Читать книгу der dämon und die lethargie - Jeanette Y. Hornschuh - Страница 8
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Sein Mund ist rot von der Kälte. Feine kleine Wolken bilden sich als er ausatmet. Sie verlieren sich in der klaren Luft. Er zittert. Die weite Landschaft liegt erstarrt unter dem Frost. Zarte Schneeverwehungen sammeln sich in den Tälern. Alles ist mit feinen unregelmäßigen Kristallen überzogen, welche so schwer auf den verbliebenen Stängeln und abgestorbenen Halmen der Pflanzen wiegen, dass es sie niederdrückt. Wie seltsam der Frost die roten Vogelbeeren an den Sträuchern wirken lässt – giftigen Rubinen gleich prangen sie dort. Der Winter verwandelt diese Gegend in eine unwirkliche, ruhige Welt. Über alles weht ein zerrender Wind. Über alles zieht sich das drückende Grau des Himmels… Sein Zittern wird stärker. „Für dich ist es jetzt langsam zu kalt, um draußen zu rasten, mh?“ lächle ich. Ich stehe direkt neben meinem Jäger. Unter seinen blauen, unbeständig wirkenden Malen, die sich über die Wangen hinweg ziehen, zeichnet sich seine Haut auch dort in einem kräftigen Rot. Trotz der mit Schafswolle gefütterten dunkelgrauen Jacke und des dicken Schals friert er. Eine Weile schon steht er hier und lässt seinen Blick über das weißgraue Gebiet schweifen. Bis vor Kurzem war dies das Gebiet, das unter seinem Schutz stand… Er zuckt kaum merklich. Erst jetzt scheint er bemerkt zu haben, dass er nicht allein hier draußen ist. Würde er mich anschauen, würde er den Kontrast meiner leichten Kleidung zu seinen dicken Wintersachen vielleicht mit einem Schnaufen quittieren. Im tiefsten Winter stehe ich barfuß, in engen dunklen Shorts und einem leichten schwarzen Langarmshirt neben ihm, ohne Jacke, ohne Schal, denn seitdem ich an meinen Jäger gekettet bin, sehe ich keine Notwendigkeit mehr darin, mich zu verstellen - so zu tun, als wäre ich ein Mensch, als wären meine roten Augen kein untrügliches Zeichen dafür, dass ich nicht mehr wirklich unter den Lebenden weile. Aber er tut es nicht, er sieht mich nicht an. Seit jenem Tag würdigt er mich keines Blickes mehr…
Seine tiefblauen Augen richtet Levian nun kurz auf den Boden, dann geht er. Schweigend.
Ein paar Minuten lang sehe ich ihm noch nach und beobachte, wie er zurück zu seinem Backsteinhaus läuft. Als sich die unscheinbare grüne Tür hinter ihm geschlossen hat, drehe ich mich wieder der weiten Landschaft entgegen. Ich laufe langsam den Hügel hinunter, auf dem sein Haus steht. Am Fuße des Hügels biegt der Sandweg nach links ab und führt in seichten Kurven an weißen Feldern vorbei ins Dorf. Doch ich gehe vom Weg ab, schlage eine entgegengesetzte Richtung ein. Meine Route führt mich zum Wald. Kahl stehen die knorrigen Laubbäume da, zwischen ihnen lugt vereinzelt das alte Herbstlaub hervor. In den dünnen Schneeverwehungen kann ich frische Vogelspuren ausmachen. Ich laufe den Rand des Waldes entlang. Das gefrorene Laub, die spitzen Reste der Kastanienhüllen, die kleinen Steinchen und Äste… Es knirscht und knackt unter meinen Fußsohlen als würde ich über Glasscherben laufen. Das Geräusch hallt in der Stille des Waldes wider. Aufgeschreckt fliegen zwei Amseln davon, als ich an einem halb entwurzelten alten Ahornbaum vorbeikomme. Bedächtig streiche ich über das knotige Holz des Stammes. Zwischen den wuchtigen verdrehten Wurzeln lasse ich meinen Blick in