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Siebenundzwanzigster Brief.
Von Julie.

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Inhaltsverzeichnis

Beruhigen Sie sich wegen der Furcht, mich erzürnt zu haben: Ihr Brief hat mir mehr Schmerz als Zorn verursacht. Nicht mich, sich selbst haben Sie beleidigt durch eine Unordnung, an der das Herz keinen Theil hatte; es ist mir nur um so schmerzlicher: ich wollte lieber mich beschimpft als Sie erniedrigt sehen, und das Unrecht, das Sie sich selbst zufügen, ist das einzige, das ich Ihnen nicht verzeihen kann.

Den Fehltritt, dessen Sie sich schämen, nur an sich betrachtet, finden Sie sich weit strafbarer als Sie sind, und ich finde Ihnen bei dieser Gelegenheit nichts vorzuwerfen als Unklugheit, aber diese liegt weiter zurück und hat eine tiefere Wurzel, die Sie selbst unbemerkt lassen und die Ihnen die Freundschaft aufdecken muß.

Ihr erstes Versehen besteht darin, daß Sie bei Ihrem Eintritte in die Welt einen falschen Weg eingeschlagen haben: je weiter Sie schreiten, desto mehr verirren Sie sich, und ich sehe mit Schaudern, daß Sie verloren sind, wenn Sie nicht umkehren, Sie lassen sich unvermerkt in die Falle locken, die ich gefürchtet hatte. Die grobe Lockspeise des Lasters konnte Sie zuerst nicht reizen, aber die schlechte Gesellschaft hat damit angefangen, Ihre Vernunft irre zu führen, um Ihre Tugend zu zerstören, und macht nunmehr mit ihren Grundsätzen schon den ersten Versuch auf Ihre Sitten.

Obgleich Sie mir nichts Genaueres über die Gewohnheiten gesagt haben, welche Sie in Paris angenommen haben, ist es doch leicht, aus Ihren Briefen auf Ihren Umgang und aus Ihrer Auffassung der Dinge auf die Art Menschen, die sie Ihnen zeigen, einen Schluß zu machen. Ich habe Ihnen nicht verhehlt, wie wenig ich mit Ihren Berichten zufrieden war, Sie fuhren in demselben Tone fort und mein Mißvergnügen hat nur zugenommen. In Wahrheit, man möchte diese Briefe eher für Spottreden eines Petit-maitre [Gute Julie, aus wie vielerlei Gründen wirst du ausgelacht werden! Ei, ei, nicht winmal den Ton des Tages hast du! weißt nicht einmal, daß es wohl petites-maitresses giebt, aber keine petits-maitres mehr. Guter Gott! aber was weißt du denn?] als für Berichte eines Philosophen halten, und man hat Mühe zu glauben, daß sie von derselben Hand sind wie jene, die sie mir ehemals schrieben. Wie! Sie meinen die Menschen studiren zu können in den kümmerlichen Manieren einiger Coterien von Preziösen und Müßiggängern, und dieser äußerliche, veränderte Firniß, der kaum Ihren Blick auf sich zu ziehen verdiente, die Grundlage aller Ihrer Bemerkungen aus. Lohnte es denn der Mühe, mit so vielem Fleiß Gebräuche und Anstandsformen zusammenzulesen, die in zehn Jahren nicht mehr existiren werden, während die ewigen Triebfedern des menschlichen Herzens, das stete verborgene Spiel der Leidenschaften Ihren Nachforschungen entgeht? Nehmen wir Ihren Brief über die Frauen, was finde ich darin, das mich mit ihnen bekannt machen könnte? Ein Bißchen Beschreibung ihrer Art sich zu putzen, was alle Welt kennt; ein Bißchen boshafte Bemerkungen über ihre Art sich zu präsentiren, über das ungeregelte Leben einer kleinen Anzahl, das sie ungerechterweise zum Allgemeinen machen, als ob alles sittliche Gefühl in Paris erstorben wäre und als ob alle Frauen dort in Kutschen führen und Logen des ersten Ranges besuchten! Haben Sie mir irgend Etwas gesagt, das mich gründlich belehrte über ihre Denkungsart, ihre Neigungen, ihren wahren Charakter? und ist es nicht sehr sonderbar, daß ein vernünftiger Mann, der über die Frauen eines Landes spricht, Alles bei Seite läßt, was die Hauswirthschaft und die Kindererziehung betrifft [Und warum sollte er es nicht bei Seite lassen? Sind das Angelegenheiten, welche sie kümmern? Ei, was sollte da aus der Welt und aus dem Staate werden? Berühmte Autoren, qefeierte Akademiker, was sollte aus euch allen werden, wenn die Frauen ihr Scepter in der Literatur und in den Staatsgeschäften niederlegten, um das der Hauswirthschaft in die Hand zu nehmen?]? Das Einzige, was in diesem ganzen Briefe Sie verräth, ist das Vergnügen, das Sie darin finden, ihre natürliche Gutherzigkeit zu loben und das der Ihrigen Ehre macht; und auch darin haben Sie weiter Nichts gethan als dem Geschlecht im Allgemeinen Gerechtigkeit widerfahren lassen: in welchem Lande der Welt wäre nicht Sanftmuth und mitleidiger Sinn der liebenswürdige Antheil der Frauen?

