Читать книгу Jean Jacques Rousseau: Romane, Philosophische Werke, Essays & Autobiografie (Deutsche Ausgabe) - Jean-Jacques Rousseau - Страница 91
Siebzehnter Brief.
An Julie.
ОглавлениеDa wäre ich denn nun ganz in dem Strome! Als meine Sammlung fertig war. fing ich an das Theater zu besuchen und Soupers in der Stadt mitzumachen. Ich bringe meinen ganzen Tag in der Welt hin, ich leihe Allem, was sich mir darbietet, Aug' und Ohr, und, da ich nichts finde, was dir gleicht, so sammle ich mich mitten in dem Lärm und plaudere im Stillen mit dir. Nicht, als hätte nicht dieses geräuschvolle und bewegte Leben auch seinen Reiz, und der wunderbare Wechsel der Gegenstände eine gewisse Annehmlichkeit für den Neuling; aber um ein Gefühl dafür zu haben, muß das Herz leer und der Sinn leichtfertig sein; es ist, als ob sich Liebe und Vernunft verbänden, mir das ganze Treiben zum Ekel zu machen. Da Alles nur eitler Schein ist, und jeder Augenblick Neues bringt, so läßt mir Nichts Zeit, mich von ihm bewegen zu lassen. Nichts Zeit, es nur recht zu Prüfen.
So fange ich denn nun an zu sehen, wie schwer es ist, die Welt zu studiren, und ich weiß nicht einmal, welche Stellung man einnehmen müßte, um sie ordentlich kennen zu lernen. Der Philosoph steht ihr zu fern, der Weltmann zu nah. Jener sieht zu viel, um zum Nachdenken zu kommen, dieser zu wenig, um das Ganze beurtheilen zu können. Der Philosoph betrachtet jeden Gegenstand, der ihm in's Auge fällt, einzeln, und, außer Stande, dessen Zusammenhänge und Beziehungen zu andern Gegenständen, die zufällig nicht in seinem Bereiche liegen, zu erkennen, sieht er denselben nie an seiner Stelle und begreift weder die Ursache noch die wahren Wirkungen. Der Weltmann sieht Alles, aber hat nicht Zeit, an etwas zu denken; der schnelle Wechsel der Gegenstände erlaubt ihm nur, sie zu bemerken, nicht sie zu beobachten; die Eindrücke verwischen in Eile einer den andern, und nichts bleibt ihm davon zurück, als ein verworrenes Bild, das einem Chaos gleicht.
Man kann auch nicht abwechselnd dann beobachten, dann nachdenken, weil das Schauspiel eine unausgesetzte Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, die das Denken unterbrechen würde. Ein Mensch, der seine Zeit zwischen Welt und Einsamkeit theilen wollte, würde, in seiner Znrückgezogenheit ewig voll Unruhe und in der Welt ewig fremd, auf keiner Seite recht sein. Es möchte kein anderes Mittel geben, als sein ganzes Leben in zwei große Hälften zu theilen, die eine, um zu sehen, die andere, um zu überdenken; aber auch das ist beinahe unmöglich, denn die Denkkraft ist kein Geräth, das man nach Belieben bei Seite legt und wieder hervorholt, und wer zehn Jahre hat leben können, ohne zu denken, der wird in seinem ganzen Leben nicht denken.
Ich finde auch, daß es eine Thorheit ist, die Welt als bloßer Zuschauer studiren zu wollen. Wer nichts weiter will, als Beobachtungen machen, macht keine, weil er, als ein bei Geschäften unnützer und bei Vergnügungen lästiger Gesell, nirgend zugelassen wird. Man sieht die Anderen nur thätig, so weit man selbst mit thätig ist; in der Schule der Welt, wie in der Schule der Liebe muß man von Anfang an ausübend lernen.
