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Sechzehnter Brief.
An Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Wie machen ungestüme Leidenschaften den Menschen kindisch! Wie leicht nährt sich eine tolle Liebe mit Chimären! Wie leicht ist es, heftige Begierden mit dem geringsten Tand zu äffen! Die Ankunft deines Briefes hat mich in ein Entzücken versetzt, als ob du selber angekommen wärest, und in meinem Jubel konnte ein Stück Papier mir dich ersetzen. Eines der größten Uebel, wenn man von einander entfernt ist, und wogegen keine Vernunft etwas ausrichtet, ist die Unruhe über das Ergehen der Geliebten. Ihre Gesundheit, ihr Leben, ihre Ruhe, ihre Liebe, Alles entweicht dem, der Alles zu verlieren fürchtet; man ist der Gegenwart nicht gewisser als der Zukunft und alle möglichen Zufälle verwirklichen sich unablässig im Geiste eines Liebenden, der sie fürchtet. Endlich athme ich auf, ich lebe wieder; du besinnest dich wohl, du liebst mich. Oder vielmehr es ist zehn Tage her, daß dies Alles so war; wer steht mir aber für heute? O Abwesenheit! o Marter! o seltsam böser Zustand, wo man nur des vergangenen Augenblicks genießen kann und der gegenwärtige noch nicht ist!

Wenn du mir von der Unzertrennlichen nichts gesagt hättest, so würde ich doch ihre Malice in der Kritik über meinen Bericht und ihre Rache in der Vertheidigung Marini's erkannt haben; aber wenn es mir erlaubt wäre, die meinige zu führen, so würde ich um die Antwort nicht in Verlegenheit sein.

Erstlich, Cousinchen (denn ihr muß ich ja antworten), was den Styl betrifft, so habe ich ihn nach der Sache gehalten; ich habe Ihnen zugleich eine Idee und ein Beispiel von den Mode-Conversationen geben wollen, und, zufolge der allen Regel, habe ich Ihnen so geschrieben, wie man ungefähr in gewissen Gesellschaften spricht. Uebrigens ist nicht der Gebrauch von Redefiguren das, was ich an dem Cavalier Marin tadle, sondern seine Art, sie zu wählen. Wenn man ein warmes Gemüth hat, so kann man der Metaphern und Bilder nicht entrathen, um sich verständlich zu machen. Ihre Briefe selbst sind voll davon, ohne daß Sie daran denken, und ich behaupte, nur ein Mathematicus und ein Dummkopf können unfigürlich sprechen. In der That, läßt sich nicht ein und derselbe Gedanke in hundert Abstufungen der Stärke ausdrücken? Und wonach soll man die jedesmal erforderliche Stufe bestimmen, wenn nicht nach der beabsichtigten Wirkung? Ich gestehe, ich muß über meine eigenen Phrasen lachen, und ich finde sie äußerst abgeschmackt. Dank sei es der Mühe, die Sie sich gegeben haben, sie aus dem Zusammenhange zu reißen; aber lassen Sie sie an ihrer Stelle und Sie werden sie klar und selbst ausdrucksvoll finden. Wenn diese aufgeweckten Augen, die Sie so trefflich sprechen zu lassen verstehen, von einander und von Ihrem Gesicht getrennt wären, Cousine, was meinen Sie, würden dieselben mit allem ihrem Feuer sagen? Nichts, wahrhaftig, auch nicht einmal dem Herrn von Orbe.