Wie anders wäre das Gemälde ausgefallen, wenn Sie mir mehr geschildert hätten, was Sie selbst sahen, als was man Ihnen gesagt hat, oder wenigstens, wenn Sie verständige Leute zu Rathe gezogen hätten? Müssen Sie, sich so viele Mühe gegeben haben, Ihr Urtheil gesund zu erhalten, es ordentlich wie mit Fleiß zu Grunde richten im Umgange mit leichtsinnigen jungen Leuten, die in der Gesellschaft sittsame Personen nur deshalb aufsuchen, um sie zu verführen, nicht um von ihnen zu lernen! Sie geben falschen Anforderungen des Alters nach, die Ihnen nicht zusagen und lassen die der Vernunft und Besonnenheit außer Acht, die Ihnen wesentlich sind. Bei all Ihrem aufbrausenden Wesen sind Sie der nachgiebigste Mensch und bei aller Reife Ihres Geistes lassen Sie sich so von Denen leiten, mit denen Sie leben, daß Sie sich mit Leuten in Ihrem Alter nicht abgeben können, ohne sich tiefer zu stellen und wieder Kind zu werden. Sie setzen sich also herunter, indem Sie passend zu wählen glauben und bringen sich unter Ihren eigenen Standpunkt, wenn Sie sich nicht Freunde suchen, die verständiger sind als Sie.

Ich mache Ihnen nicht das zum Vorwurf, daß Sie, ohne es zu wissen, in ein unanständiges Haus geführt worden sind, wohl aber, daß Sie von jungen Officieren hingeführt wurden, die Sie nicht kennen sollten, oder denen Sie es wenigstens nicht überlassen sollten, Ihre Vergnügungen anzuordnen. In dem Vorhaben, diese Leute zu Ihren Grundsätzen zu bekehren, finde ich mehr gute Absicht als Klugheit: wenn Sie zu ernst sind, um ihr Kamerad zu sein, sind Sie doch zu jung, um ihr Mentor zu sein, und Sie sollten sich nicht darauf einlassen. Andere zu bessern, als bis Sie an sich selbst nichts mehr zu thun finden.

Ein zweiter noch schwererer und weit weniger verzeihlicher Fehler ist, daß Sie es vermocht haben, den Abend an einem Ihrer so wenig würdigen Orte zuzubringen und daß Sie nicht augenblicklich hinweggeeilt sind, sobald Sie gemerkt hatten, in was für einem Hause Sie sich befänden, Ihre Entschuldigungen in dieser Hinsicht sind kläglich. „Es war zu spät, um jetzt noch zurückzutreten!" als ob man an einem solchen Orte irgend eine Höflichkeitsrücksicht zu nehmen hätte, oder als ob die Höflichkeit jemals der Tugend vorgezogen werden dürfte und es je zu spät wäre, Unrecht zu meiden. Was das betrifft, daß Sie sich durch Ihren Widerwillen gesichert glaubten, so will ich nichts darüber sagen, der Ausgang hat Ihnen gezeigt, mit welchem Grunde. Seien Sie aber offner gegen Die, welche in Ihrem Herzen zu lesen versteht: die Scham war es, die Sie zurückhielt. Sie fürchteten, daß man sich über Sie lustig machen würde, wenn Sie gingen; der Augenblick des Auslachens machte Ihnen bange und Sie wollten sich lieber Gewissensbissen als dem Gespötte aussetzen. Wissen Sie wohl, welchen Grundsatz Sie bei dieser Gelegenheit befolgten? Einen solchen, der dem Laster den ersten Eingang öffnet in eine von Natur gute Seele, der die Stimme des Gewissens mit dem Schall der allgemeinen Meinung erstickt und die Kühnheit, Recht zu thun, durch Furcht vor Tadel unterdrückt. Mancher würde Versuchungen besiegen, der bösen Beispielen erliegt; mancher erröthet, sittsam zu sein und wird frech aus Scham, und solche falsche Scham verdirbt mehr züchtige Herzen, als es böse Neigungen thun. Davor besonders müssen Sie das Ihrige behüten: denn, was Sie auch thun mögen, die Furcht sich lächerlich zu machen, die Sie verachten, beherrscht Sie dennoch wider Ihren Willen, Sie würden eher hundert Gefahren Trotz bieten als einer Spötterei und man sah nie so viel Furchtsamkeit mit einer so unerschrockenen Seele gepaart.

