Читать книгу Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König - Страница 15

Mimi

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Die Holzfäller haben mir den Weg aus dem Grenzwald gewiesen. Mimi war mir aufgefallen, weil sie alleine war. An jenem Tag als ich vom Grenzwald zurückgekommen bin. Den Fischer ausgenommen, war ich bis dahin nur Paaren – häufig gleichgeschlechtlichen – und Gruppen begegnet. Mimi schien nicht zu den jungen Leuten zu gehören, die ein paar hundert Meter weiter oben gegen das Ende des Sees campierten. Camping war verboten. Mit besonderer Bewilligung konnte man trotzdem campieren. Mimi war von einem Vakuum umschlossen. Vornübergebeugt befand sie sich im Sog ihrer Materialien, ihrer Vision des Schmuckes der daraus entstand. Die Linien des Ufers, die Bewegungen des Wassers waren von ihr abgerückt. Mimi faszinierte mich. Die Annäherung ging nur langsam voran. Eigentlich hatte ich nichts anderes im Sinn gehabt, als unverzüglich ins Chalet zurückzukehren, die Schuhe auszuziehen und etwas zu trinken und zu essen. Nur noch gemütlich hatte ich es haben wollen, wie die Grossmutter in der Bahnhofshalle bei meiner Abfahrt. Von den streikenden Bahnangestellten an die Wand gedrängt, ihre beiden Enkelkindern an sich gedrückt, hatte sie sich über sie gebeugt: „Schon wieder eine Demonstration. Wir wollen jetzt nach Hause. Wir haben einen Krampf gehabt und jetzt wollen wir es nur noch gemütlich haben, kommt Kinder, kommt!“ Das ältere Mädchen, erschreckt und fasziniert von der Masse der Schirmmützen, der Fahnen, dem vulkanisch blubbernden Stimmenbrei, hatte sich nur schleppend mitziehen lassen. Mimi am Lac de Joux sass versunken im Schneidersitz am Ufer. Ich stellte mich neben sie und blickte auf den See. Mimi würde Hans gefallen. Eine kaum wahrnehmbare Brise wellte das Wasser. Helle Falten plissierten die blaugrau grüne Fläche, als würde ein buddhistischer Mönch seinen Rechen über das Wasser ziehen. Mimi grüsste mich auf Schweizerdeutsch, ohne aufzublicken und ohne aufzuhören den Draht um den Kiesel zu wickeln, der auf ein bereits umwickeltes Hölzchen und ein zerknülltes himbeerfarbenes Glanzpapier folgte. „Benötigen sie eine Zange?“, fragte ich Mimi. Ich hatte im Raum mit dem Schild „Privé, Entrée interdite“ einen Werkzeugkasten gesehen. Mimi bejahte. Kein Abschätzen meiner Person, kein überrascht Sein, kein Zögern, kein Überlegen, sie sagte in einer Selbstverständlichkeit Ja, als hätte sie gewusst, dass jemand kommen und ihr eine Zange anbieten würde, weil sie eine Zange benötigte. „Dann kommen sie!“ Mimi sammelte ihre am Boden liegenden Schätze ein, legte sie wie Trüffeln in die rechte Handschale. Mit übereinander gekreuzten Beinen stand sie auf, die Drahtschnur mit den bereits umwickelten Fundstücken in der linken Hand. Sie bat mich ihre Freitags-Tasche zu tragen. Sie sei nicht schwer. Die Gegend behandelt zugelaufene Katzen gut. Der Hausverwalter hatte mir bei der Schlüsselübergabe zuallererst das Katzenfutter gezeigt. „Es würden Katzen vorbeikommen“, hatte er mich angewiesen. Das Futter war schon aufgebraucht. Ich hatte kein neues gekauft. Ich hatte auch nicht den Hausverwalter bitten wollen mir neues zu bringen. Ich hatte nicht die beste Meinung von ihm. Er hatte keine Bettwäsche für den erwarteten Besuch bereitgelegt. Hinter dem Vorhang im Badezimmer hatte ich Bettwäsche ausgemacht. Für die Einzelbetten. Das Zimmer mit dem Einzelbett konnte ich aber wegen dem Fleck auf dem Teppich nicht anbieten. „Un petit malheur du Monsieur“, hatte mir der Hausverwalter bei der Hausführung erklärt. Mimi ging neben mir. Sie hatte asiatische Gesichtszüge, war aber blond. Sie sah nicht weg und sie sah nicht hin. Sie ging neben mir, als gäbe es nur sie. Signale aus der Umwelt, um sich zu orientieren, schien sie nicht