Ist nicht das Erste, was sich in einem Lande, das man betritt, der Beobachtung darbietet, der Ton der Gesellschaft? Nun recht! es ist auch das Erste, was ich hier beobachtet habe, und ich habe Ihnen erzählt, was man in Paris sagt, nicht was man daselbst thut. Wenn ich bemerkt habe, daß die Reden, die Meinungen und die Handlungen der guten Leute nicht zusammenstimmen, so kommt das daher, weil dieser Zustand beim ersten Blick in die Augen fällt. Wenn ich die nämlichen Personen je nach der Coterie ihre Farbe wechseln sehe, in der einen Molinisten, in der andern Jansenisten, kriechende Zöglinge bei einem Minister, trotzige Frondeurs bei einem Unzufriedenen; wenn ich sehe, daß ein goldbedeckter Mann über den Luxus, ein Finanzmann über die Auflagen, ein Prälat über unordentliches Leben schreit; wenn ich eine Hofdame von Sittsamkeit, einen vornehmen Herrn von Tugend, einen Schriftsteller von Einfalt, einen Abbé von Religion reden höre, und kein Mensch sich über dergleichen Widersinn wundert, muß ich nicht daraus im Augenblicke den Schluß ziehen, daß hier den Leuten ebensowenig daran gelegen ist, die Wahrheit zu hören als zu sagen, und daß man nicht nur weit davon entfernt ist, die Andern von dem, was man sagt, überzeugen zu wollen, nein! daß man nicht einmal den Glauben ihnen beizubringen sucht, daß man selbst glaube was man sagt?

Aber genug des Spaßes mit Cousinchen. Fort mit einem Tone, der uns allen Dreien fremd ist, und ich hoffe, du sollst es eben so wenig erleben, daß ich Geschmack an der Satyre als an der Schöngeisterei finde. Dir, Julie, habe ich jetzt zu antworten, denn ich weiß die scherzende Form der Kritik von dem Ernst, der in den Vorwürfen liegt, zu unterscheiden.

Ich begreife nicht, wie ihr euch alle Beide über den Gegenstand meines Briefes so täuschen konntet. Nicht über die Franzosen habe ich Bemerkungen machen wollen; denn, wenn sich die verschiedenen Nationalcharaktere nur aus ihren Abweichungen von einander bestimmen lassen, wie konnte ich, der ich noch keine Nation weiter als diese eine kenne, deren Schilderung unternehmen? Auch würde ich nicht so ungeschickt gewesen sein, die Hauptstadt zum Orte meiner Beobachtungen zu wählen. Es ist mir nicht unbekannt, daß die Hauptstädte weniger von einander verschieden sind als die Völker, und daß sich in ihnen der Nationalcharakter größtentheils verwischt und verwirrt, sowohl in Folge des Einflusses, welchen die Höfe üben, die alle einander gleichen, als weil die Zusammendrängung zahlreicher Menschenmassen fast überall dieselben Erscheinungen hervorbringt und die ursprüngliche Eigenthümlichkeit des Volkes zuletzt gänzlich verdrängt.

Wenn ich ein Volk studiren wollte, so würde ich die entlegenen Provinzen aufsuchen, deren Bewohner noch ihre natürlichen Neigungen und Gewohnheiten haben. Ich würde mehre dieser Provinzen, und zwar diejenigen, welche am weitesten auseinanderliegen, langsam und mit Aufmerksamkeit durchreisen; das Unterscheidende, welches ich in jeder derselben fände, würde mich zur Erkenntniß ihres besondern Geistes leiten; was sie mit einander gemein hätten, während es sich bei andern Völkern nicht findet, würde den Nationalgeist ausmachen, und das, was überall anzutreffen ist, dem Menschen im Allgemeinen angehören. Aber ich habe weder einen so umfassenden Plan, noch die nöthige Erfahrung, um ihn auszuführen. Mein Zweck ist, den Menschen kennen zu lernen, und meine Methode, ihn in den verschiedenen Lebensverhältnissen zu studiren. Ich habe ihn bisher nur in kleinen Vereinen, versprengt, fast vereinsamt auf der Erde gesehen; ich will ihn jetzt betrachten, wo Massen an demselben Orte zusammengeschichtet leben und ich werde demnach anfangen, mir mein Urtheil über die wahren Wirkungen des gesellschaftlichen Lebens zu bilden; denn wenn es feste Regel ist, daß dieses Leben die Menschen besser macht, so müssen sie, je zahlreicher und zusammengedrängter die Gesellschaft ist, desto mehr werth sein, und es werden z. B. die Sitten in Paris reiner sein als im Wallis; fände man aber das Gegentheil, so würde man den entgegengesetzten Schluß ziehen müssen.

