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Vierter Brief.
Frau v. Orbe an Juliens Liebsten.

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Inhaltsverzeichnis

Sie haben mir einen betrübenden Brief geschrieben, aber in Ihrem Handeln ist so viel Liebe und Tugend, daß man die Bitterkeit in Ihren Klagen darüber vergißt; Sie sind zu großmüthig, als daß man den Muth haben könnte, mit Ihnen zu schelten. Mag man noch so hitzig auffahren, wenn man es so versteht, sich dem geliebten Gegenstande zum Opfer zu geben, so verdient man mehr Lob als Vorwürfe, und Ihren kränkenden Worten zum Trotz waren Sie mir nie so theuer, als seitdem ich so ganz erst Ihren Werth kenne.

Danken Sie der Tugend, die Sie, wie Sie sagen, hassen, und die mehr für Sie thut, als Ihre Liebe selbst. Uns alle, die Tante nicht ausgenommen, haben Sie verführt durch ein Opfer, dessen Werth auch sie ganz fühlt. Sie hat Ihren Brief nicht ohne tiefe Rührung lesen können; sie hat sogar die Schwachheit gehabt, ihn ihrer Tochter sehen zu lassen, und die Anstrengung, welche die arme Julie machte, beim Lesen ihre Seufzer und ihre Thränen zurückzuhalten, zog ihr eine Ohnmacht zu.

Die zärtliche Mutter, die schon Ihre Briefe tief bewegt hatten, fängt nach Allem, was sie sieht, zu merken an, wie sehr eure beiden Herzen außer der gewöhnlichen Regel sind, und wie sehr eure Liebe einen Charakter von natürlicher Seelengemeinschaft an sich hat, den die Zeit und menschliche Bemühungen nicht vertilgen werden, Sie, die selbst so sehr des Trostes bedarf, möchte gern ihre Tochter trösten, wenn der Wohlstand sie nicht zurückhielte, und ich sehe sie zu nahe daran, ihre Vertraute zu werden, als daß sie nicht mir verzeihen sollte, es gewesen zu sein. Sie ließ sich gestern so weit gehen, daß sie in ihrer Gegenwart, vielleicht ein wenig unbehutsam [Ei, Clara, sind Sie hier denn weniger unbehutsam? Und wird es das letzte Mal sein, daß Sie es sind?], sagte: Ach, wenn es nur von mir abhinge ....! Obgleich sie an sich hielt und nicht ausredete, sah ich an dem heißen Kuß, den Julie auf ihre Hand drückte, daß sie sie nur zu wohl verstanden hatte. Ich weiß sogar daß sie mehrmals mit ihrem unbeugsamen Gatten hat reden wollen, aber fürchtete sie nun, ihre Tochter der Wuth eines erzürnten Vaters auszusetzen oder fürchtete sie für sich selbst, ihre Aengstlichkeit hat sie immer davon zurückgehalten, und ihre Schwäche, ihr Leiden nimmt so sichtlich zu, daß ich fürchte, sie wird außer Stande sein, ihren Entschluß auszuführen, noch ehe sie ihn recht gefaßt hat.

Wie dem sei, trotz der Fehltritte, an denen Sie Schuld sind, hat die Redlichkeit der Schmerzen, die sich in eurer beider Liebe kund giebt, ihr eine solche Meinung von Ihnen beigebracht, daß sie sich auf euer beiderseits gegebenes Wort, den Briefwechsel abzubrechen, verläßt, und keine Anstalt gemacht hat, ihre Tochter sorgsamer zu bewachen. In der That, wenn Julie ihr Vertrauen nicht rechtfertigte, würde sie ihrer Liebe nicht mehr werth sein, und man müßte euch beide erwürgen, wenn ihr fähig wäret, noch einmal die beste der Mütter zu betrügen und die Achtung zu mißbrauchen, die sie euch zollt

Es ist nicht meine Absicht, eine Hoffnung in Ihrem Herzen wieder zu entzünden, die ich selbst nicht hege, ich will Ihnen nur zeigen, wie wahr es ist, daß das Rechtschaffenste auch immer das Klügste ist und daß, wenn Ihrer Liebe noch irgend eine Aussicht bliebe, sie aus der Seite des Opfers liegt, das Ehre und Vernunft von Ihnen heischen. Mutter, Verwandte, Freunde, Alles ist jetzt für Sie, nur der Vater nicht, den man nie gewinnen wird oder allein auf diesem Wege. Was für eine Verwünschung Ihnen auch ein Augenblick der Verzweiflung auspreßt, Sie haben uns tausend Mal bewiesen, daß kein Weg sicherer zum Glücke führt, als der der Tugend. Erreicht man es, so ist es durch sie reiner, dauernder und süßer; verfehlt man es, so kann nur sie entschädigen. Fassen Sie also wieder Muth, seien Sie Mann, seien Sie wieder Sie selbst. Wenn ich Ihr Herz recht erkannt habe, so würde die schlimmste Art, Julien zu verlieren, für Sie die sein, wenn Sie unwerth wären, sie zu erhalten.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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