Ich will hier nicht moralische Regeln gegen diesen Fehler auskramen, die Sie besser wissen als ich, ich will Ihnen nur ein Schutzmittel anempfehlen, das leichter und vielleicht zuverlässiger ist als alle philosophischen Betrachtungen, nämlich in Gedanken eine kleine Umstellung der Zeit zu machen und die Zukunft um einige Minuten vorauszunehmen. Hätten Sie sich bei diesem unseligen Souper gegen einen Augenblick Gespöttes von Seiten der Tischgenossen stark gemacht durch den Gedanken an den Zustand, in welchem sich Ihre Seele befinden würde, wenn Sie erst wieder auf der Straße wären: hätten Sie sich die innere Zufriedenheit im Voraus gedacht, die es Ihnen gewähren würde, den Fallstricken des Lasters entgangen zu sein, den Vortheil, gleich von Anfang an sich den Sieg zur Gewohnheit zu machen und dadurch auf die Dauer zu erleichtern, das Vergnügen, welches Sie in dem Bewußtsein des Sieges gefunden haben würden, die Freude, ihn mir zu schildern, meine eigene Freude darüber — ist es dann glaublich, daß das Alles nicht mächtiger gewesen wäre als eine augenblickliche Scheu, der Sie gewiß nicht würden nachgegeben haben, wenn Sie sich die Folgen lebhaft vorgestellt hätten? Dann auch, was ist es für eine Scheu, die Werth legt auf die Spöttereien von Menschen, deren Achtung keinen Werth hat? Unfehlbar würde Ihnen diese Erwägung für einen Augenblick falscher Scham, eine weit gerechtere, dauerndere Scham, Reue, Gefahr erspart haben, und, um Ihnen nichts zu verhehlen, Ihre Freundin hätte ein Paar Thränen weniger zu vergießen gehabt.

Sie wollten, sagten Sie, diesen Abend benutzen, um Ihr Geschäft als Beobachter zu treiben. Was für ein Amt! was für eine Aufgabe! o, wie machen michIhre Entschuldigungen schamroth Ihretwegen! Werden Sie nicht auch eines Tages neugierig werden, die Räuber in ihren Höhlen zu beobachten und zu sehen, wie sie es anstellen, um die Vorübergehenden auszuplündern? Wissen Sie denn nicht, daß es Dinge von so gehässiger Art giebt, daß es dem Ehrenmanne nicht erlaugt ist, sie auch nur mit anzusehen; daß der Zorn der Tugend das Schauspiel des Lasters nicht ertragen kann? Der weise beobachtet die öffentliche Unordnung, der er nicht Einhalt thun kann, mit Schmerz in seinen Mienen; aber der Privatunordnung widersetzt er sich oder wendet die Augen ab, um sie nicht durch seine Gegenwart scheinbar gut zu heißen. War es übrigens nöthig, dergleichen Gesellschaft zu sehen, um zu wissen, was in ihnen vorgeht und was für Reden da geführt werden? Ich wenigstens kann, nach ihrem Wesen schon und nach dem Wenigen, was Sie mir davon gesagt haben, leicht das Uebrige errathen, und, wenn ich mir das Vergnügen vorstelle, das dabei zu finden ist, so kenne ich auch die Leute, die danach gehen.

