Читать книгу der dämon und die lethargie - Jeanette Y. Hornschuh - Страница 11
Оглавление4.
Seit unserem zweiten Besuch damals hier im Haus hat Levian keine Nacht mehr allein verbracht. Er weiß nichts davon, aber jede Nacht… jede verdammte Nacht war ich bei ihm, auch hier Zuhause, in seinem Zimmer, habe ich über ihn gewacht… Ich konnte noch so wütend sein… Nichts hat mich davon abgehalten… Aber heute… Dies ist die erste Nacht seitdem, die ich nicht bei ihm verbringe. Es geht nicht, das ziehende Kribbeln ist überwältigend… Ich könnte ihn nicht anblicken… ich kann es nicht… Mit angewinkelten Knien sitze ich auf dem morschen Dach des Backsteinhauses und betrachte die dunkle Landschaft unter dem wolkenverhangenen Himmel. Aus dem Inneren des Hauses sind schon seit Stunden keine Geräusche mehr zu vernehmen. Vermutlich schlafen die Jäger schon. Levian… wie kann er nur schlafen, nachdem…
Hng…!!!
Ich ziehe meine Knie noch stärker an mich heran. Nach unserem Streit - naja… wütenden Monolog trifft es wohl eher - bin ich an Traian vorbei ohne ein weiteres Wort herausgestürmt. Erst nach einer ganzen Weile hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich zu diesem Haus zurückkehren konnte, ohne den Drang zu verspüren, in Levians Zimmer stürmen zu müssen, um mehr zu tun als ihn nur kräftig an der Schulter zu rütteln… Nun sitze ich hier und starre in diese dunkle Nacht hinaus. Es hatte bald schon wieder aufgehört zu schneien, sodass sich nur eine feine weiße Schicht bilden konnte. Andere Gegenden sehen um diese Jahreszeit so strahlend weiß aus. Ich habe schon Dörfer gesehen, die derart eingeschneit wurden, dass die Menschen mehrere Tage lang in ihren Häusern eingesperrt waren. Aber hier… Ob sich diesen Winter hier wohl überhaupt eine ansehnliche Schneedecke bilden wird? Ich greife in den kleinen Schneehügel, der sich neben mir auf dem Dach gesammelt hat, hebe einen weißen Flockenklumpen nach oben und lasse ihn langsam auf meiner Hand schmelzen. Während ich so beobachte, wie der tauende Schnee in Rinnsalen meine Hand hinunterfließt, erscheint mir das Zerren in meinem Brustkorb nach und nach immer weniger drängend. Nein, alles konnte er nicht vernichten… Ihre Tasse ist geblieben… Und soweit ich in meinem Zorn noch sehen konnte, stand auch der kleine geschwungene Kerzenhalter noch auf dem Wohnzimmertisch. Ich lächle traurig und denke daran zurück, wie Nileyn bei unserer ersten nächtlichen Unterhaltung eine Kerze darin angezündet hatte. Damals hatte sie mir offenbart, dass sie Levians Schwester sei. Tatsächlich hatte ich eine ganze Zeit lang zuvor angenommen, dass es sich bei ihr um seine Freundin handeln würde. Ich schließe die Augen und rufe mir Nileyns Gesicht in Erinnerung. Ihre goldblonden Haare, die ihr Gesicht perfekt umrahmten. Diese ruhigen Augen, die vom selben tiefen Blau waren, wie die ihres Bruders… Ihre ebenso blauen Jägermale, ihr zierlicher Mund, der stets ein wenig zu lächeln schien… Ich werde mir ihr Gesicht so oft wie möglich ins Gedächtnis rufen, um es nicht zu vergessen. Zu viele wertvolle Erinnerungen sind mir im Laufe meiner langen Existenz auf dieser Welt entronnen… Wie gern würde ich mich daran erinnern, wie die Stimme meines jüngsten Bruders klang oder von welcher Farbe seine Augen waren…
So sind es die schönen Erinnerungen, die am ehesten Verblassen und die schmerzhaften, die einem auf ewig bleiben…
Aber… die Erinnerungen an Nileyn werde ich bewahren… Ich werde dafür kämpfen, Levian…
Mein Blick wandert nach oben. Zogen die Wolken heute Nachmittag noch hastig über den Himmel hinweg, scheinen sie jetzt nahezu still zu verharren.
