Читать книгу Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König - Страница 14

Frau Kan räumt auf

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Die Zukunft wird wie eine Katze durch den Türspalt schlüpfen und um Hana Marics Beine streichen, denkt Frau Kan. Frau Kan mag junge Frauen und die Vorstellung, dass eine Stimme, ein Blitz, eine Begegnung ihr Leben aus den vorgerichteten Bahnen hebt und Schutzengel sie in das verheissene Land begleiten. Mimi war so eine junge Frau gewesen. Mimi am Lac de Joux. In einer Zeit in Frau Kans Leben, in der Träume und Realität ein und derselbe Stoff in verschiedenen Aggregatzuständen gewesen waren. Ein kleiner geträumter See. Von dunklem Blau. Auf einem Hochtal. Mit gespiegelter Silhouette eines Tannenwaldes. In einem früheren Jahrhundert Sommerdestination für noble Gäste. Mit Hilfe des Internets von Frau Kan als Lac de Joux identifiziert. In Le Lieu. 20 Meter vom Ufer entfernt. An der Seestrasse. Hinter einer Thuja-Hecke versteckt. Das gemietete Ferienhaus. Zweistöckig. Ein Stück Rasen zwischen dem Haus und dem Sammelplatz mit den Abfallcontainern. Stück für Stück hatte sich Frau Kan die geträumte Gegend einverleibt. Aufgezeichnet. In den zwei Kisten als Hausrat mit sich herumtransportiert. Hausrat ist zollfrei. Frau Kan beginnt mit Aufräumen. Vorläufig alleine. Ohne Hana Maric.

Die lange Schönwetterperiode hatte das Ufer verbreitert. Trockene Blätter am Boden. Die Sonne vermischte die Farben. Die Wassertemperatur betrug nach Aussage des einzigen Berufsfischers 15 Grad. „ Mais bien sûr, Madame, vous pouvez nager, pas de problèmes, mais la température, Madame !“ Nach dem Schwimmen holte ich mir beim Fischer einen Fisch, wenn er welche gefangen hatte. Hans wollte kommen. Verschiedene Bekannte wollten kommen. Hans wusste nicht, wann er kommen würde. Die angemeldeten Gäste meldeten sich einer nach dem andern ab, bedauerten dass sie krankheitshalber nicht kommen konnten. Jeder wegen einer anderen Krankheit bis hin zu Lähmungserscheinungen, die eine Operation nötig machten. Die Situation hatte trotz sich anbietender Analogie nichts zu tun mit der biblischen Geschichte, in der ein reicher Mann, nachdem alle eingeladenen Freunde ihr Kommen wieder abgesagt hatten, Leute von der Strasse zu seinem Fest einlädt. Fünf Zimmer standen zur Verfügung. Das Wohnzimmer ging direkt auf die ebenerdige Terrasse. Im Grenzwald habe ich mich verlaufen. Hatte kein Essen und Trinken bei mir. Ohne Holzfäller wäre ich verloren gewesen.

Otto erscheint. Otto, der Grenzwächter. Es muss diese Grenze am lac gewesen sein, die Otto bewacht hatte, denkt Frau Kan. Die Wollsocken, die die Witwe an Ottos Sterbebett gestrickt hat, werden mich warmhalten. Ich werde mich nicht verlaufen, denkt Frau Kan. Otto hat die Grenze abgeschritten. Auch nachts. Nachts zu Zweit. Hellwach. Die Hand an der Pistole. Vielleicht war es auch ein Gewehr gewesen. Frau Kan erinnert sich nicht an Ottos Erzählung. Später war Otto zur Polizei gekommen. „Ihm sei es gut gegangen“, hat Otto gesagt. Für sich hat er nach der Wiedergutmachungsinitiative vom Staat keinen Solidaritätsbeitrag beantragt, aber für seine Schwester. Als Sportschütze in der Schweizer Nationalmannschaft sei er in der ganzen Welt herumgekommen: China, Russland, Südafrika, USA. Erst als er die Dokumente aufgetrieben habe für das Wiedergutmachungsgesuch für seine Schwester, habe er realisiert, was damals eigentlich gewesen sei. Die Mutter im Gefängnis. Dazwischen in der Psychiatrie. Der Vater Hausierer. Er sei im Glauben gewesen, die Mutter hätte ihn und die Schwester weggegeben, weil sie nicht imstande gewesen sei, für ihre Kinder zu sorgen. Erst als er die Dokumente aufgetrieben habe, habe er realisiert, was damals gewesen sei. Otto hat geweint. Frau Kan hat mit Otto geweint. Ottos Vater war Hausierer gewesen, wie der mit dem grossen Koffer, den die Mutter in die Stube gebeten hatte. Kurz nach dem die Jugendliche Kan die erste Menarche bekommen hatte. „Es sei Zeit den ersten Strumpfgürtel und Strümpfe zu kaufen“, hatte die Mutter gesagt. Die Katastrophe hatte das Kind unvorbereitet getroffen. Die Strapse lagen hart auf der Haut, der Gürtel umschnürte die Taille. Die Nacktheit unter dem Rock. Die Gefahr der Laufmaschen. Strümpfe waren teuer. Sie wurden geflickt. Werktags hatte Mutter Würmer an den Beinen. Die unversehrten Strümpfe waren für die Sonntage. Irgendeinmal ist der Miederwarenhausierer nicht mehr gekommen. Die dicken gemusterten orangenen Strumpfhosen haben die Strümpfe am Gürtel abgelöst. Die orangenen Beine und der Überzug über das Geschlecht bis zum Bauchnabel haben der heranwachsende Kan die Sicherheit gegeben nicht wie Mutter zu werden. Strumpfgürtel und Strümpfe haben sich bei Mutter bis zuletzt gehalten, auch wenn unterdessen die Hausierer zu Vertretern geworden waren für Bratensauce, Staubsauger, Putzmittel und zuletzt noch für Versicherungen. Gottliebs Zugriff unter den Rock haben die dicken gemusterten orangenen Strumpfhosen nicht abgehalten. „Es macht nichts, du musst nachher nur aufstehen“, hatte Gottlieb gesagt.

Das bin doch ich.

Du musst nur aufstehen,

die Lippen nachziehen,

aus dem Haus gehen.

Frau Kan weiss nicht, was Ottos Vater verkauft hatte. Hans Peters Vater ist auch zeitweise mit einem Koffer aus dem Haus gegangen und erst nach ein paar Tagen wieder zurückgekommen. Hans Peters Vater war Bildhauer gewesen. Wohin er mit dem Koffer ging und was er im Koffer gehabt hatte, interessierte niemanden im Dorf. Die Hans Peters haben im Dorf gewohnt, weil sie kein Geld gehabt hatten. Der Vater hatte aus dem nahe gelegenen Steinbruch Abfall holen können. Auf die Grabsteinmuster im Koffer ist Hans Peter erst bei der Beerdigung seines Vaters gestossen. Die Handelsreisenden hatten damals keinen guten Namen gehabt. Hans Peter ist seiner Mutter und seinem Vater nicht weggenommen worden. Vielleicht haben die Steine aus dem Dorf um das Haus der Hans Peters herum eine unsichtbare Todeszone abgegrenzt, die kein Dorfbewohner jemals betrat. Hans Peter ist später nach Berlin gegangen. Viele sind aus dem Dorf weggegangen. Auch Dionys. Dionys hat der heranwachsenden Kan gezeigt, wie sie sich anziehen und schminken muss und wie sich tanzen anfühlt. Hans Peter ist ein Robert Walser geworden.

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