Ich weiß nicht, ob Ihre Philosophie sich bereits die Grundsätze angeeignet hat, die, wie man sagt, in den großen Städten über die Duldung solcher Orte herrschen; ich hoffe aber wenigstens, daß Sie nicht zu Denen gehören, welche sich selbst genug verachten, um sich die Benutzung derselben zu verstatten, unter dem Vorwande, ich weiß nicht welcher eingebildeten Nothwendigkeit, von der nur Leute von schlechtem Wandel etwas wissen. Als ob die beiden Geschlechter in dieser Hinsicht von verschiedener Natur wären und dem gesitteten Manne zur Zeit der Abwesenheit oder im Cölibate Aushülfen nöthig wären, deren die gesittete Frau nicht bedarf! Wenn dieser Wahn Sie nicht zu Prostituirten führt, so fürchte ich wenigstens, daß er auf die Dauer Sie selbst auf Irrwege führe. Oh! wenn Sie verächtlich sein wollen, seien Sie es wenigstens ohne Ausrede, und fügen Sie nicht der Unzucht noch die Lüge hinzu. Alle solche vorgeblichen Bedürfnisse haben ihre Quelle nicht in der Natur, sondern in freiwilliger Berückung der Sinne. Selbst die Vorspiegelungen der Liebe läutern sich in einem keuschen Herzen und verderben kein Herz, das nicht schon verdorben ist: im Gegentheile, die Reinheit erhält sich durch sich selbst; die Begierden, welche immer zurückgedrängt werden, gewöhnen sich, nicht wieder zu entstehen, und die Versuchungen vervielfältigen sich nur dadurch, daß man sich daran gewöhnt, ihnen zu erliegen. Zweimal hat mich die Freundschaft getrieben, meinen Widerstand gegen die Behandlung eines Gegenstandes dieser Art zu überwinden: dieses Mal wird das letzte Mal sein; denn durch welches Mittel dürfte ich hoffen von Ihnen zu erlangen, was Sie dem Anstande, der Liebe und der Vernunft nicht gewähren?

Ich komme zu dem wichtigen Punkte zurück, mit welchem ich diesen Brief begonnen habe. Zu einundzwanzig Jahren schickten Sie mir aus dem Wallis ernste, sinnige Schilderungen; zu fünfundzwanzig Jahren schreiben Sie mir aus Paris leeren Tand, Briefe, in denen ich Sinn und Urtheil überall einem gewissen witzelnden Tik aufgeopfert finde, der gar nicht in Ihrem Charakter liegt. Ich weiß nicht, wie Sie es angefangen haben, aber seitdem Sie an dem Sitz der Talente leben, scheinen die Ihrigen Ihnen auszugehen; Sie hatten bei den Bauern gewonnen, und mitten unter den schönen Geistern verlieren Sie. Es ist nicht die Schuld des Ortes, an dem Sie leben, sondern der Bekanntschaften, die Sie gemacht haben, denn nirgends muß man so sorgfältig wählen, als wo das Beste mit dem Schlechtesten vermischt ist. Wenn Sie die Welt studiren wollen, so sehen Sie verständige Leute, die sie aus langer Erfahrung und ruhiger Beobachtung kennen, nicht junge Sausewinde, die nur die Oberfläche sehen und Lächerlichkeiten, deren sie sich selbst schuldig machen. Paris ist voll von Gelehrten, die im Denken geübt sind und denen dieser große Schauplatz alle Tage dazu Stoff bietet. Sie werden mich nicht glauben machen, daß diese ernsten, fleißigen Männer wie Sie von Haus zu Haus, von Coterie in Coterie laufen, um die Frauen und das junge Volk zu amüsiren und in leeres Geschwätz ihre ganze Philosophie zu setzen. Sie besitzen zuviel Würde, um so ihren Stand zu erniedrigen, ihre Talente preis zu geben und durch ihr Beispiel Sitten zu befördern, die zu verbessern ihre Pflicht wäre. Wenn es auch die Meisten thäten, werden doch sicher Manche sein, die es nicht thun, und diese sollten Sie aufsuchen.

Ist es nicht auch noch sonderbar, daß Sie selbst in den Fehler verfallen, welchen Sie den modernen Lustspieldichtern vorwerfen, daß Paris für Sie nur angefüllt ist mit Leuten von Stande, und daß die Personen Ihres eigenen Standes die einzigen sind, von denen Sie nicht reden? Als ob Ihnen die Adelsvorurtheile nicht theuer genug zu stehen kämen, um sie zu hassen, und Sie sich herunterzusetzen glaubten, wenn Sie mit anständigen Bürgerlichen umgingen, die doch vielleicht dort den ehrenwerthesten Stand bilden, Entschuldigen Sie sich, nur nicht mit den Bekanntschaften Milord Eduard's: mit Hülfe Deren würde es Ihnen nicht schwer geworden sein, andere in einem niedrigeren Stande zu machen. So viele Leute wollen aufwärts steigen, daß es immer leicht ist, hinabzusteigen, und Ihrem eigenen Geständnisse nach, ist es das einzige Mittel, die wahren Sitten eines Volkes kennen zu lernen, daß man sein Privatleben in denjenigen Klassen, welche die zahlreichsten sind, studire: denn wenn man bei Denen stehen bleibt, welche immer repräsentiren, so sieht man nichts als Komödianten.