Sein ganzes Leben lang beugte er sich den Traditionen der Jäger, versuchte, den hohen Erwartungen der Menschen gerecht zu werden, stellte seine Pflichten über alles… Er kämpfte so sehr darum zu beschützen… und nun? Zerbricht er daran, dass er diesen einen Menschen, der ihm auf der Welt am wichtigsten war, nicht beschützen konnte? Mit welchem Recht? Wozu hatte Nileyns Ableben ihn monatelang in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, wenn dies alles irgendwann nicht mehr Teil seines Ichs sein soll… Sein Leben hat er dem Dasein als Jäger gegeben. Nun wollen sie ihm auch noch die Erinnerung an seine Schwester nehmen… Und er kann nicht anders, als diese Erwartungen zu erfüllen… Ich beiße mir auf die Lippe. Nicht nur für mich… vor allem für Levian werde ich darum kämpfen, dass ihm das fehlgeleitete Pflichtbewusstsein der Jäger diese Erinnerung nicht nehmen wird.
Als der Schnee in meiner Hand gänzlich geschmolzen ist, merke ich, dass das Ziehen stark nachgelassen hat.
Wie gern würde ich jetzt ein Stückchen Zucker essen…
Mit dem Morgengrauen wird es auch im Haus unter mir langsam unruhig. Noch bevor die Sonne richtig aufgegangen ist, öffnet sich die Haustür und eine dick eingehüllte Gestalt tritt heraus. Es ist Levian.
Wie starr sitze ich hier oben auf dem Dach und beobachte gebannt, wie er den schmalen Gartenweg durch den seichten Schnee hinweg durchschreitet und das metallene Gartentor hinter sich schließt. Dann läuft er immer weiter, zunächst dem Weg folgend. Als er an der Biegung angelangt ist, die den Weg in einer langestreckten Kurve Richtung Dorf verlaufen lässt, verlässt er den sandigen Pfad und läuft weiter geradeaus. Nach einiger Zeit ist er nur noch als kleiner Punkt in der Landschaft zu erkennen, bis er schließlich hinter einem abfallenden Hügel verschwunden ist. Nachdenklich erhebe ich mich und blicke ihm nach, doch so sehr ich mich auch konzentriere, auf dieser Entfernung kann ich ihn trotz übermenschlichem Sehvermögen beim besten Willen nicht mehr ausmachen. Was bleibt, sind lediglich die Fußabdrücke im seichten Schnee. Ich wische mir die nassen Hände an meiner dunklen Hose ab. Es ist das erste Mal seit Nileyns Ermordung, dass Levian sich so weit von seinem Zuhause entfernt. Und das nur einen Tag nachdem er ihre Sachen fortgeschafft hat… Ob Traian auch in gewisser Weise Recht hat…? Vielleicht zeigt das, dass Levian langsam beginnt, den Verlust zu akzeptieren… Vielleicht verarbeiten Menschen den Verlust eines Nahestehenden besser, wenn sie nicht mehr jede einzelne Sekunde an ihn erinnert werden… Obgleich dies immer noch nicht bedeutet, dass das radikale Ausmerzen von Erinnerungen an den Verstorbenen gutzuheißen ist.
…
Was wohl mit Nileyns Sachen passiert ist…
Ob er sie… verbrannt hat?
…
Eine frische Böe fegt über das Haus hinweg. Ich springe vom Dach herunter vor die Haustür, drücke die Klinke nach unten und trete in den warmen kahlen Wohnraum ein.
,Und täglich grüßt der Dämon. Das hört wohl nie auf, was?‘ - Ja, genau so etwas, oder etwas Ähnliches, hätte ich von Traian nun zur Begrüßung erwartet. Jedoch… überraschenderweise sitzt er stattdessen einfach nur stumm am Esstisch, vor sich ein Holzbrett mit ein paar pikant belegten Broten und ein Glas Wasser, und starrt mich mit diesem seltsamen Ausdruck an, den er auch gestern Abend schon aufgelegt hatte. Verärgert laufe ich zu ihm herüber und rüttle kurz an seinem Stuhl – Ratatatammmm!
„He… Hey! Spinnst du?!“ keift er nun aufgebracht. So gefällt es mir schon besser…
„Das ist dafür, dass du ein klein wenig recht hattest…“ murre ich und laufe zum Waschbecken.
„Was? Worauf bezieht sich das denn?!“ will Traian wissen und schiebt seinen Stuhl wieder zurecht.
Ich ignoriere seine Frage und ziehe die feine weiße Tasse aus dem Schrank hervor. Doch dann stocke ich, weil ich nun, da Levian sämtliche Trockenkräuter weggeräumt beziehungsweise vielleicht auch verbrannt hat, nicht mehr weiß, was ich in diese Tasse eigentlich hineinfüllen soll. Plötzlich kommt mir eine Idee. Ich greife nach der kleinen weißen Keramikdose, die auf dem Wandregal über dem Waschbecken steht und…
„Hey! Du hast noch keinen neuen Zucker geholt!“ maule ich vorwurfsvoll und halte Traian die Dose vor die Nase. Und nicht nur das, das aller, aller letzte Stück Zucker darin hat er auch noch aufgebraucht… Die Dose ist leer.
