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Das Ende

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Nur keine Streifung! Jetzt. Zuletzt. Keine verstopfte Hirnarterie. Keine Explosion im Kopf. Nicht auslaufen. Kein unkontrollierter Stuhlabgang. Austrocknen. In die Haut verpackt. Die Haut wird halten. Einölen. Einbalsamieren. Die Haut jeden Tag einölen. Sie wird drei vier fünf Tage halten. Ausgetrocknet. Gegerbt. Über die Knochen gespannt. Sie werden mich ausziehen. Den natürlichen Tod durch Exsikkose feststellen. Ein seidenes Wort. Ein kosendes Wort. Frau Kan hat keine Orangenhaut. Anne hat Frau Kan erzählt, dass die Orangen wie Murmeln auf dem Schiffsboden herum gekullert sind. Die Mutter ist mit Anne von Indien nach England zurückgekehrt. Das Schiff ist in Seenot geraten. Die dazugehörende Chinesin hat die Stricknadeln auf das Rettungsboot mitgenommen. Annes Mutter hat die Chinesen geliebt und die Juden gehasst. Anne, die Mutter und die Chinesin sind gerettet worden. Die Chinesin hat dem Kind Anne Socken gestrickt. Die erwachsene Anne hat das Glas Milch gemalt, das ihr die Engländer an Land zu trinken gegeben hatten. Anne hat Frau Kan Fotos von den Bildern gezeigt, die sie gemalt hat. Kullernde orangene Bälle auf den Wellen. Kullernde orangene Bälle, die das Rettungsboot in die Luft schleudern. Der Horizont ein Uferstrich aus schaumiger Milch. Die Chinesinnen Socken sind mit mir mitgewachsen, hatte Anne gesagt. Sie wärmen immer noch. Frau Kan will die Socken anziehen, die Ottos Frau am Sterbebett ihres Mannes gestrickt hat. „So viele Socken“, hatte Ottos Witwe gesagt. „Kannst du welche gebrauchen? Für die Flüchtlinge vielleicht?“ Ein Paar hat Frau Kan für sich behalten. Die graublau Gesprenkelten. „Alles Restwolle“, hatte Ottos Witwe gesagt. Frau Kan erinnert sich an ihre Serie ‚gestrickter Wald‘. Frau Kan hat das Gestrickte wieder aufgetrennt. Das Material im Wald entsorgt. Wo hätte sie die verstrickte Waldserie aufbewahren sollen. Ich hätte Socken stricken sollen, denkt Frau Kan. Oder Schals, wie Erika. Socken und Schals konnte immer jemand gebrauchen. Frau Kan erinnert sich an die Strickheftchen zu Hause. An die Modezeitschrift ihrer Mutter. Die Aufregung bis das Modell, die Wolle, das Muster, die Farbe festgelegt waren. Beim Stricken konnten die Frauen im Dorf punkten. Das Kind Kan war eine geschickte Strickerin gewesen. Elfjährig hat das Mädchen Kan aufgehört zu stricken und für sich das Recht erstritten den Lateinunterricht zu besuchen, der während der Handarbeitsstunden der Mädchen stattgefunden hatte. Jetzt ist alles anders, denkt Frau Kan. Auch in New York. Damals. Das gelbe Zelt. Ein Quadratkilometer grosses, aufgeblasenes Sonnenblumenfeld. Mitten im Central Park. Frauen – ein paar Männer – auf Holzbänken. Sie strickten. Lernten stricken. Ermutigt von einer evangelikalen Erweckungsstimmung. Damals in den 90er Jahren, erinnert sich Frau Kan. Verstrickte Zeit. Geburtsdatum. Höchster beruflicher Abschluss. Heirat. Geburt der Kinder. Scheidung. Stellenwechsel. Wohnungswechsel. Abschiede. Hans, Wolfgang, Jürg, Henrique, Luzi, Roberto, Bernard. Die Daten. Das Jahr. Die Jahreszeit. An die Jahreszeit kann sich Frau Kan erinnern. An Sätze, an Gerüche, Geschichten, bis hin zu den Bewegungen. Die Zeit zu verlieren ist gefährlich, denkt Frau Kan. Darauf steht Verwahrung. Die graublau gesprenkelten Socken werden mich wärmen, denkt Frau Kann. Sie findet die Socken im Keller. Im gelben Seesack, in dem sie Kleider aufbewahrt, die eventuell noch zu gebrauchen sind. Frau Kan trägt den Seesack in ihre Wohnung. Gelb. Immer wieder Gelb, denkt Frau Kan. Die Socken legt Frau Kan in die bereits geleerte Schublade im Schlafzimmerschrank. Den Rest leert Frau Kan auf den Boden. Der Seesack kann noch verwertet werden. Kameltrekkings gibt es auch heute noch. Der Seesack hat Frau Kan zwei Mal im Sinai seine Dienste geleistet. Frau Kan wird den gelben Seesack auf das Trottoir stellen. Über die Mittagszeit, wenn alle am Essen sind. Frau Kan räumt auf. Ein Glücksgefühl. Licht flutet den Rasen der gelebten Jahre. Ein Taumel. La petite mort. Sie nimmt die Socken wieder aus der Schrankschublade, legt sie auf den Schreibtisch im Schlafzimmer. Frau Kan muss den Ort für die letzten Dinge noch finden. Schlaf- und Arbeitszimmer sind in Frau Kans Wohnung ein einziger Raum. Typisch Kan. Zwei Mal, als Frau Kan mit einem Mann zusammengewohnt hatte, war Schlaf- und Arbeitszimmer untypisch Kan getrennt gewesen. Vielleicht drei Mal, denkt Frau Kan. Sie erinnert sich nicht genau. Die Raumaufteilung ist jetzt weniger wichtig, als die Zeiteinteilung. Warum dies so ist, kann sich Frau Kan nicht erklären. Bei jedem Umzug hatte Frau Kan aufgeräumt. Sich erneuert. Reduziert, wieder ausgeweitet. Ein zeitfüllendes Orgelspiel, denkt Frau Kan. Ob der Vergleich stimmt, ist jetzt nicht von Bedeutung.

Du kennst nie die ganze Geschichte

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