den Wald hineinschweifen. Seicht malt der feine Schnee weiße Muster auf die dicken Stämme der Kastanien und Buchen, der Ahornbäume und Eichen… Dick ist die weiße Schicht noch nicht. Aber das langanhaltende Grau und die unverkennbaren Orangetöne, die nun häufig des Abends dort im Himmel hineinfließen, verkünden, dass die Schneeschicht vielleicht bald wachsen wird. Mein Blick wandert weiter, vorbei an den Bäumen, zurück zum Haus. Ruhig liegt es auf dem Hügel, aber friedlich ist es dort nicht mehr. Die Stille, die dort zu spüren ist, ist eine andere als früher. Sie ist drückend, kraftzehrend… Der Wald, an dessen Rand ich mich befinde, liegt weit davon entfernt. Von hier aus kann man den Garten nicht erkennen. Diesen Garten… Energisch wende ich mich ab und setze meinen Weg fort. Als ich an einem weißen Baum vorbeikomme, werden meine Schritte schneller. Es ist eine Birke… Je weiter ich laufe, desto mehr von ihnen ziehen an mir vorbei, bis ich schließlich auf eine Stelle am Rand des Waldes treffe, die fast ausschließlich von Birken bestimmt wird. Ich zögere kurz, dann renne ich in den Wald hinein. Eine bestimmte Stelle, ich habe sie genau vor Augen. Wie oft war ich seit jenem Tag hier… Fast ohne mein Zutun tragen meine Füße mich zum Ziel. Und dort ist es, zwischen den dichten Birken… Ein hoher Haufen aus Ästen und Zweigen, den jemand vor vielen Jahren an dieser Stelle aufgeschichtet hat. Ein paar Schritte entfernt bleibe ich stehen. Hier, wo die Birken so dicht stehen, liegt noch weniger Schnee als anderswo im Wald. Auch der zerrende Wind, der über die Felder peitscht, flacht im Schutz der Bäume zu einem leisen Flüstern ab. Trügerisch einnehmend liegt dieser Ort vor mir, an den so verhängnisvolle Kindheitserinnerungen von Levian geknüpft sind. An diesem Ort hatte eine ,Dämonin‘, Helen, die unter dem Schutz der Jäger Zuflucht gesucht hatte, ein Versteck für Levian und seine Schwester Nileyn errichtet. Hier hatten sie gespielt, als ihre Eltern in wilder Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder und des ,Dämons‘ das Gebiet nach ihnen abgesucht hatten. Hier hatten Levian und Nileyn verweilt, als der ,Dämon‘ ihnen in Anwesenheit ihres Lehrmeisters Mael ihre Eltern nahm… Und für so vieles mehr noch steht dieser Ort… Es ist der Ort, zu dem Traian die auf Levian fixierte ,Dämonin‘ Imee hetzte. Hier versteckte sie sich auf dem Weg zu dem alten Backsteinhaus, lauerte Traian auf und fügte ihm diese entsetzliche Wunde am Bein zu. Hier… um ihr Ziel zu erreichen… Nileyn… Mein Herz krampft sich zusammen… Nur mühselig kann ich ein Schluchzen unterdrücken. Ich beiße mir auf die Unterlippe, bis sich mir ein leichter, vertrauter, metallener Geschmack im Mund ergießt. Mit zur Faust geballten Händen laufe ich um das Astgewirr herum. Ja… aber mehr noch… mehr noch erzählt dieser Ort. Dies ist der Ort, an dem auch Traian Imee eine Wunde zufügte. Mit seinem kristallverzierten Messer hatte er im Kampf ihre Hand verletzt.
Ich kann es riechen. Nun habe ich gefunden, wonach ich gesucht habe. Diese Stelle, an der ich seit jenem Tag, seit Nileyns Tod, so oft schon war. Die Stelle, an der Imees Blut auf den Boden tropfte… Ich nehme den Geruch in mir auf. Meine Sinne schärfen sich, meine Pupillen weiten sich, der metallene Geschmack wird intensiver. Ich atme tief ein. Dann sprinte ich los. Ich suche sie, immer wieder suche ich sie… Imee…