„Hol doch selbst welchen.“ grinst er hämisch.
Knurrend lasse ich die letzten kleinen Krümel Zucker, die übrig geblieben sind, in die Tasse rieseln. Am Kamin gieße ich warmes Wasser über die Krümel, dann laufe ich zum Esstisch herüber und setze mich Traian gegenüber. Skeptisch starrt er auf meine Tasse, in der klares Wasser schwappt, das leider nur einen sehr leichten Hauch von Süße erahnen lässt. Ich hebe die Tasse an und trinke einen großen Schluck. Traian widmet sich ohne jeglichen Kommentar den zwei Scheiben Brot, die auf dem Holzbrett vor ihm liegen. Ich habe nicht das Bedürfnis, über Levians Räumaktion zu reden und, so denke ich, Traian wird es auch nicht wirklich interessieren, wie es aktuell in mir aussieht - nicht nur deshalb, weil es eben Traian ist, auch deshalb, weil er meiner Einschätzung nach so sehr darauf erpicht ist, den Tod Nileyns nur als weitere Episode seines Lebens abzutun… Und so sitzen wir uns schweigend gegenüber. Nach einer Weile stelle ich meine Tasse auf dem Esstisch ab und hebe an zu berichten: „Auf meinem Ausflug hat mich gestern ein Nomade überrascht.“
Von dem angebissenen Brot, das Traian in der Hand hält, rutscht eine Scheibe Wurst hinunter auf das Holzbrett. Er stockt, blickt mich jedoch nicht an.
„In meinem Gebiet?“ fragt er. Seine Stimme klingt seltsam monoton.
„Wo sonst? Denkst du, ich gehe mal eben im angrenzenden Gebiet des alten Spinners, den ihr fälschlicherweise Mentor nennt, spazieren, um mit ihm einen netten Plausch zu halten?“
Doch statt auf meinen sarkastischen Kommentar einzugehen, sitzt Traian nur stumm da. Ich trinke einen weiteren Schluck Wasser und warte darauf, dass er sich regt. Doch nichts geschieht. Ich habe mal gehört, dass es Gerüche gibt, auf welche die Menschen intensiv reagieren. Soll ein gutes Mittel sein, damit sie wieder zu sich kommen… Mh… vielleicht löst sich sein starrer Zustand, wenn er den Geruch von Wurst auf seinem Gesicht wahrnimmt? Gerade als sich meine Hand unauffällig Richtung Holzbrett bewegt, scheint er aber von selbst aus seiner Starre zu erwachen, greift nach der Wurstscheibe und steckt sie sich im Ganzen in den Mund. Danach schiebt er noch das Brot hinterher. Er schluckt und zieht eine Augenbraue nach oben: „Heute kein Futter für den Schoßhund.“
„Würg…“ Als hätte ich die Absicht gehabt, das angelutschte Stück Wurst selbst zu essen, igitt! „…Keinen Bedarf.“ erwidere ich knapp. Mir ist sehr wohl noch in Erinnerung, was passierte, als ich das letzte Mal dem menschlichen Überbleibsel in mir nachgegeben und Nahrung zu mir genommen habe. Dieses satte Gefühl hatte mich derart müde werden lassen, dass ich eine ganze Nacht durchgeschlafen habe. Eine ganze Nacht!!! Der Traum, den ich in dieser Nacht durchlebt hatte, war auf so vielfältige Art und Weise verstörend gewesen… Die Aufnahme menschlicher Nahrung ist für Meinesgleichen nicht nur unnötig, es macht anscheinend auch noch schwach! Zucker zählt da natürlich nicht…
Als ein leises „Danke…“ ertönt, blicke ich überrascht zum grünäugigen Jäger, der mir gegenübersitzt. Hastig räumt er das Holzbrett und das leere Glas in die Spüle und macht sich ohne ein weiteres Wort auf in sein Zimmer. Ich zucke, mehr für mich selbst, mit den Schultern und entschließe mich zum Sofa hinüberzugehen, um mich dort ein wenig auszuruhen, bevor ich zu meinem täglichen Streifzug aufbreche. Gerade lege ich meine Füße auf den Wohnzimmertisch ab, da erklingt aus dem hinteren Bereich des Hauses wieder das wohlbekannte Knarren einer Tür. Traian läuft langsam den Dielenweg entlang. Er trägt eine dicke dunkelbraune Winterjacke. Den Kragen hat er hochgezogen, die weiße wollige Fütterung schaut am Rand des Kragens heraus. Um seinen linken Oberschenkel trägt er die Lederhalterung samt kristallverziertem Jagdmesser. Die Gurte der Halterung sitzen locker um seine dunkelgraue Hose. Es ist das Bein, an dem er an jenem Tag diese schwere Verletzung davongetragen hatte. Da er seine stärkste Waffe, seinen Bann, jedoch mit der rechten Hand entfesselt und diese jederzeit zur Verfügung stehen muss, bleibt ihm keine Wahl, als das Messer am linken Oberschenkel zu tragen.
