Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 84
Zehnter Brief.
An Clara.
ОглавлениеWarum müssen mir endlich die Augen über mich aufgehen? O wären sie doch lieber ewig geschlossen geblieben, als daß ich nun die Erniedrigung sehen muß, in die ich gestürzt bin, als daß ich mich nun als den elendesten Menschen erblicken muß, nachdem ich der glücklichste gewesen bin! Liebenswürdige, großmüthige Freundin, die Sie so oft meine Zuflucht waren, ich wage es noch, meine Scham und mein Leid in Ihr mitfühlendes Herz auszuschütten; ich wage es noch, Sie um Trost anzustehen wider das Gefühl meiner eigenen Unwürdigkeit; ich wage es, zu Ihnen meine Zuflucht zu nehmen, da ich mich von mir selbst verlassen fühle. Himmel! wie hat sie nur einen so verächtlichen Menschen je lieben können? oder wie war es möglich, daß ein so göttliches Feuer meine Seele nicht geläutert hat? Wie muß sie jetzt über ihre Wahl erröthen, sie, die ich nicht mehr werth bin zu nennen! wie muß sie seufzen, ihr Bild in einem so niedrigen, gemeinen Herzen entweiht zu sehen? wie muß sie Den verachten und hassen, der sie lieben und ein nichtswürdiger Mensch bleiben konnte! Erfahren Sie alle meine Verirrungen, reizende Cousine [Nach Juliens Beispiele nennt er sie,,Cousine" und ebenso sie ihn ,,mein Freund."], erfahren Sie meine Missethat und meine Reue, seien Sie mein Richter, und ich will sterben, oder seien Sie mein Fürsprecher, und der Gegenstand, von dem mein Schicksal abhängt, möge noch einmal sich herablassen, darüber zu entscheiden.
Ich will Ihnen nichts davon sagen, wie diese unvorhergesehene Trennung auf mich wirkte; ich will Ihnen nichts von meinem stumpfsinnigen Schmerze und von Meiner sinnlosen Verzweiflung sagen: Sie werden auf Beides nur zu sehr schließen können aus der unbegreiflichen Verirrung, in die ich gerathen bin. Je mehr ich das Furchtbare meiner Lage fühlte, desto weniger hielt ich es für möglich, freiwillig auf Julie zu verzichten, und die Bitterkeit dieses Gefühls im Verein mit der staunenswerthen Großmuth Milord Eduard's weckte einen Verdacht in mir, an den ich nie wieder zurückdenken werde, ohne zu schaudern, und den ich nicht vergessen kann, ohne gegen den Freund undankbar zu sein, der ihn mir vergiebt.
Indem ich in meinem Wahnwitze alle Umstände meiner Entführung zusammenhielt, glaubte ich einen vorbedachten Plan dahinter zu entdecken, den ich ohne Scheu dem tugendhaftesten der Menschen beimaß. Kaum war mir dieser entsetzliche Zweifel in den Sinn gekommen, als jeder Umstand ihn mir zu bestätigen schien, Milords Gespräch mit dem Baron von Étange, der wenig gewinnende Ton, welchen er, wie ich ihm Schuld gab, geflissentlich dabei angenommen, der Streit, der daraus entsprang, das Verbot, mich zu sehen, der Entschluß, mich zur Abreise zu bewegen, die Eilfertigkeit und Heimlichkeit der Vorbereitungen, die Unterredung, welche er mit mir am Abende vorher hatte, endlich die Geschwindigkeit, mit welcher ich mehr entführt als hinweggeführt wurde, alles dies deutete, wie mir schien, auf einen Plan Eduard's hin, mich von Julien zu entfernen, und da ich erfuhr, daß er wieder zu ihr zurückkehren würde, so bestärkte mich dies vollends in der Einbildung, das Ziel seiner Bemühungen entdeckt zu haben. Ich nahm mir jedoch vor, erst noch zu größerer Gewißheit zu gelangen, ehe ich losbräche, und in dieser Absicht beschränkte ich mich darauf, jeden Umstand mit größter Aufmerksamkeit zu beachten Alles aber vermehrte meinen lächerlichen Argwohn, und er konnte in seinem menschenfreundlichen Eifer nichts noch so redlich zu meinen Gunsten thun, was meine blinde Eifersucht nicht zu einem Anzeichen seiner Verrätherei gemacht hätte. In Besançon erfuhr ich, daß er an Julie geschrieben hatte, ohne mir ein Wort davon zu sagen. Ich hielt mich nun für hinlänglich überzeugt, und nur noch die Antwort, über die ich ihn mißvergnügt zu finden hoffte, erwartete ich, um mit ihm zu der Aufklärung zuschreiten, über welche ich brütete.
