Читать книгу Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König - Страница 10

Das erste Fremdheitserlebnis

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Dein erstes Fremdheitserlebnis? Alle haben bereitwillig Auskunft gegeben. Niemand hat vor dem Antworten zuerst nachdenken müssen. Niemand hat die junge Kunstschaffende Kan seltsam angeguckt. Niemand hat gesagt, er verstehe die Frage nicht. Eine Partitur für Sprechgesang im trauten Kreis mit sich abwechselnden Stimmen. Aufbewahrt. Bei jedem Umzug verpackt und mitgenommen. In den Kisten mit den schwarzen Deckeln.

Elke

Ich glaube es war 1945 gleich nach dem Krieg. Wir haben die Verwandten in Freiburg im Breisgau besucht. Wir hatten die Gewohnheit gehabt bei unseren Besuchen im Bahnhofbuffet einzukehren. Das Bahnhofbuffet ist zerstört gewesen, hat ausgesehen wie eine Geisterburg. Es hat trotzdem etwas Gutes zum Essen gegeben und ich habe gegessen und gegessen. Da hat der Kellner zu mir gesagt: Nicht mehr in den Mund stopfen, als Platz hat, Kind.

Jan

Ich hatte eine Tante, die hat einen religiösen Wahn gehabt. In ihrer Wohnung waren die Wände mit Pelzen verhangen. Als Geschenk hat sie nur weisse Lilien akzeptiert. Einmal habe ich den Mut aufgebracht und habe einen Strauss roter Nelken gekauft. Bei der Verpackung habe ich darauf geachtet, dass kein roter Schimmer zu sehen war. Innerlich habe ich gezittert. Die Tante hat die Nelken ausgepackt, hat sie in eine Vase gestellt und danke gesagt.

Godi

Während dem Krieg wurden wir Kinder von Schaffhausen zu unseren Verwandten ins Berner Oberland gebracht. Da gingen wir auch zur Schule. Da waren Polen und die waren so freundlich zu uns.

Helen

Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Meine Mutter hatte nicht den Mut sesshaft zu werden. Wir sind über die Grenze hin und her gereist. Ich erinnere mich an den Peugeot 204, an die Autobahnen, die Autostrassen. Die Situation war etwas unklar. Ich musste ins Spital zur Abklärung. Da hatte es Gitterbetten, wie damals üblich. Die Schwester fragte meine Mutter, was ich denn am liebsten mochte. Meine Mutter sagte: „Kaffee“. Ich hielt mich an diesem Kaffee fest. Am Morgen hat mir eine Schwester Kaffee gebracht und ich bin in Tränen ausgebrochen. Das war nicht der Kaffee, den wir zu Hause tranken. Das war Kinderkaffee. Scheusslicher Kinderkaffee.

Adrian

Ich habe den Buchstaben RRRR nicht richtig aussprechen können. Im Badezimmer hatten wir so eine Frotteetuch Stange. Da hängte ich mich dran und konnte plötzlich den R richtig aussprechen.

Susanne

Mutter und Vater waren zerstritten. Sie wollten sich scheiden. Sie stellten den Bruder und mich auf die Kommode und sagten: Springt demjenigen an den Hals, den ihr lieber habt. Mein Bruder sprang dem Vater um den Hals. Ich sprang dazwischen. Die Mutter weinte. Ich stand bockstill. Der Vater sagte, ich hätte die Mutter beim Springen mit dem Fuss am Bein getroffen.

Fritz

Ich bin auf einer Anhöhe im Emmental aufgewachsen. Neben dem Bauernhaus stand ein kleineres Stöckli mit Rauchküche. In diesem hat eine ärmere Familie gewohnt. Später ist die Familie ausgezogen. Wir haben das Stöckli umgebaut und an Feriengäste vermietet. Reiche Fami­lien aus Zürich und Basel sind gekommen und haben zwei drei Wochen darin gewohnt. Das war eine andere Sorte Leute. Und einmal, da ist eine Familie aus Wallisellen gekommen. Es war der eine Sohn der Familie, die vor dem Umbau im Stöckli gewohnt hatten. Er ist mit seiner Familie ins umgebaute Stöckli zurückgekommen. In die Ferien. Meine Schwester und ich sind daraufhin von der Familie nach Wallisellen zu ihnen in die Ferien eingeladen worden. Ich erinnere mich, wie die Leute in Wallisellen zu der Familie gekommen sind, weil sie uns sehen wollten. Die Kinder aus den Bergen. Meine Schwester und ich sind früher als geplant wieder nach Hause gefahren.