Ich wünschte wohl, daß Ihre Neugier noch weiter ginge. Warum ist in einer so reichen Stadt das niedere Volk so im Elend, während bei uns, wo es keine Millionäre giebt, die äußerste Entblößung so selten ist? Diese Frage verdient es, wie mir scheint, gar sehr, daß Sie Nachforschungen darüber anstellen, aber bei den Leuten, mit denen Sie leben, dürfen Sie freilich nicht hoffen, ihre Lösung zu finden. In den vergoldeten Appartements sieht sich um, wer Unterricht in den vornehmen Manieren der Welt haben will; aber der Weise läßt sich in ihre Mysterien einweihen in der Hütte des Armen. Dort gewahrt man augenscheinlich die finsteren Schliche des Lasters, jene Schliche, die es in der feinen Gesellschaft unter geschminkten Worten versteckt dort unterrichtet man sich, durch welche geheime Schändlichkeiten der Mächtige und Reiche den letzten Bissen Brot dem Unterdrückten entreißt, den er öffentlich zum Schein bedauert. Ach! wenn ich unseren alten Militärs in dieser Hinsicht Glauben schenken darf, was würden Sie erfahren in den Bodenkammern eines fünften Stockes, was für Dinge, die man in den Hotels des Faubourg Saint-Germain mit tiefem Schweigen bedeckt! und wie viel schöne Phrasenmacher würden beschämt dastehen mit ihren erheuchelten Humanitätsmaximen, wenn alle Unglücklichen, die sie zu Grunde gerichtet, sich einstellten, um sie Lügen zu strafen!

Ich weiß, man hat nicht gern den Anblick von Elend, das man nicht lindern kann, und selbst der Reiche wendet die Augen ab von dem Armen, dem er Hülfe versagt; aber es ist doch nicht Geld allein, was die Unglücklichen brauchen, und nur Die, welche träg im Gutesthun sind, wissen nur mit dem Beutel in der Hand Gutes zu thun. Tröstungen, Rathschläge, Pflege, Freunde, Protection, wie viele Hülfsmittel stehen, wenn man auch keine Reichthümer besitzt, dem Mitleid zu Gebote, um dem Dürftigen beizuspringen! Wie Mancher wird nur deshalb unterdrückt, weil es ihm an einem Organe fehlt, um seine Klage vernehmlich zu machen! Es liegt oft nur an einem Worte, das er nicht zu sprechen weiß, an einem Grunde, den er nicht entwickeln kann, an der Thür eines Vornehmen, die er sich nicht zu öffnen im Stande ist. Der furchtlose Muth uneigennütziger Tugend reicht schon hin, zahllose Hindernisse aus dem Wege zu räumen, und die Beredtsamkeit eines braven Mannes kann die Tyrannei inmitten ihrer Macht erschüttern.

Wenn Sie daher in Wahrheit Mensch sein wollen, lernen Sie wieder herabsteigen. Die Menschlichkeit fließt gleich einem reinen, erquickenden Wasser und befruchtet die tief gelegenen Orte; sie sucht immer den Abfall, sie läßt die öden Felsen trocken liegen, welche das Gefilde bedräuen und nur schädlichen Schatten geben oder Wetter entsenden, um die Nachbarschaft zu zerschmettern.

So, mein Freund, zieht man Vortheil von der Gegenwart, indem man sich zugleich für die Zukunft unterrichtet und die Güte nimmt die Zinsen vom Gewinne der Weisheit voraus, damit man, wären etwa die erlangten Aufklärungen unbrauchbar, deshalb doch nicht die Zeit verloren achten müsse, die man auf ihren Erwerb verwendet hat. Wer unter Leuten, die nach Stellen gehen, leben muß, kann sich nicht vorsorglich genug gegen ihre vergifteten Maximen waffnen, und da ist beständige Wohlthätigkeitsübung allein das, was die Herzen, und wären es die besten, wahrt, daß sie nicht von den Ehrgeizigen angesteckt werden. Trauen Sie mir, versuchen Sie es mit dieser neuen Art Studium, sie ist Ihrer würdiger als jene, die Sie unternommen haben; und wie der Geist sich verengt, je mehr die Seele verdirbt, so werden Sie umgekehrt bald fühlen, wie die Uebung erhabener Tugenden den Genius hebt und nährt, wie innige Theilnahme an fremdem Unglücke besser dazu hilft, die Quellen desselben zu entdecken und uns in jedem Sinne von den Lastern entfernt zu halten, die es hervorgebracht haben.