nötig zu haben. Das Chalet steht in einer Gegend, die von der Uhrmacherei hugenottischen Ursprungs lebt. Abgeschlossen, still und genügsam liegt sie zwischen dem Juragestein. Dunkelgrün von Nadelwald abgedichtet, schweigt sie vor sich hin. Mimi ist zu ephemer für diese Gegend. Wenn Männer in dunkelblauen Anzügen auf den Parkplätzen vor den usines aus glänzenden Autos steigen, afrikanische Tücher an den Leinen zwischen den Fensterrahmen hängen, ein Unbekannter ein Zimmer sucht, bei dessen Miete der Pass nicht hinterlegt werden muss, ahnt man die nahe Grenze. Die Bauern verkaufen hier ihre Milch jedem, der sie grüsst. Sauber war die Gegend, präzis, schlicht, zeitlos mit den zu gross gewordenen Kirchen in den kleinen Dörfern, die sorgfältig unterhalten wurden, weil man nie wusste, wie die Zeit sich zukünftig verhalten würde. Die Frauen waren ebenso sorgfältig gekleidet und frisiert. Ein dezentes Tüchlein, ein Schmuckstück, selten Lippenstift. Nur die Schuhe schienen der Aufmerksamkeit der Bewohnerinnen zu entgehen. Sie waren einfach da zum Gehen. Geputzt, nicht einmal geglänzt und ohne Accessoires. Die Männer waren auf den Strassen und Trottoirs schwer voneinander zu unterscheiden, glichen Olaf Enquists Bild auf dem Cover der Milchfrauenhände. Sie trugen beige oder blaue Stoffjacken. Mimi fiel auf wegen ihrem blonden Haar und den asiatischen Gesichtszügen. Die Freitag – Tasche, die Jeans, der rote, tief ausgeschnittene Pullover, die roten Turnschuhe passten in die junge Linie, die gerade den ganzen Erdball umzog. Junge Leute gab es in dieser Gegend nicht so viele. Ich schloss die Tür auf, liess Mimi den Vortritt. Mimi setzte sich an den Tisch und wartete. Die Freitag-Tasche stellte ich neben ihr ab. Mimi passte irgendwie doch an diesen Ort, der wie ein alter Star von der Erinnerung lebt, als die Leute ihn noch umringt hatten um ein Autogramm zu bekommen. Hier würde keiner eine getürmte Tochter einer gutbürgerlichen Familie erwarten. Ich kochte Tee und legte die petits plats auf einen Teller. Die petits plats waren kleine Pizzas, die aber petits plats waren, wie mich die Bäckersfrau, nicht ungeduldig, aber bestimmt, korrigiert hatte. Sie war sich ihrer Sache sicher, lenkte die Unentschlossenheiten, das Abschweifen, die fremden Ausdrücke höflich und bestimmt auf ihre Ware hin, die nach Hefe, Butter und Rahm roch. Dazwischen hatte sie die Schlange, respektive den queue aufgefordert doch bitte aufschliessen zu wollen. Das Stocken war durch mein Wiederholen des Pizzawunsches und durch das Hin und Her der zwei Herren entstanden, die sich im weiten Feld der Verführungen verloren hatten und sich gegenseitig immer wieder fragten, was sie denn gerne hätten. Sie haben das Spiel so gut beherrscht, bis der eine nach der Aufforderung der Bäckersfrau absichtlich einen Fehler gemacht und sich für die milles feuilles entschieden hatte. Ich entschuldigte mich bei Mimi, dass ich wegen dem unerwarteten Sonntag an einem Montag nur die petits plats zu bieten hätte, die ich in der Bäckerei gekauft hätte, die auch an Sonntagen geöffnet habe. Ob sie wisse, was der jeûne fédéral sei, fragte ich aus der Küche durch die Anrichte in die Stube. Mimi reagierte nicht. Der Alte, in einer gefütterten blauen Stoffjacke, mit meditativem Gang, den ich nach dem Einkauf in der Bäckerei nach der Bedeutung des Sonntags gefragt hatte, hatte auch nicht gewusst, warum am Montag Sonntag war. Sicher etwas, das zwei hundert Jahre zurück liegt, hatte er gemeint. Man denke sicher an Gott, hat er gesagt. In anderen Gebieten, da gebe es diesen Sonntag nicht, da sei man katholisch, in Genf zum Beispiel, hatte er gesagt. Ich erzählte Mimi lachend vom Weltbild des Alten, der wahrscheinlich von Hugenotten abstammte und Genf, die Calvinstadt, des Katholizismus bezichtigte hatte.