Welche Rolle soll ich also spielen, als Fremder, der keinerlei Geschäft im Lande hat, und schon durch die Religionsverschiedenheit allein verhindert ist, nach irgend einer Stellung zu streben? Ich bin gezwungen, mich wegzuwerfen, um mich zu unterrichten, und da ich mich auf keine Weise nützlich machen kann, muß ich unterhaltend zu sein trachten. Ich übe mich, so gut es gehen will, mir Artigkeit anzueignen ohne Falschheit, gefällig zu sein, ohne mich zu erniedrigen, und mir Alles, was die Gesellschaft Gutes hat, herauszunehmen, daß ich in ihr gelitten werden könne, ohne ihre Laster zu theilen. Ein müßiger Mensch, der die Welt sehen will, muß wenigstens ihre Manieren bis auf einen gewissen Punkt annehmen: denn was für ein Recht hätte man, auf Zutritt Anspruch zu machen bei Leuten, denen man zu nichts auf der Welt nütze ist und bei denen man sich nicht beliebt zu machen weiß? Versteht man dies letztere, so wird dann auch nichts weiter verlangt, sonderlich von einem Fremden. Er braucht an den Kabalen, Intriguen, Händeln keinen Theil zu nehmen; wenn er sich gegen Jedermann schicklich beträgt, gewissen Frauen weder Zurücksetzung noch Vorzug zu Theil werden läßt, aus den Gesellschaften, in denen er aufgenommen ist, nichts ausplaudert, die Lächerlichkeiten des einen Hauses nicht in dem andern zum Besten giebt, Vertraulichkeiten vermeidet, Zänkereien von sich fern hält, überhaupt sich eine gewisse Würde bewahrt, so wird er ruhig die Welt sehen können, ohne seine Sitten, seine Rechtschaffenheit zu verleugnen, selbst seine Freimüthigkeit, vorausgesetzt, daß diese aus Freisinnigkeit, nicht aus Parteigeist entspringe. So habe ich es zu machen gesucht, nach dem Rathe einiger einsichtsvollen Personen, die ich mir unter den Bekanntschaften, welche ich Milord Eduard verdanke, zu Führern gewählt habe. Ich habe nun angefangen in minder zahlreichen und gewählteren Gesellschaften Zutritt zu erhalten. Ich hatte bisher nur regelmäßigen Diners beigewohnt, wo sich keine Frau blicken läßt, außer der Herrin des Hauses und wo alle Pflastertreter von Paris, so viel man ihrer kennt, Zutritt haben,
wo dann Jeder sein Diner, je nach Vermögen, mit Geist oder mit Schmeichelei bezahlt und wo es daher Gewirr und Lärm giebt, nicht viel anders an Wirthshaustischen.
Ich bin jetzt in geheimere Mysterien eingeweiht. Ich wohne eingeladenen Soupers bei, wo die Thür dem zufällig Kommenden verschlossen ist und wo man drauf rechnen kann, nur Leute zu finden, die, wenn nicht sich unter einander, doch wenigstens ihren Wirthen angenehm sind. Da geben die Frauen weniger auf sich Acht und man kann schon anfangen, sie zu studiren; es werden da in größerer Ruhe feinere und sarkastischere Reden geführt; anstatt der öffentlichen Neuigkeiten, des Theaters, der Beförderung, der Todesfälle, der Heiraten, die man am Morgen besprochen hat, zieht man da behutsam die Stadtgeschichten durch die Hechel, entschleiert alle geheimen Angelegenheiten der Chronique scandaleuse, macht das Gute wie das Böse auf gleiche Weise komisch und lächerlich, und, indem Jeder mit Kunst nach seinem besonderen Zwecke die Charaktere Anderer malt, malt er, ohne daran zu denken, noch weit besser seinen eigenen; da gebraucht man wohl noch einen Rest von Scheu vor den Lakaien eine gewisse geschraubte Sprache, durch welche man unter dem Vorwandte die Satyre zu verhüllen, sie nur beißender macht; da mit einem Worte, schleift man den Dolch auf's feinste, vorgeblich um weniger weh zu thun, in Wahrheit, um tiefer zu stoßen.
Indessen, nach unseren Vorstellungen, würde man Unrecht haben, diese gesellschaftlichen Reden satyrisch zu nennen, denn sie sind weit mehr höhnisch als beißend und treffen weniger das Laster als die Lächerlichkeiten. Im Allgemeinen hat die Satyre wenig Curs in großen Städten, wo das, was blos schlecht ist, so zur Tagesordnung gehört, daß es nicht Mühe lohnt davon zu sprechen. Was bleibt zu tadeln übrig, wo die Tugend nicht mehr geschätzt wird? Und worüber sollte man medisiren, wenn man nichts mehr unrecht findet? In Paris besonders, wo man Alles nur von der spaßhaften Seite nimmt, wo Alles, was Zorn und Entrüstung erregen sollte, nicht eher Eingang findet als bis es in ein Chanson oder Epigramm gebracht ist. Die hübschen Frauen lassen sich nicht gern böse machen, auch macht sie nichts böse, sie lachen gern und da in Unthaten kein Stoff zum Lachen liegt, so sind die Schurken ordentliche Leute wie alle Welt. Aber wehe Dem, der sich dem Gelächter bloßstellt; sein Brandmal ist unvertilgbar; der Spott zerfetzt nicht allein Sittlichkeit und Tugend, nein, zeichnet selbst das Laster, hängt dem Buben Verleumdungen an. Aber wieder zu unseren Soupers.