Es ist das erste Mal seit Nileyns Ermordung, dass ich ihn mit seiner Ausrüstung sehe. Überrascht richte ich mich vom Sofa auf: „Wo willst du denn jetzt hin?“
„Nhg… nur n‘ bisschen herumlaufen.“ antwortet er knapp.
„Na klar… ,nur‘ ein bisschen rumlaufen…“ äffe ich ihn nach. Bei einem einfach gestrickten Menschen wie Traian es ist, ist es wohl mehr als deutlich, was er vorhat…
Im Eingangsbereich setzt er sich kurz auf die Stufen, zieht seine Schuhe über und schreitet dann zur Tür hinaus. Seufzend schlurfe ich durch den Hauptraum und folge ihm heraus.
„Heute liegt wohl etwas in der Luft, was euch Jäger reiselustig macht, mh?“
„Kann schon sein…“ murmelt Traian abwesend. Er läuft den kleinen Gartenweg entlang. Sein ganzer Körper wirkt arg angespannt. Es ist offensichtlich, dass er sich sehr darauf konzentrieren muss, gleichmäßig zu laufen. Seit seiner Verletzung ist er keine sehr weiten Strecken mehr gelaufen. Nur gelegentlich war er im Dorf, um ein paar Nahrungsvorräte zu besorgen. Die Bewohner waren immer so freundlich und hatten ihn anschließend mit einer Kutsche zurück zum Backsteinhaus gefahren.
Als er am Gartentor ankommt, schweift sein Blick in die Ferne. Der Wind pfeift um uns herum und lässt seine stets so mühevoll arrangiert wirkenden braunen Haare umherwirbeln. „Wo hast du ihn gesehen?“ fragt Traian schließlich.
Ich streiche mir eine lange Strähne hinters Ohr, während ich ein Stück auf ihn zugehe. Dann stelle ich mich grinsend hinter ihn: „Mh, den Nomaden? Haha, das möchtest du gern wissen, was?“
Langsam dreht er sich zu mir um. Seine Augen schauen ungewohnt ernst drein: „Ja, sag es mir.“
Als würde ich tatsächlich darüber nachdenken, tippe ich mir ans Kinn und wiege meinen Kopf hin und her. Dann, nach einer gaaaaanzen Weile, antworte ich: „Njaaaaaaaaa… mhhhhhhh… nein.“
Traians Augenbrauen ziehen sich zusammen, doch da setze ich bereits nach: „Schau mal, liebster Traian: vielleicht ist es für den Anfang erst einmal genug der Herausforderung, wenn du neuen Zucker im Dorf besorgst und ihn dann auch zu Fuß zurück nach Hause schaffst.“
Im ersten Augenblick wirkt er überrascht, dann schaut er zu Boden. Man sieht ihm genau an, was in ihm vorgeht: einerseits würde er am liebsten sofort loshasten, um dem Nomaden nachzustellen, andererseits ist ihm klar, dass es purer Irrsinn wäre, sich in seinem Zustand vor potentiellen ,Feinden‘ zu zeigen… auch wenn es sich dabei nur um Jäger handelt… Traian knirscht mit den Zähnen, dann schnauft er: „Du wirst aber nichts davon abbekommen, Dämon.“ Langsam hebt er seinen Kopf und lässt ein keckes Grinsen erkennen.
Mein linker Mundwinkel zieht sich nach oben: „Pah! Ich werde mir selbst welchen holen.“ Ich laufe ein paar Schritte an ihm vorbei, dann bleibe ich auf dem Weg stehen und warte, dass er sich in Bewegung setzt.
„Haha, na mal schauen.“ lacht er. Dann läuft er ebenfalls los.
Während wir gemeinsam den Weg zum Dorf entlanggehen, mustere ich den grünäugigen Jäger neben mir. Obwohl es heute wieder recht kalt ist, stehen ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn. Nach einer Weile scheinen seine Schritte jedoch etwas sicherer zu werden.
Ich blicke zum Horizont in die Richtung, in der Levian heute Morgen verschwunden ist.
Der Wind wird stärker…