Ich: So unbedeutend ist es für Einheimische in verlorenen Gegenden, wer sie sind und woher

ihre Familien gekommen sind.

Mimi: Warum sind sie hier, allein in diesem grossen Haus?

Ich: Ich bin nicht allein, ich erwarte Gäste.

Mimi: Sie können mich Mimi nennen, wenn es ihnen gefällt. Ich bin jetzt bei ihnen, damit sie nicht alleine warten müssen.

Ich: Ich nenne Sie Mimi, weil sie mich interessieren und ich sie am Ufer gefunden habe.

Mimi: Sie nennen mich Mimi, weil ich sie an jemanden erinnere.

Ich: Stimmt. Ich kenne jemanden, der aus Treibholz Mimis an Flussufern gelegt hat. Später, in

den Ausstellungshallen ist es Lindenholz gewesen.

Mimi: Sie stellen sich vor, dass sie Gäste erwarten?

Ich: Die Bäckersfrau erwartet keine Gäste. Sie verkauft ihre petits plats. Jeden Tag werktags,

sonntags und an Feiertagen.

Mimi: Sie stellen sich dies alles vor.

Ich: Ich nenne sie Mimi, weil sie mich an die Lindenholz-Mimis erinnern. Sie sollten nach Hause gehen. Ihre Familie wird die verlorene Tochter mit offenen Armen empfangen.

Mimi: Warum sind sie allein?

Ich: Ich erwarte Gäste. Bei einem Feiertag, an dem an Gott gedacht wird, sollte die Kirche

offen sein. Finden sie nicht auch? Eine schöne alte Kirche neben der Bäckerei. Die Kirche war

aber geschlossen. Zehn Uhr morgens und die Kirche war geschlossen. Neben der Kirche steht

ein Soldatendenkmal. Über dem Eingang der Kirche eine Schrifttafel, dass sie 1916 nach einem

Feuer wiederaufgebaut worden ist. Das Soldatendenkmal neben der Kirche ist jünger. ‚Für alle, die für das Vaterland gestorben sind‘, steht auf dem Schild am Sockel. Ich kann mich an keine Gestorbenen für das Vaterland erinnern. In der Schule haben wir Caesars de bello gallico gelesen. Die Schlacht bei Bibracte. Viele Helvetier sind auf dem Auszug aus ihrem angestammten Land oder anders gesehen, auf ihrem Ausweitungsraubzug gefallen. Würden sie für das Vaterland sterben wollen?

Mimi: Kommen die Gäste aus der Angst?