Was mich in diesen gewählten Gesellschaften am meisten in Erstaunen setzt, ist, daß sechs Personen, die ausdrücklich zusammengekommen sind, um sich angenehm zu unterhalten und die meistens auch noch in geheimen Liaisons mit einander stehen, keine Stunde unter sich sein können, ohne halb Paris in ihren Kreis zu ziehen, als ob sich ihre Herzen nichts zu sagen hätten und Niemand zugegen wäre, der ihre Theilnahme verdiente. Erinnerst du dich, meine Julie, wie wir, wenn wir bei deiner Cousine oder bei dir zu Abend aßen, trotz Zwang und Heimlichkeit, die Unterhaltung auf Gegenstände lenkten, welche auf uns Bezug hatten, und wie bei jeder rührenden Bemerkung, bei jeder feinen Anspielung ein Blick rascher als der Blitz, ein Seufzer mehr geahnt als vernommen die süße Empfindung von dem einen Herzen zu dem andern trug?
Lenkt sich die Unterhaltung zufällig auf die Tischgenossen, so tritt gemeinlich ein gewisser Gesellschafts-Jargon ein, dessen Schlüssel man besitzen muß, um ihn zu verstehen. Mittelst dieser Chiffre machen sie auf einander je nach der Mode tausend Sticheleien, in denen wer am wenigsten glänzt, nicht gerade der dümmste zu sein braucht, während jeder Dritte, der nicht eingeweiht ist, schweigen und sich langweilen oder Dinge belachen muß, die ihm unverständlich sind. Da hast du nun, Zusammenkünfte unter vier Augen abgerechnet, von denen ich nichts weiß noch wissen werde, Alles, was die geselligen Verbindungen hier zu Lande Herzliches und Liebevolles bieten.
Wenn mitten unter dem Allen irgend ein Mann von Gewicht etwas Bedächtiges sagt, oder einen ernsten Gegenstand zur Sprache bringt, so richtet sich sogleich die allgemeine Aufmerksamkeit darauf; Männer, Frauen, alte und junge Leute, Alles ist bei der Hand ihn unter allen Gesichtspunkten zu betrachten und es ist zum Erstaunen, wie viel Sinniges und Vernünftiges alle diese Sausewinde vorzubringen wissen [Wofern nicht ein Witz wieder dazwischen fährt und aller Ernsthaftigkeit ein Ende macht; denn alsdann überbietet sich gleich alle Weit. Alles geht durch und es ist nicht möglich, wieder in den ernsthaften Ton zu kommen. Ich erinnere mich einer Handvoll Bretzeln, die eine Jahrmarktskomödie komisch in Verwirrung brachte; die Schauspieler waren aber lauter Thiere. Wie viele Dinge sind für viele Menschen solche Bretzeln! Es ist bekannt, wen Fontanelle mit dem Tirynthiervolk (Todtengespräche: Parménisque et Théocrite de Chio) schildern wollte.]. Ein moralisches Thema könnte in einer Gesellschaft von Philosophen nicht besser abgehandelt werden, als es in dem Cirkel einer
hübschen Frauen von Paris geschiet; es würden dort sogar oft weniger strenge Schlüsse gezogen werden: denn der Philosoph, der nach seinen Worten thun will, sieht erst zweimal zu; hier aber, wo alle Moral ein bloßes Gerede ist, kann man seine Forderungen hoch spannen, ohne weitere Folgen, und man nimmt es sich auch wohl nicht übel, um den philosophischen Stolz ein wenig zu dämpfen, der Tugend eine so hohe Stelle zu geben, daß der Weise selber sie nicht erreichen kann. Uebrigens kommen Alle, Männer und Frauen, belehrt durch die Welterfahrung und durch ihr eigenes Gewissen, darin überein, so schlecht als möglich von dem Menschengeschlecht zu denken, indem sie stets einer trübseligen Philosophie huldigen, stets aus Eitelkeit die menschliche Natur herabsetzen, stets das Gute was geschieht aus irgend einem schlechten Beweggrunde ableiten, stets, ihrem eigenem Herzen nach, dem Herzen des Menschen Uebles nachreden.