Ich war Ihnen bei der kritischen Lage, in der Sie sich zu befinden scheinen, alle Offenheit der Freundschaft schuldig, damit nicht ein zweiter Schritt aus der Bahn des ungeregelten Lebens, ehe Sie Zeit gewinnen, sich selbst wieder zu finden, Sie so weit reiße, daß keine Umkehr mehr möglich ist. Nun aber kann ich Ihnen nicht verbergen, mein Freund, wie sehr mich Ihr schleuniges und aufrichtiges Bekenntniß gerührt hat, denn ich fühle, wie schwer Ihnen das beschämende Geständniß geworden ist, und daran wieder, wie die Scham über Ihren Fehltritt Ihr Herz belastete. Eine unfreiwillige Verirrung vergiebt und vergißt sich leicht. Für die Zukunft behalten Sie folgenden Grundsatz im Sinne, von dem ich nicht abgehen werde: Wer sich in einem Falle dieser Art zweimal verirren kann, hat sich auch das erste Mal nicht verirrt.

Adieu, mein Freund: wache sorgfältig über deine Gesundheit, ich beschwöre dich, und denke daran, daß keine Spur übrig bleiben darf von einem Vergehen, das ich verziehen habe.

N. S. Ich habe eben in den Händen des Herrn von Orbe Abschriften von mehren Ihrer Briefe an Milord Eduard gesehen, die mich nöthigen, von meinem Tadel über den Inhalt und die Form Ihrer Briefe einen Theil zurückzunehmen. Diese Briefe behandeln, muß ich gestehen, wichtige Gegenstände und scheinen mir voll von ernsten und einsichtigen Bemerkungen. Aber dafür ist nun wieder klar, daß Sie uns sehr geringschätzen, meine Cousine und mich, oder daß Sie sich aus unserer Achtung recht wenig machen, da Sie uns nur Berichte schicken, die so sehr geeignet sind sie zu schwächen, während Sie für Ihren Freund weit bessere abfassen. Sie gönnen damit, scheint mir, Ihrem Unterricht wenig Ehre, wenn Sie Ihre Schülerinnen unwerth achten, Ihre Leistungen zu bewundern, und Sie sollten wenigstens aus Eitelkeit so thun, als ob Sie uns für fähig hielten, Sie zu verstehen.

Ich gebe zu, daß die Politik nicht zum Ressort der Frauen gehört, und mein Onkel hat uns so damit gelangweilt, daß ich wohl begreife, wie Sie Scheu tragen konnten, es ebenfalls zu thun. Es ist auch, offen gesagt, nicht das Studium, dem ich den Vorzug geben würde: ihr Nutzen liegt mir zu fern, als daß sie mir sehr zu Herzen gehen sollte, und ihre Erleuchtung ist zu hoch, um mir lebhaft in's Auge zu fallen. Da ich genöthigt bin, die Regierungsform zu lieben, unter welcher ich geboren bin, so kümmere ich mich wenig darum, ob es bessere giebt. Was würde es mir frommen, sie zu kennen, da ich es so wenig in meiner Macht habe, ihnen Eingang zu verschaffen? Und warum sollte ich mir das Herz damit beschweren, so große Uebel zu betrachten, gegen die ich nichts vermag, solange ich andere um mich her sehe, die ich vermögend bin zu lindern? Aber ich liebe Sie, und den Antheil, den ich an den Gegenständen nicht nehme, nehme ich doch an dem Verfasser, der sie behandelt. Ich sammle mir mit zärtlicher Bewunderung alle Proben Ihres Talentes ein, und stolz auf ein Verdienst, das meines Herzens so würdig ist, verlange ich von der Liebe nur so viel Geist als nöthig ist, den Ihrigen zu empfinden. Versagen Sie mir also die Freude nicht, alles Gute, was Sie schaffen, zu kennen und zu lieben. Wollen Sie mir die Demüthigung bereiten, daß ich glauben muß, wenn der Himmel uns vereinigte, so würden Sie Ihre Lebensgefährtin nicht würdig achten, mit Ihnen zu denken?

Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe)

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