Читать книгу Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König - Страница 13
Frau Kans-Aufräumplan
ОглавлениеDer Anfang von Hana Marics Besuchen war zu Gunsten von Frau Kan gelaufen. Frau Kans Strategie sich vordergründig der Kontrolle der abgesandten Pflegenden zu überlassen und diese für sich einzunehmen, hatte Erfolg. Frau Kan hatte Erfahrung im Umgang mit ohnmächtigen Menschen, die an Arbeitsstellen amtieren, wo sie ziemlich unangenehm werden können, wenn man ihren Anordnungen nicht Folge leistet. Frau Kan hatte am ersten Hana-Tag das blau-weiss gestreifte Wollkleid mit den roten Zwischenbahnen angezogen. Es machte sie ein bisschen nobel. Unterstrich die weibliche Warmherzigkeit im alten Stil. Geeignet, Frau Kan als jemanden zu präsentieren, mit dem noch gerechnet werden musste. Frau Kan hatte eine Ingwer Karottensuppe mit Käse und Brot als Beilage zum Mittagessen zubereitet. Eine Demonstration der funktionierenden Selbstversorgung. Der Ingwer ein Zeichen belebender Reize, was gegen eine Vereinsamung sprach. Frau Kan wusste, dass Hana Maric den Zustand ihrer Klientin beurteilen und das Ergebnis der Zentrale mitteilen würde. Hana Maric würde wahrscheinlich nach dem Essen fragen, nach dem Schlafen, nach der Ausscheidung, ob sie dusche oder sich mit dem Waschlappen wasche, ob sie ausgehe, Besuch habe. Hana Maric hatte geklingelt, war eingetreten und hatte sich vorgestellt. Neutral, noch ohne ihre Aufmerksamkeit auf die neue Klientin zu richten. Sie hatte den Mantel an das Bein des Bügelbrettes gehängt, ihre Schuhe daneben gestellt, die zusammengelegten schwarzen Hausschuhe aus der Freitag-Tasche gezogen. Eine Art Gymnastik- oder Ballettstoffschuhe mit einem Plastikzug oben im Saum. Sie hatte eine weisse Stretch-Hose, eine Art Gymnastikhose getragen, die ihre Bewegungen abgezeichneten und ein enganliegendes, weisses Langarm-T-Shirt. „Sie sollten die Tür abschliessen“, hatte sie gesagt. „Ich meine, sie laden die Verbrecher mit der offenen Tür geradezu ein. Jeder Polizist wird ihnen bestätigen, dass vorbeugen besser ist, als heilen“, hatte Hana Maric gesagt. „Sie haben recht“, hatte Frau Kan gesagt, „ich erwarte einfach nichts Böses“. Frau Kan hatte sich vorgenommen bei allem, was von dieser Pflegeperson kommen würde Ja und Amen zu sagen, sofern es sich um Bagatellen handeln würde. Bei Nicht-Bagatellen würde es ihr gelingen Angeordnetes zu unterlaufen oder Konsequenzen bei Zuwiderhandeln nicht so ernst zu nehmen. Frau Kan war darin geübt. Jede Frau meines Alters ist darin geübt, denkt Frau Kan. „Ich schlage vor, wenn es ihnen recht ist, dass wir uns an den Tisch setzen und uns heute erst einmal gegenseitig kennenlernen“, hatte Hana Maric vorgeschlagen. Frau Kan hatte der jungen Frau mit einer einladenden Geste bedeutet sich zu setzen und hatte sofort auf die Marienkarikatur hingewiesen, die sie am Morgen aus einer der Kisten mit den schwarzen Deckeln geholt hatte. „Es hat ja gerade so sein müssen, dass sie heute das erste Mal kommen. Sie helfen mir bestimmt beim Aufhängen dieses Erinnerungsstückes“, hatte Frau Kan geschmeichelt. „Dafür bin ich ja da. Sind sie das?“ Hana Maric war über Frau Kans Kontaktangebot sichtlich erleichtert gewesen. „Ja, ja, in jungen Jahren. Lustig, nicht. Karikaturen zeigen manchmal ganz gut das eigentliche Wesen. In diesem Falle sogar, wie man von Kollegen gesehen wird. Hat schon jemand von ihnen eine Karikatur gemacht?“ „Nein, das passiert wohl nicht jeden Tag.“ Es sah nicht schlecht aus für Frau Kan. Hana Maric hatte gelacht. Sie hatte vorgeschlagen das Bild gleich aufzuhängen, bevor sie danach noch ein paar Fragen stellen müsse. Hana Maric wollte Frau Kans Vertrauen. Frau Kan wollte Hana Maric verführen. Die Kleine ist noch nicht erwacht, trotz Hosen, die ihre Bewegungen anpreisen, hat sich Frau Kan gedacht und Hammer, Meter und Stahlstifte geholt . Beim Aufhängen der Marienkarikatur hatte Frau Kann ohne Unterbruch geredet: „Ein Geschenk eines Arbeitsfreundes zu irgendeinem runden oder halbrunden Geburtstag. Es gibt ihn noch, diesen Freund. Ein Kunsthistoriker. Wahrscheinlich gibt es ihn noch. Vor sieben Jahren hat es ihn noch gegeben. Was meinen sie, ist es wichtig, dass ich Kunsthistoriker denke, wenn ich an meinen ehemaligen Freund denke, der mir dieses Bild geschenkt hat?