Dieser herabwürdigenden Weisheit ungeachtet, ist bei diesen friedlichen Unterhaltungen einer der Lieblingsgegenstände immer das Sentiment; wobei man nicht an eine trauliche Herzensergießung in den Busen der Liebe oder der Freunschaft denken muß — das wäre ja zum Sterben langweilig — sondern es ist die Empfindung gemeint, die man in hochtönende allgemeine Sätze destilirt und auf alle möglichen metaphysischen Subtilitäten abgezogen hat. Ich kann sagen, daß ich in meinem Leben nicht so viel von Empfindungen sprechen gehört und so wenig begriffen habe, was damit gemeint sei. Es ist lauter ungenießbares Raffinement. O Julie, unsere plumpen Herzen haben nie etwas geahnt von allen diesen schönen Grundsätzen, und ich fürchte, daß es mit der Empfindung den Weltleuten geht, wie den Pedanten mit dem Homer, die aus ihm tausend eingebildete Schönheiten herausklauben, weil sie seine wirklichen Schönheiten nicht fassen. Sie geben so alle ihre Empfindung im Geist aus: und es verdampft davon im Geplauder so viel, daß für die Praxis nichts übrig bleibt. Zum Glück hilft die gute Manier aus, und man thut aus Schicklichkeit ungefähr dasselbe, was man aus Gefühl thun würde, wenigstens so viel, daß es nur Phrasen und etwas vorübergehenden Zwang, den man sich auflegt, kostet, um sich einen guten Leumund zu machen; denn wenn die Opfer so weit gehen sollten, sich zu viel Zwang anzuthun oder zu theuer zu kommen, dann gute Nacht Sentiment; so viel muthet Einem die Schicklichkeit nicht zu. Dies abgerechnet ist es gar nicht zu glauben, wie Alles abgemessen und bestimmt ist in dem, was sie procédés [„Die Art, wie man sich zu benehmen hat," — Die Ausdrücke Sentiment, procédés mußten als technische in der Uebersetzung beibehalten werden. D. Ueb.] nennen; sie haben Alles, weil es nicht mehr im Gefühle liegt, in Regeln gebracht und es ist eben Alles Regel bei ihnen. Steckte dies Volk von Nachbetern ganz voll von Originalen, man würde nichts davon merken; denn Niemand getraut sich er selbst zu sein. „Man muß es wie die Andern machen" ist die erste Lebensregel hier zu Lande; „das thut man, das thut man nicht" die letzte Entscheidung.
Dieser Schein von geregeltem Wesen giebt dem gemeinen Brauche den komischsten Anstrich von der Welt, selbst in den ernsthaftesten Dingen, Man weiß auf's Haar, wann man sich muß nach dem Befinden erkundigen, wann sich aufschreiben lassen, d. h. eine Visite machen, die man nicht macht, wann eine wirklich machen, wann zu Hause sein, wann nicht, wiewohl man es ist, was anbieten, welche Anerbietungen ablehnen, wie betrübt bei so und so einem Todesfalle sein [Sich über den Tod eines Menschen betrüben ist eine menschliche Empfindung und das Zeichen eines guten Herzens, aber keine Tugendpflicht, wäre der Verstorbene auch unser Vater. Wer in solchem Falle keine Traurigkeit im Herzen hat, soll auch keine äußerlich zur Schau tragen; denn es ist weit wesentlicher, alle Falschheit zu meiden, als sich der Schicklichkeit zu unterwerfen.], wie lange auf dem Lande weinen, an welchem Tage sich trösten und in die Stadt zurückkehren, wann, auf Stunde und Minute, wieder einen Ball geben und in's Schauspiel gehen. Alle Welt thut in gleichem Falle genau dasselbe, Alles geht im Takte, wie die Bewegungen eines Regiments in Schlachtordnung, es ist, als ob man lauter Marionetten sähe, die von demselben Draht regiert werden.
