wie du siehst, das Handwerk nicht verlernt. Mein Freund, auch ohne Liebe ist der hohe Muth einer starken Seele möglich, aber eine Liebe wie die unsrige belebt ihn und erhält ihn, so lange sie brennt, und wenn sie erlischt, so versiecht er und das abgenutzte Herz ist zu nichts mehr gut. Sage, was wären wir, wenn wir nicht mehr liebten? Ach, wäre es nicht besser, nicht mehr da zu sein, als zu sein, ohne zu fühlen? und könntest du dich entschließen, das nüchterne Leben eines gewöhnlichen Menschen auf Erden hinzuschleppen, nachdem du alle Entzückungen genossen hast, die nur eine menschliche Seele hinreißen können? Du wirst nun in großen Städten wohnen, wo dein Aueßeres und dein Alter mehr noch als die Vorzüge deines Geistes deiner Treue tausend Fallen stellen werden; die einschmeichelnde Coquetterie wird die Sprache der Zärtlichkeit annehmen und dir gefallen, ohne dich zu täuschen; du wirst nicht Liebe suchen, aber Lust; diese von jener getrennt wirst du genießen, und wirst sie nicht wiedererkennen. Ich weiß nicht, ob du wo anders Juliens Herz wiederfinden wirst, aber das sage ich dir, du wirst bei keiner andern je das wieder finden, was du bei ihr empfunden hast. Die Erschöpfung deiner Seele wird dir das Loos ankündigen, das ich dir vorher gesagt habe; Trübsinn und Verdrossenheit werden dich im Schooße frivoler Ergötzungen erdrücken; das Andenken unserer ersten Liebe wird dich wider Willen verfolgen: mein Bild, hundertmal schöner, als ich jemals war, wird dich unversehens überfallen. Im Augenblicke wird der Schleier des Ekels alle deine Freuden bedecken und tausend schmerzliche Stacheln werden sich in dein Herz bohren. Mein Geliebter, o mein süßer Freund, ach, wenn du mich je vergissest .... weh! was werde ich thun? Sterben! Aber du, du wirst elend und unglücklich leben und ich werde nur zu schwer gerächt sterben.

Vergiß nie, nie diese Julie, die dein war und deren Herz keinem Anderen gehören wird. Ich kann dir nicht mehr versprechen in der Abhängigkeit, in welche mich der Himmel gesetzt hat. Aber, nachdem ich dir Treue empfohlen, ist es billig, daß ich dir von der meinigen das einzige Pfand lasse, das in meiner Macht steht. Ich habe zu Rath gezogen, nicht meine Pflichten, mein verwirrter Geist erkennt sie nicht mehr, aber mein Herz, die letzte Richtschnur Dessen, der keine weiter für sein Handeln hat; und was es mir endlich eingegeben hat, ist dies: ich werde dich nie ohne die Einwilligung meines Vaters heiraten, aber auch nie einen Andern ohne deine Einwilligung: darauf gebe ich dir mein Wort. Es wird mir heilig sein, was auch komme, und es giebt keine menschliche Kraft, die mich verhindern könnte, es zu halten. Mache dir also keine Unruhe über das, was in deiner Abwesenheit mit mir geschehen könnte. Geh, und suche dir, mein liebenswürdiger Freund, unter dem Segen der zärtlichen Liebe ein Schicksal, welches werth ist, sie zu krönen. Mein Geschick liegt in deinen Händen, soweit es von mir abhing, es hinein zu legen, und nie wird es sich ändern ohne deine Zustimmung.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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