“ „Bei mir hängt eine richtige Madonna über dem Bett“, hatte Hana Maric gesagt und danach gleich die Stimmlage gewechselt um Frau Kan auf die begrenzte Zeit aufmerksam zu machen und darauf, dass eine Aufgabe zu erfüllen war. Frau Kan und Hana setzten sich an den Tisch. Hana hatte auf ihrem Gerät wahrscheinlich ein Formular geöffnet. „Ich werde den ehemaligen Kollegen fragen, ob es wichtig ist, dass ich Kunsthistoriker denke. Jetzt, da er Sakristan ist. Ich werde ihn in seiner Kirche besuchen und ihn fragen, ob er meint, dass die Kirche gross genug ist, um unseren am Ende immer noch herumirrenden Geistern auf deren Bänke Platz zu bieten. Ich werde ihm sagen, dass er keine Kissen auf die Bänke legen soll. Ich werde ihm sagen, dass ich in der Patientenverfügung geschrieben habe, dass ich keine Wellness will.“ Frau Kan hatte vorgehabt mit Reden zuzudecken, was in ihr vorging und hatte mehr gesagt, als wenn sie nicht geredet hätte, sofern jemand diese Sprache verstand. „Machen sie das“, hatte Hana Maric gesagt, „Kontakte von früher halten gesund“. Es war nochmals gut gegangen. Hana hatte die Aufgabe Frau Kan zu versorgen und nicht versteckte Botschaften aufzudecken. Hana Maric hatte Frau Kan nach dem Essen gefragt, nach dem Schlafen, nach der Ausscheidung, ob sie dusche, bade oder sich mit dem Waschlappen wasche, ob sie ausgehe, wie viel Besuch sie pro Woche habe. Die junge Frau war zufrieden gewesen, als sie Frau Kans Antworten auf ihre Fragen präzise, ohne Umschweife bekommen hatte. Hana kommt jetzt jeden Werktag zwischen 13.15 Uhr und 13.30 Uhr. Zuverlässig wie eine Katze. Der Anfang ist immer gleich. Hana Maric klingelt. Frau Kan öffnet die Tür, die sie kurz vorher verschlossen hat. Hana Maric tritt ohne Frau Kan zu beachten in die Wohnung, hängt ihren Mantel an das Bein des Bügelbrettes im Flur, gibt Frau Kan die Hand, guckt ihr in die Augen, Frau Kan guckt in Hana Marics Augen. Hana Maric und Frau Kan halten sich ziemlich lange die Hände. „Und, was haben wir heute auf dem Programm?“ Hana Maric Zeichen jetzt an die Arbeit zu gehen. Das Programm ist für jeden Tag festgelegt. Montag Essensplan und Einkaufsliste schreiben. Dienstag duschen und Nagelpflege. Mittwoch nach Bedarf. Donnerstag Lymphdrainage und Haut pflegen. Freitag duschen und Haare waschen. Dreiviertelstunden bleibt Hana. Die Lymphdrainage muss Frau Kan extra bezahlen. Frau Kan war mit allem einverstanden gewesen. Der Wochenplan hängt in der Küche. Hana trägt jeden Tag die gleiche weisse Stretchhose und das gleiche weisse T-Shirt. Sie muss die Kleider abends auswaschen, denkt Frau Kan. Ein schnell trocknendes Material. Wahrscheinlich fügt sie ab und zu von diesen Weissmachern bei, die Augen und Halsschleimhäute angreifen. Es sieht nicht schlecht aus für mich, denkt Frau Kan. Hana Maric lässt sich verführen. Eine junge Frau, die Gutes tun will. Mit Flüchtlingshintergrund, auch wenn sich davon, ausser dem Namen, vordergründig nichts zeigt. Aber so etwas geht in die Gene, resümiert Frau Kan. Als Zweijährige sei sie mit der Mutter geflüchtet. Erinnerungen habe sie keine. Die Mutter habe vom langen Warten an der Grenze Italiens erzählt, bis die Schweiz die Einreise bewilligt habe. Sonst nichts. Sie habe den Schweizer Pass. Ohne Probleme. Es gehe ihr gut und an Benachteiligungen könne sie sich nicht erinnern, so hatte Hana Maric erzählt, als Frau Kan sie gleich zu Beginn gebeten hatte, etwas von sich zu erzählen. Die Mutter sei nach Sarajevo zurückgekehrt und versuche sich dort als Juristin wieder eine neue Existenz aufzubauen. In der Schweiz hätte sie keine Chance gehabt. Der Vater sei im Krieg gefallen. Sie habe keine Erinnerung und kein Bild von ihm. Nein, sie werde nicht nach Sarajevo gehen. Auch nicht zu Besuch. Die Mutter könne hierherkommen, wenn sie ihre Tochter sehen wolle. Sie fühle sich wohl hier und sei zufrieden mit dem, was sie mit 24 Jahren erreicht habe. Mehr zu wollen, würde das Unglück anziehen. Eine ausgelöschte Geschichte, denkt Frau Kan. Frau Kan fühlt sich geradezu verpflichtet, Hana Maric zu verführen. Hana Marics Komplizenschaft wird sich auch für die junge Frau auszahlen, denkt Frau Kan.