Da es nun unmöglich ist, daß alle diese Leute, die genau das Nämliche thun, auch genau die nämliche Empfindung haben, so ist klar, daß es anderer Mittel, sie zu durchschauen, bedarf, wenn man sie kennen lernen will; klar, daß all ihr Geschwätz nur eingelernte Formel ist und nicht sowohl die Gesittung anzeigt, als vielmehr, was in Paris zum guten Tone gehört. Man erfährt, was da geredet wird, aber niemals, was davon zu halten ist. Dasselbe muß ich von den meisten neuen Schriften sagen; dasselbe auch vom Theater, welches seit Molière weit mehr ein Ort ist, wo artige Conversationen zum Besten gegeben werden, als eine Darstellung des bürgerlichen Lebens. Es giebt hier drei Theater, auf deren zweien phantastische Wesen vorgeführt werden, nämlich auf dem einen Harlekins, Pantalons, Skaramuze; auf dem andern Götter, Teufel, Zauberer. Auf dem dritten werden jene unsterblichen Stücke gegeben, die wir mit so großem Vergnügen lasen und andere neuere, die von Zeit zu Zeit auf die Bühne kommen. Manche von diesen letzteren sind Tragödien, aber nichts recht Ergreifendes; und wenn auch hin und wieder ein natürliches Gefühl oder eine wahre Beziehung zum menschlichen Herzen darin zu finden ist, gewähren sie doch keine Art Belehrung über die eigenthümliche Gesittung des Volkes, dem sie zur Belustigung dienen.
Die Tragödie hatte zur Zeit ihrer Erfindung eine religiöse Grundlage, wodurch ihre Einführung hinreichend gerechtfertigt war. Außerdem bot sie den Griechen in den Niederlagen der Perser, ihrer Feinde, in den Verbrechen und Thorheiten der Könige, von denen sich das Volk frei gemacht hatte, ein lehrreich unterhaltendes Schauspiel dar. Wollte man in Bern, in Zürich, im Haag die alte Tyrannei des Hauses Oesterreich darstellen, so würde die Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit diesen Stücken unsere Theilnahme zuwenden; man sage mir aber, was sich hier mit den Trauerspielen Corneille's anfangen lasse und was das Volk von Paris Pompejus oder Sertorius angeht. Die griechischen Tragödien hatten wirkliche Begebenheiten zum Gegenstande oder doch solche, die der Zuschauer dafür nahm und die sich auf geschichtliche Ueberlieferungen gründeten. Aber was will eine heldenmütige, reine Liebe in der Seele der Großen? Sollte man nicht denken, die inneren Kämpfe der Liebe und der Tugend machen ihnen oft schlaflose Nächte, und das Herz spiele eine große Rolle bei den fürstlichen Heiraten? Sage dir nun, wie viel Wahrscheinlichkeit und welchen Nutzen alle diese Stücke haben, die sich lediglich um einen so phantastischen Gegenstand drehen!
Was das Lustspiel anlangt, so ist gewiß, daß es die Sitten des Volkes, für welches es geschrieben ist, nach der Natur darstellen soll, damit letzteres sich von seinen Lastern und Fehlern bessere, wie man vor einem Spiegel die Flecken aus seinem Gesichte wegschafft, Terenz und Plautus vergriffen sich schon in ihrem Gegenstande, aber vor ihnen Aristophanes und Menander hatten den Athenern athenische Sitten vorgeführt, und in neuerer Zeit hat Molière allein, noch naiver als jene, den Franzosen des vorigen Jahrhunderts ihre eigenen Sitten vor Augen gehalten. Das Gemälde ist jetzt ein anderes, aber es hat sich kein Maler wieder gefunden. Jetzt copirt man auf dem Theater die Conversationen, wie sie in etwa hundert Häusern von Paris bräuchlich sind; weiter erfährt man da nichts von den französischen Sitten. Es giebt in dieser großen Stadt fünf- bis sechsmal hunderttausend Seelen, von denen auf der Bühne nie die Rede ist. Molière wagte es, Bürger und Handwerker so gut wie Marquis zu schildern; Sokrates ließ Fuhrleute, Schreiner, Schuster, Maurer [Nach einer Stele bei Montaigne, s. Liv. III chap. 12. „Er führt immer nur Fuhrleute, Tischler, Maurer im Munde u.s.w.