Gestern Abend kamen wir ziemlich spät nach Hause, und ich erfuhr, daß ein Packet aus der Schweiz gekommen war, wovon er aber nichts gegen mich erwähnte, als wir uns trennten. Ich ließ ihm Zeit, es zu öffnen; von meinem Zimmer aus hörte ich ihn etwas zwischen den Zähnen murmeln, während er las. Ich legte das Ohr an und lauschte. Ach, Julie, sagte er in abgebrochenen Sätzen, ich habe Sie glücklich machen wollen .... ich achte Ihre Tugend .... aber ich beklage Ihren Irrthum. Bei diesen Worten und anderen ähnlichen, die ich vollkommen deutlich vernahm, war ich nicht mehr Herr meiner selbst; ich nahm meinen Degen unter den Arm; ich öffnete, nein ich durchbrach die Thür; ich trat wie ein Wüthender ein. Nein, ich will nicht dieses Papier, noch Ihre Blicke mit den Schmähungen besudeln, welche mir dir Wuth eingab, um ihn dazu zu bringen, daß er sich auf der Stelle mit mir schlüge.
O meine Cousine! da vornehmlich konnte ich recht die Herrschaft wahrnehmen, welche die wahre Weisheit selbst über die reizbarsten Menschen erlangt, wenn sie ihrer Stimme Gehör geben wollen. Zuerst begriff er nicht, was ich wollte, und glaubte, daß wirklicher Wahnsinn aus mir spräche; aber da ich ihm immerfort Verrätherei vorwarf, ihm geheime Absichten Schuld gab und nicht aufhörte, von dem Briefe Juliens zu sprechen, den er noch in der Hand hielt, so erkannte er endlich die Ursache meiner Wuth. Er lächelte; dann sagte er kalt: Sie haben den Verstand verloren, und ich schlage mich mit keinem Sinnbethörten. Oeffnen Sie die Augen, Blinder, der Sie sind! setzte er mit sanfterem Tone hinzu; mich beschuldigen Sie, daß ich Sie verrathe? Ich fühlte in dem Ausdrucke, mit welchem er dies sagte, Etwas, das keinen Treulosen anzeigte; der Ton seiner Stimme bewegte mir das Herz; ich hatte ihm kaum in seine Augen geblickt, so war all mein Argwohn wie hinweggewischt und mit Entsetzen begann ich meine Ungereimtheit einzusehen.
Er bemerkte diese Veränderung augenblicklich; er reichte mir die Hand. Kommen Sie , sagte er zu mir; wenn Ihre Umkehr nicht meiner Rechtfertigung zuvorgekommen wäre, würde ich Sie in meinem Leben nicht wieder gesehen haben. Jetzt, da Sie vernünftig sind, lesen Sie diesen Brief und lernen Sie endlich Ihre Freunde kennen. Ich wollte mich weigern, den Brief zu lesen, aber das Uebergewicht, welches ihm so viele Autorität zu fordern, den, wiewohl mein schwarzer Verdacht zerstreut war, mein geheimer Wunsch nur zu sehr unterstützte.
Denken Sie sich, wie mir zu Muthe war, nachdem ich diesen Brief gelesen hatte, aus welchem ich die unerhörten Wohlthaten des Mannes erfuhr, den ich so unwürdig zu verleumden gewagt hatte. Ich stürzte mich zu seinen Füßen, und das Herz beladen mit Bewunderung, reue und Scham, drückte ich seine Kniee an mich, ohne ein einziges Wort hervorbringen zu können. Er nahm meine Reue auf, wie er meine Schmähungen aufgenommen hatte, und forderte von mir als Preis der Verzeihung, die er mir gewährte, nichts, als das Versprechen, mich dem guten nicht zu widersetzen, das er mir erzeigen wollte. Ach, möge er fortan thun, was ihm gefällt, seine hohe Seele ist über die anderer Menschen erhaben, und es ist so wenig erlaubt, sich seinen Wohlthaten zu widersetzen, als denen der Gottheit.