Diese Methode könnte mich, gebe ich zu, auch zur Kenntniß der Völker führen, aber auf einem so langen Umwege, daß ich vielleicht im ganzen Leben nicht dazu gelangen würde, mir über ein einiges ein Urtheil zu bilden. Ich müßte damit anfangen, bei dem ersten, unter welchem ich mich befinde, auf alles und jedes zu achten, müßte mir dann die Unterschiede merken, wenn ich in andere Länder komme, Frankreich mit jedem von ihnen vergleichen, wie man den Olivenbaum an einer Weide, oder die Palme an einer Tanne beschreibt, und mein Urtheil über das erste Volk, das ich beobachtet, ausschieben, bis ich alle übrigen gesehen hätte.

Wolle darin auch hier wieder, liebenswürdige Predigerin, die philosophische Beobachtung von der Nationalsatyre unterscheiden! Nicht die Pariser studire ich, sondern die Menschen als Bewohner einer großen Stadt, und ich weiß nicht, ob nicht das, was ich gesehen habe, eben so gut auf Rom oder London als auf Paris paßt. Die sittlichen Gesetze sind unabhängig vom Volksbrauche; daher fühle ich, ungeachtet der herrschenden Vorurtheile, sehr gut, was schlecht an sich ist; aber ob man dieses Schlechte gerade den Franzosen oder den Menschen überhaupt beimessen soll, ob es Wert der Gewohnheit oder der Natur ist, weiß ich nicht. Das Bild der Lasterhaftigkeit ist an jedem Orte beleidigend für ein unparteiisches Auge, und rügt man sie in dem Lande, wo sie herrschend ist, auch wenn man selber da lebt, so ist das nicht tadelnswerther, als wenn man die Gebrechen der Menschen überhaupt rügt, da man doch mit den Menschen lebt. Bin ich jetzt nicht selbst ein Bewohner von Paris? Vielleicht habe ich, ohne es zu wissen, schon meinen Theil zu der Unordnung beigetragen, die ich dort bemerke; vielleicht würde ein zu langer Aufenthalt hier auch meinen Willen verderben; vielleicht würde ich nach einem Jahre auch nichts weiter als eine gemeine Bürgerseele sein, wenn ich nicht, um deiner würdig zu bleiben, die Seele eines freien Mannes und die Tugenden des Bürgers [Was oben durch „Bürgerseele“ gegeben ist, heißt im Originale „bourgeois“; was durch „Bürger“ „citoyen“. Unser „Bürger“ entspricht citoyen recht gut; bourgois durch „Pfahlbürger“ oder „Spießbürger“ zu geben, schien nicht passend, da diese Wörter einen Beigeschmack haben, der mit dem des bourgois von Paris nicht übereinkommt. D. Uebers.] mir erhielte. Laß mich also, ohne mir Zwang aufzulegen, Gegenstände, denen ich erröthen würde ähnlich zu sein, dir schildern, und eben durch Gemälde der Schmeichelei und Lüge mich zu reinem Eifer für die Wahrheit befeuern.

Wenn ich über meine Beschäftigungen und über mein Schicksal frei gebieten könnte, würde ich, zweifle nicht, andere Gegenstände für meine Briefe wählen, und mit jenen warst du doch nicht unzufrieden, die ich dir aus Meillerie und dem Wallis schrieb; aber, geliebte Freundin, damit ich die Kraft gewinne, deren ich bedarf, das Getümmel der Welt, in der ich nun leben muß, zu ertragen, muß ich wenigstens den Trost haben, es dir schildern zu dürfen und mich durch den Gedanken, daß ich Stoff zu Briefen an dich brauche, anspornen, ihn zu suchen. Sonst wird mich Muthlosigkeit bei jedem Schritte befallen und ich werde Alles müssen fahren lassen, wenn du es nicht mit mir erleben willst. Bedenke, daß ich, um eine Lebensart zu führen, die so wenig mit meiner Neigung übereinkommt, eine Anstrengung nöthig habe, die ihrer Ursache nicht unwürdig ist, und damit du siehest, welche Bemühungen mich dir zuführen können, erlaube, daß ich dir manchmal von den Lebensregeln, die man kennen muß, erzähle, und von den Hindernissen, die man zu überwinden hat.