Ich: Sie wollen also Schmuck machen? In dieser gottverlassenen Gegend. Zufälliges in Schmuck verwandeln. Liebe Mimi, hier werden sie es höchstens dazu bringen in einem der über 100jährigen Häusern zu wohnen. Im besten Falle in einem, das auf der Wetterseite kein Wellblech hat, weil genügend Geld zum Renovieren da ist. Im Garten wird alle zwei Jahre die Storchentafel aufgestellt werden: Arthur, Noah, Oskar. Haben sie bemerkt, dass die Störche hier in letzter Zeit nur Knaben gebracht haben. Sie haben recht, Gegenden mit Männerüberschuss sind eher bereit fremde Frauen zuzulassen oder sie beginnen Krieg und sterben für das Vaterland. Zweimal in der Woche treffen sie Monsieur Pierre im Seehäuschen. Die Uhr und das Halsband mit dem Diamantherz bewahren sie in der Nähschachtel auf, damit nichts ans Licht kommt. Die Zutaten für ihren Schmuck bewahren sie in einer anderen Schachtel neben der Nähschachtel auf und wenn jemand die Schachteln verwechselt, werden sie lügen. Kommen sie, wir setzen uns auf die Terrasse in die Abendsonne.

Wir tranken weiter Tee und assen die petits plats auf. Ab und zu fuhr auf der Seestrasse ein Auto vorbei oder jemand kam vom Zeltplatz her und warf einen Sack in den Abfallcontainer.

Ich: Sie denken, ich erwarte keine Gäste. Sie denken, ich hätte die Gäste erfunden, damit niemand denkt, ich sei allein in dem Ferienhaus mit den fünf Betten. Liebe Mimi, ich habe diesen Ort geträumt und Hans hat gesagt, dass er an den lac kommen werde. Acht Stunden Fahrt, hat er gesagt. Er hat auch gesagt, dass ich ja jetzt den Mond habe und nicht mehr im See zu baden brauche. Die Zange ist zu grob für den Schmuck.

Mimi: Macht nichts.

Die Sonne versank im See. Ich holte eine Jacke.

Mimi: Ich gehe jetzt.

Ich: Sie wollen gehen?

Mimi: Sie wollen, dass ich bleibe?

Ich: Der Beweis, dass hier Menschen vorbeikommen.

Mimi: Haben Sie mich im Traum eingeladen.

Ich: Nein.

Mimi: Sie träumen Orte, die sie dann finden?

Ich: Ja, ich habe diesen Ort geträumt und ich habe ihn gefunden.

Mimi: Er hat gesagt, dass er an den lac kommt?

Ich: Er hat gesagt, dass er an den lac kommt.

Mimi: Er ist nicht an den lac gekommen?

Ich: Er hat gesagt, dass ich ja jetzt den Mond habe.

Mimi: Waren Sie schon in Paris?

Ich: Ja.

Mimi: Ich gehe nach Paris.

Ich: Paris ist gut. Gehen sie nach Paris.

Mimi hat im Zimmer mit Monsieurs malheur auf dem Teppich übernachtet. Ich habe ihr einen roten Schuhsack für die angefangenen Schmuckstücke und Geld mitgegeben. Als sie zur Tür hinaus ging, schlüpfte eine der streunenden Katzen in das Haus. Weil ich kein Futter mehr hatte, miaute sie herum. Ich scheuchte sie hinaus. Beim Abrechnen hatte der Hausverwalter keine zusätzlichen Kurtaxen verlangt. Ich hatte sogar meine Vorbehalte gegen ihn aufgegeben, als sich herausgestellt hatte, dass er eigentlich ein Motorradrennfahrer wäre, wenn nicht der grosse Unfall gewesen wäre. „Ganz aufgehört habe ich nicht. Eine Leidenschaft geht immer irgendwie weiter“, hatte er gesagt. Wegen der Leidenschaft, habe ich die Vorbehalte gegen ihn aufgegeben. „Er fahre anders. Er habe jetzt Frau und Kinder, deshalb fahre er anders.“

Frau Kan überführt sich selbst beim Versuch die Aufzeichnungen einem Gebrauch zuzuführen. Einen Bedeutungszusammenhang mit Hana herzustellen. Als hätte die junge Frau, die sich nicht wagt zu träumen, damit das Unglück nicht auf sie aufmerksam wird, etwas mit Mimi zu tun. Frau Kan wirft Mimi in den Abfallsack.

Du kennst nie die ganze Geschichte

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