“ Vergl. Xenophon's Erinnerungen an Sokr. B. III. C. 10. D. Ueb.] sprechen. Aber die heutigen Schriftsteller, Leute von ganz anderem Ansehen, würden sich für entehrt halten, wenn sie wüßten, was im Comptoir eines Kaufmanns oder in der Bude eines Handwerkers vorgeht; sie müssen immer erlauchte Herren zu handelnden Personen haben und legen in den Rang derselben die Hoheit, die sie ihnen nicht in den Sinn zu legen wissen. Die Zuschauer selbst sind so ekel geworden, daß sie besorgt sind, sich vor den Brettern wie bei der Visite zu compromittiren und sich nicht herablassen mögen, im Stücke Leute geringeren Standes als sie sind, vor sich zu sehen. Sie achten sich für die einzigen Erdenbürger, alle Uebrigen sind in ihren Augen Nichts. Wer eine Kutsche, einen Schweizer, einen Hausmeister hat, der ist comme tout le monde. Um „wie alle Welt" zu sein, muß man wie sehr wenige Menschen sein. Die, welche zu Fuße gehen, gehören nicht zur Welt; das ist Bürgerpack [Wieder das bourgois. Vgl. oben die Anmerk. D. Ueb.] Pöbel, Volk aus einer andern Welt: man möchte sagen, daß eine Kutsche nicht sowohl zum Fahren als zur Existenz unenthehrlich sei. Es giebt somit eine Hand voll anmaßender Gesellen, die nur sich in der Welt zählen und die in der That nicht zählenswerth sind, außer des Bösen wegen, das sie thun. Für sie einzig und allein werden die Theaterstücke gemacht. Sie erscheinen da zugleich vorgestellt, in der Mitte des Theaters, und vorstellend, zu beiden Seiten; sie sind Personen auf der Bühne und Schauspieler auf den Bänken. So verschränken sich die Sphären der Welt und der Dichtung und das moderne Schauspiel weicht keinen
Schritt breit von seiner langweiligen Grandezza. Man kann da den Menschen nicht mehr anders vorführen als im bordirten Kleide. Man sollte meinen, Frankreich sei mit nichts als Comtes und Chevaliers bevölkert und je bettelhafter und elendiglicher das Volk ist, desto pomphafter und prächtiger ist das Conterfei des Volkes auf den Brettern. Daher geschieht es, daß durch die Schilderung von Lächerlichkeiten derjenigen Stände, die den andern zum Muster dienen, diese Lächerlichkeiten mehr ausgebreitet als vertilgt werden, und daß das Volk. das stets der Affe der Reichen ist, weniger in's Theater geht, um ihre Narrheiten zu belachen, als um sie zu studiren und noch närrischer zu werden als seine Vorbilder, Das ist ein Fehler, dessen sich auch Molière selbst schuldig gemacht hat; er besserte den Hof und steckte die Stadt an, und seine lächerlichen Marquis waren die ersten Muster der bürgerlichen Stutzer, die sich nach ihnen bildeten.
Im Allgemeinen ist viel Gerede und wenig Handlung auf der französischen Bühne; vielleicht liegt es daran, daß in der Wirklichkeit der Franzose mehr spricht als er handelt, oder wenigstens, daß er von dem, was man sagt, mehr Wesen macht, als von dem, was man thut. Jemand, der aus einem Stücke des Tyrannen Dionys kam, sagte: Ich habe Nichts gesehen, aber viel Redens gehört [Plutarch „Vom Hören" Cap. 7. Der Tyrann Dionys ist nur vermuthungsweise zum Verfasser jenes Stückes gemacht morden; die gewöhnliche Leseart an der betr. Stelle hat den Namen Diogenes, und es gab auch einen Tragiker dieses Namens in Athen. Die Stelle bei Plutarch lautet: ,,Melanthius soll auf die Frage, was er zu dem Trauerspiel des Diogenes meine, geantwortet haben: Ich kann vor allem Wortschwall nichts sehen." D. Ueb.]