Hierauf gab er mir die beiden Briefe, welche an mich gerichtet waren und die er mir nicht eher hatte geben wollen, als bis er den seinigen gelesen und ersehen, was Ihre Cousine beschlossen hatte. Ich sah, indem ich las, was für eine Geliebte und was für eine Freundin der Himmel mir geschenkt hat; ich sah, was für Empfindungen, was für Tugenden er um mich versammelt hat, um meine Gewissensbisse zu schärfen und meine Niedrigkeit noch verächtlicher zu machen. Sagen Sie, was für eine einzige Sterbliche ist diese, deren geringste Herrschaft in ihrer Schönheit liegt, die, ähnlich den ewigen Mächten, sich durch das Gute wie durch das Ueble, das sie zufügt, gleichermaßen anbetungswürdig macht? Ach! sie hat mir Alles entrissen, die Grausame, und ich liebe sie deshalb nur desto mehr. Je mehr sie mich unglücklich macht, desto mehr finde ich sie vollkommen. Es ist, als ob sie durch alle Qualen, die sie mir bereitet, sich nur immer neues Verdienst um mich erwürbe. Das Opfer, welches sie denm Naturgefühle gebracht hat, bringt mich in Verzweiflung und bezaubert mich, es erhöht in meinen Augen den Werth jenes andern, das sie der Liebe gebracht hat. Nein, ihr Herz kann nichts versagen, woran man nicht erst das schätzen lernte, was sie gewährt.
,Und Sie, würdige, liebenswerthe Cousine, herrliches, vollkommenes Muster der Freundschaft, das unter den Frauen einzig dastehen, und allen Herzen, welche nicht dem Ihrigen gleichen, ewig eine Chimäre dünken wird, ach, sagen Sie mir nichts mehr von Philosophie: ich verachte diesen betrügerischen Wortkram, diesen Prunk mit hohlen Phrasen, dieses Phantom, das nichts weiter ist, als ein Schatten, der uns anreizt, den Leidenschaften von weitem Hohn zu sprechen, und bei ihrem Nahen uns als Prahlhänse dastehen läßt. O geben Sie mich nicht rathlos meinen Verirrungen preis; schenken Sie Ihre alte Güte dem Unglücklichen wieder, der sie nicht verdient, der sie aber sehnlicher wünscht und dringender nöthig hat, denn je; o rufen Sie mich zu mir selbst zurück, und Ihre sanfte Stimme vertrete diesem kranken Herzen die der Vernunft.
Nein, ich wage es zu hoffen, ich bin nicht auf ewig so tief gesunken. Ich fühle, daß sich in mir das reine, heilige Feuer, von dem ich glühte, wieder zu beleben anfängt; das Beispiel so vieler Tugenden wird nicht verloren sein für Den, der ihr Gegenstand war, der sie liebt, sie bewundert und unablässig nachahmen will. O theure Geliebte, der ihre Wahl keine Unehre bringen soll! o meine Freunde, deren Achtung ich wiedererwecken will! meine Seele erwacht und gewinnt in den eurigen wieder Kraft und Leben. Die keusche Liebe, die erhabene Freundschaft werden mir den Muth wiedergeben, den eine feigherzige Verzweiflung mir fast geraubt hat; die reinen Gefühle meines Herzens werden mir anstatt der Weisheit dienen: ich werde durch euch Alles werden, was ich sein soll, und ich werde euch zwingen, meinen Fall zu vergessen, wenn ich mich nur einen Augenblick davon erheben kann. Ich weiß nicht und will nicht wissen, welches Loos mir der Himmel aufspart; welches es auch sein möge, ich will mich desjenigen würdig machen, das ich genossen habe. Dieses unsterbliche Bild, das ich in mir trage, wird mir zur Aegide dienen, und wird meine Seele den Streichen des Schicksals undurchdringlich machen. Habe ich nicht genug gelebt für mein eigenes Glück? Jetzt bin ich schuldig, für ihren Ruhm zu leben. Ha! warum kann ich nicht die Welt erstaunen mit meinen Tugenden, damit man eines Tages, sie bewundernd, sage: konnte er weniger thun? er wurde von Julien geliebt!
N. S. „Ein verabscheutes und vielleicht unvermeidliches Band!" Was bedeuten diese Worte? Clara, ich bin auf Alles gefaßt, bin ergeben, bereit, mein Schicksal zu ertragen. Aber diese Worte …. nie, was auch komme, werde ich von hier abreisen, bis ich die Erklärung dieser Worte habe.