Ungeachtet meines langsamen Schreibens und der unvermeidlichen Zerstreuungen war meine Sammlung schon fertig, als dein Brief zu gutem Glücke ankam, um meine Arbeit zu verlängern, und ich bewundere, indem ich seine Kürze betrachte, wie Vieles mir dein Herz in so geringem Raume zu sagen gewußt hat. Nein, ich behaupte, daß es nichts Köstlicheres zu lesen giebt, für Den der eine der unsrigen verwandte Seele hat. Aber wie wäre es möglich, dich nicht zu kennen, wenn man deine Briefe liest? Sieht man nicht bei jedem Satze den sanften Blick deiner Augen? Hört man nicht bei jedem Worte deine liebliche Stimme? Welche Andere als Julie hat je geliebt, gedacht, gesprochen, gehandelt, geschrieben wie sie? Sei also nicht erstaunt, wenn deine Briefe, die dich so ganz abmalen, manchmal auf deinen abgöttischen Liebhaber dieselbe Wirkung machen wie deine Gegenwart. Indem ich sie lese, rauben sie mir den Verstand, es schwillt mir vor den Sinnen, ein verzehrendes Feuer entzündet mein ganzes Wesen, mein Blut wallt und siedet, eine Wuth durchzittert mich. Ich glaube dich zu sehen, dich zu berühren, dich an meine Brust zu drücken …. Angebetetes Wesen, bezauberndes Mädchen, Quell aller Wonne und Wollust, wie soll ich, wenn ich dich sehe, nicht die Houris sehen, die der Seligen im Paradiese warten? .... O, komm …. Ich fühle sie .... und fort ist sie, ich umfasse einen bloßen Schatten .... Es ist wahr, geliebte Freundin, du bist zu schön und du warst zu zärtlich für mein schwaches Herz; es kann weder deine Schönheit vergessen, noch deine Liebkosungen; deine Reize tragen über die Abwesenheit den Sieg davon, sie verfolgen mich überall, sie machen, daß ich mich fürchte allein zu sein; und das ist der Gipfel meines Elendes, daß ich mich immer und immer nur mit dir beschäftigen kann.

Sie werden also verbunden werden, trotz der Hindernisse, oder vielmehr sie sind es schon, indem ich dieses schreibe! Liebenswerthes und würdiges Paar! möge der Himmel auf sie das Glück häufen, welches ihre verständige, ruhige Liebe, ihre Sittenreinheit, ihr Seelenadel verdient! möge er ihnen das kostbare Glück schenken, womit er so geizig ist gegen Herzen, die geschaffen sind, es zu schmecken! wie glücklich werden sie sein, wenn er ihnen Alles das gewährt, was er, ach, uns vorenthält! Aber dennoch fühlst du nicht eine Art Trost in unseren Leiden? fühlst du nicht, daß das Uebermaß unseres Elends nicht mehr ganz ohne Vergütung ist, und daß, wenn sie Freuden haben, deren wir beraubt sind, wir dafür solche haben, die sie nicht kennen? Ja, süße Freundin, trotz der Abwesenheit, der Entbehrungen, der Unruhe, trotz der Verzweigung selbst, liegt in dem gewaltigen Fluge zweier Herzen zu einander hin eine geheime Wollust, von der ruhige Seelen keine Ahnung haben. Es ist eines von den Wundern der Liebe, daß sie es uns zu einer Lust macht zu leiden; ja, für das größte Unglück, das uns treffen könnte, würden wir einen Zustand von Unempfindlichkeit und Vergessenheit halten. welcher uns jedes Gefühl unserer Schmerzen rauben wollte. Beklagen wir denn unser Loos, Julie, aber beneiden wir Niemanden! Es giebt vielleicht, Alles genommen, kein Dasein, das dem unseren vorzuziehen wäre, und wie die Gottheit all ihre Seligkeit aus sich selber nimmt, so finden die Herzen, welche ein himmlisches Feuer erwärmt, in ihren eigenen Gefühlen einen reinen köstlichen Genuß, der unabhängig von dem Schicksale und von der ganzen Welt ist.

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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