. Dasselbe kann man sagen, wenn man aus dem französischen Schauspiel kommt. Racine und Corneille sind, bei all ihrem Genie, nichts weiter, als Phrasenmacher, und ihr Nachfolger ist der erste, der, nach englischem Muster, manchmal Handlung auf die Bühne zu bringen gewagt. Gemeinhin verläuft Alles in schönen, wohlgesetzten, hochtrabenden Reden und Gegenreden, bei denen man vor allen Dingen sieht, daß jede der redenden Personen nichts Angelegentlicheres zu thun hat, als zu brilliren. Fast Alles wird in Gemeinsprüchen gesagt. In welcher Aufregung die Leute sein mögen, immer denken sie mehr an das Publikum als an sich; eine Sentenz wird ihnen nicht so sauer als ein Ausdruck des Gefühls; Racine und Molière [Es ist Unrecht, hier Molière und Racine zusammenzustellen; denn der Erstere ist, wie alle Anderen voller Maximen und Sentenzen, sonderlich in seinen gereimten Stücken; aber bei Racine ist Alles Empfindung; er hat es verstanden, Jeden für sich sprechen zu lassen, und er ist darin wahrhaft einzig unter den Dramatikern seiner Nation.] ausgenommen ist das „Ich" fast ebenso verpönt auf der französischen Bühne als in den Schriften von Port-Royal [S. „Bekenntn." Th. 3. S. 89. Anm. D. Ueb. ], und die menschlichen Leidenschaften, bescheiden wie die christliche Demuth, sprechen nie anders als in „Man". Dazu kommt noch eine gewisse manierirte Würde in der Haltung und Ausdrucksweise, welche der Leidenschaft nie erlaubt, ihre eigene Sprache zu sprechen, noch dem Schauspieler, die Person, die er darstellt, anzuziehen und sich an den Ort der Handlung zu versetzen, sondern ihn stets an die Bretter gefesselt und unter den Augen des Zuschauers hält. Auch bei den lebendigsten Situationen vergißt er niemals, schön zu declamiren und geschmackvolle Stellungen zu machen, und hat ihm die Verzweiflung einen Dolch ins Herz gestoßen, so begnügt er sich nicht damit, wie Polyrena [Vriam's Tochter, die auf dem Grabe des Achill geopfert wird und noch im Niederfallen Sorge trägt, sich schamhaft zu verhüllen. S. Ovid's Metamorph. 13. V. 478 und 479. D. Ueb.], mit Anstand zu fallen, nein, er fällt gar nicht; der Schicklichkeit zu Liebe bleibt er todt stehen und alle, die auf dem Theater sterben, gehen im nächsten Augenblick auf ihren Beinen davon.
Das Alles kommt daher, weil der Franzose auf der Bühne nicht Natürlichkeit und Täuschung sucht, sondern nur etwas Geistreiches und Gedanken verlangt; er legt auf die zierliche Form, nicht auf die Nachahmung des Gegenstandes Werth, und will nicht hingerissen, sondern nur gut unterhalten sein. Niemand geht in's Schauspiel, um sich am Schauspiel zu vergnügen, sondern um Gesellschaft zu sehen und gesehen zu werden, um Stoff zum Geklatsche nach der Vorstellung zu sammeln; und man denkt bei dem, was man sieht, nur was sich darüber wird sagen lassen. Der Schauspieler ist ihnen immer der Schauspieler, nie die Person, welche er vorstellt. Dieser Mensch, der sich als der Gebieter der Welt vernehmen läßt, ist nicht Augustus, sondern Baron, des Pompejus Witwe ist Adrienne, Alzire ist Mademoiselle Gaussin und dieser trotzige Wilde Grandval. Die Schauspieler denken ihrerseits nicht daran, eine Täuschung hervorzubringen, weil sie sehen, daß danach Niemand fragt, Sie stellen die Helden des Alterthums zwischen sechs Reihen junger Pariser, stoppeln die französischen Moden auf das Römergewand; man sieht Cornelia in Thränen mit zwei Finger hoch Roth, Caro weiß gepudert und Brutus en panier. Das Alles fällt keinem Menschen auf und thut dem Effect der Stücke keinen Eintrag. Wie in der handelnden Person nur der Schauspieler, so sieht man in dem Drama nur den Verfasser, und wenn auf Costüm nicht gehalten wird, so ist das leicht zu verzeihen, denn man weiß doch, daß Corneille kein Schneider und Crebillon kein Perruquier war.