Doris

Ich bin im Nachbardorf zur Schule gegangen. Eines Tages ist ein älteres Mädchen zu uns in die Klasse gekommen. Eine Tibeterin. Sie hat uns nicht verstanden und hatte einen Plastiksack anstelle eines richtigen Schulsackes. Ich war überzeugt, dass dies alles so traurig war wegen diesem Plastiksack und habe ihr meinen glattledernen hellbraun glänzenden Schulsack geschenkt. Das ist keineswegs heroisch gewesen. Ich habe gewusst, dass meine Eltern den Kopf schütteln und schimpfen, mir aber am nächsten Tag einen neuen Schulsack kaufen würden. Das Mädchen hat mich zu sich in die tibetische Kolonie eingeladen. Mir wurde in dem zeltartigen Hauskomplex mit den farbigen Fähnchen Tee und salzige Butter serviert, was ich höflichkeitshalber hinuntergewürgt habe. Ich hatte schreckliche Angst nie wieder nach Hause zurück zu finden.

Ulrich

Damals nach dem Krieg war der Talhof, unser Hotel, immer ausgelastet. Männer in Uniformen. Ihr Hab und Gut in Säcken. Die amerikanischen Soldaten hatten so schöne Hintern. Sie machten Urlaub in Europa bis sie in die USA zurückgingen. Die Deutschen lebten in Saus und Braus mit Lebensmitteln aus Ungarn und Polen. In Deutschland war damals nach dem Krieg alles zusammengebrochen. Alles war zusammengebrochen.

Nel

Meine Grossmutter hatte 3 uneheliche Kinder. Eines davon, den Johannes hat sie in Wien zurückgelassen. Mit drei unehelichen Kindern wäre sie in ein Heim für gefallene Mädchen gekommen. Mit zwei war sie einfach ein leichtes Tuch. Sie hat als Köchin gearbeitet und einen Bötzberger geheiratet. Die Bötzberger waren grobe Männer. An den Beerdigungen in Langenthal, da hat meine Grossmutter ihre feinere Sprache auspacken können.

Regula

Unsere Familie hat regelmässig Ferien in Bad Marais gemacht. Auf der Heimreise bin ich plötzlich mit dem Badeköfferchen allein auf dem Bahnperron gestanden. Die Mutter hatte mich vergessen. Ich habe nicht geweint. Jemand hat mich in den Zug gezerrt und ist mit mir von Abteil zu Abteil gegangen auf der Suche nach der Familie.

Ines

Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Wenn wir zum Einkaufen in die Stadt gingen, waren da Italiener. Eine Strasse mit Restaurants und mit Italienern.

Sylvia

Wir haben unsere reichen Verwandten in Winterthur besucht. Firmenbesitzer. Der Patron hat ein Konzert inszeniert, in dem die Kinder in Kleidern der Mozartepoche Musik machten. Alle Kinder haben ein Instrument gespielt. Alle Kinder sind aufgetreten. Nur ich bin bei den Erwachsenen gesessen. Noch heute, wenn ich einen Auftritt habe, kommt mir manchmal diese Situation in den Sinn. Dann spiele ich wie der Teufel.

Viktor

Auf der Rückfahrt nach Hause von den Ferien bei meiner Grossmutter im Tessin.

Kim

In dem Dorf in Korea, in dem ich aufgewachsen bin, musste ich mit dem Schiff über den Fluss in die Stadt ins Gymnasium. Kleinwüchsig, wie ich bin, habe ich dem Lehrer in US-Militäruniform gerade bis zum Bauch gereicht. Einmal bin ich mit meiner Freundin direkt vor ihm gestanden und habe zu meiner Freundin gesagt: „Schau Mal diesen Ranzen, den der hat“. Da hat sich sein Gesicht zu mir herabgebeugt und der Mund hat gesagt: „Das ist kein Ranzen, das ist ein Bauch.“

Frau Kan hätte gern ein Triptychon gemacht mit kleinen Landschaftsbildchen aus den Fremdheitserlebnissen als Hintergrund und kleinen Figürchen davor. Kleine Figürchen mit roten Mündchen und viel Gold. Die Fremdheitserlebnisse als Landschaft des Allerheiligsten, aus der die kleinen Figürchen herausfallen würden, wären sie nicht im Hohlraum befestigt. Wenn jemand die Flügel aufklappen würde, würden sie den Laufsteg betreten. Geschützt im Bauch des Hohlraumes.

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