Also von welcher Seite ich die Dinge auch betrachten mag, ist Alles hier nichts als Redensart, Geschwätz, und Floskel ohne Ernst und Bedeutung. Auf der Bühne wie in der Welt ist es vergeblich auf das zu achten, was gesprochen wird, man erfährt daraus nicht, was gethan wird. Und was braucht man es auch zu wissen? Sobald Jemand geredet hat, ist dann die Frage: wie führt er sich auf? Ei, hat er nicht Alles gethan? hat man nicht ein Urtheil über ihn? Ein ordentlicher Mensch ist hier nicht Der, welcher gut handelt, sondern Der, welcher schön redet, und ein einziges unbedachtes Wort, das Einem absichtslos entfährt, kann ihm einen unwiederbringlichen Schaden thun, den er mit vierzig Jahren Rechtschaffenheit nicht wett machen könnte. Mit Einem Worte, wiewohl die Handlungen der Leute ihren Reden nicht entsprechen, sehe ich, daß man sie dennoch nach ihren Worten schätzt, ohne Rücksicht auf Werke. Ich sehe ferner, daß in einer großen Statt die Gesellschaft gesitteter, umgänglicher, sogar zuverlässiger scheint als dies unter weniger studirten Leuten der Fall ist; aber sind die Menschen dort deswegen wirklich menschlicher, vernünftiger, gerechter? Ich weiß es nicht. Ich sehe bisher nur den Schein, und unter dieser gar so offenen und einnehmenden Außenseite sind vielleicht die Herzen versteckter, verschlossener als die unsrigen. Fremd hier, allein stehend, geschäftlos, ohne Verbindungen, ohne Vergnügungen und Willens, mich nur auf meinen eigenen Blick zu verlassen, wie soll ich dazu gelangen, mir ein Urtheil zu bilden?
Indessen fange ich an, den rauschartigen Zustand zu begreifen, in welchen dieses aufgeregte, lärmende Leben Diejenigen versetzt, die sich ihm hingeben, und ich spüre eine Betäubung, wie Einer, vor dessen Augen man eine Menge von Gegenständen schnell nach einander vorüberführt. Nichts von Allem, was meine Sinne berührt, zieht mein Herz an, aber Alles zusammen verwirrt und lähmt seine Kräfte dermaßen, daß ich manchen Augenblick vergesse, was ich bin und wessen ich bin. Jeden Tag, wenn ich aus dem Hause gehe, lege ich meine Art zu fühlen unter Schloß und Riegel, und versehe mich mit einer anderen, welche zu dem Tande paßt, der mich erwartet. Unvermerkt gewöhne ich mich zu denken und zu urtheilen. wie ich es von aller Welt sehe. Wenn ich manchmal den Versuch mache, die Vorurtheile abzuschütteln und die Dinge in ihr wahres Licht zu stellen, augenblicklich werde ich mit einer Flut von Worten überschüttet, die sich wie vernünftige Gründe anhören. Man beweist mir augenscheinlich, daß nur der Halbphilosoph das Wesen der Dinge erfaßt, daß der wahre Weise sie nur so betrachtet, wie sie scheinen, daß man die Vorurtheile für Principien und die Schicklichkeitsformen für Gesetze achten müsse, und daß es die höchste Weisheit ist, wie die Narren zu leben.
Gezwungen, so die Ordnung meiner sittlichen Triebe umzukehren, gezwungen, leeren Einbildungen Werth beizumessen und der Natur und Vernunft Schweigen zu gebieten, sehe ich so das göttliche Urbild verunstalten, welches ich in mir trage, und welches sonst zugleich Ziel meines Strebens und Leitstern meines Handelns war; ich werde von Grille zu Grille getrieben, und indem meine Neigungen ohne Unterlaß der Meinung unterthänig gemacht werden, bin ich keinen Tag sicher, was mir den folgenden gefallen werde.
Verwirrt, gedemüthigt, bestürzt die Menschennatur in mir herabgewürdigt und mich so tief heruntergerissen zu sehen von jener inwendigen Größe, zu welcher sich unsere entflammten Herzen gegenseitig erhoben, komme ich Abends heim, von geheimer Trauer erfüllt, von tödtlichem Ueberdrusse niedergedrückt und das Herz hohl und aufgeblasen wie einen Luftballon. O Liebe, o ihr reinen Gefühle, die ich von ihr hatte! .... mit welchem Entzücken kehre ich in mich ein, mit welcher Wonne finde ich in mir noch meine alten Triebe und meine vorige Würde wieder! Wie preise ich mich glücklich, daß ich noch in all seinem Glanze da das Bild deiner Tugend strahlen sehe, Julie, thronend in Glorie und mit Einem Hauche alle jene Gespenster zerstreuend? Ich fühle meine eingeengte Seele wieder aufathmen, mir ist, als hätte ich mein Dasein und mein Leben wieder gewonnen, und mit meiner Liebe kehren mir alle Hochgefühle wieder, die sie ihres Gegenstandes würdig machen.