Читать книгу Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König - Страница 11
Frau Kans Aufräum-Strategie
ОглавлениеAb morgen wird Frau Kan die neue Klientin sein, die Hana Maric von der Leiterin der Spitex-Dienste zugewiesen bekommen hat. Eine heikle Aufgabe, hat ihr die Leiterin sagen müssen. Frau Kan sieht keinen Bedarf an Unterstützungsleistungen. Die Kinder hingegen haben Anzeichen von Verwirrtheit ausgemacht. Mit diesen Informationen wird Hana Maric Frau Kan morgen das erste Mal begegnen. Frau Kan hat ihren Widerstand aufgegeben. Sie wird Hana Maric zu ihrer Verbündeten machen. Vorsicht ist geboten, denkt Frau Kan. Keinen Verdacht aufkommen lassen. Es wird von selbst geschehen, denkt Frau Kan. Frau Kan wird Hana Maric gewinnen ihr beim Aufräumen zu helfen. Die Kisten müssen geleert werden. Frau Kan will keine Spuren hinterlassen. Keine Geister erzeugen, die zurückkommen. Der Körper wird erstarren, verbrannt werden. Die Asche in ein Gefäss gefüllt und auf der Wiese der Unbekannten entsorgt. Frau Kan wird Hana Maric nach ihrem ersten Fremdheitserlebnis fragen. Nicht jetzt. Später, wenn sie miteinander vertraut geworden sind. Das Holz für das Triptychon liegt immer noch im Keller. Frau Kan wird Hana sagen, sie möge doch das Holz auf das Trottoir stellen. Jemand wird es mitnehmen. Einen Tierkäfig daraus bauen. Ein Freund, der ein Haus in der Bretagne mit eigenen Händen zum Ferienhaus umgebaut hatte, hatte Frau Kan damals geraten eine alte Kommode für das Triptychon zu verwenden. Eine Kommode würde den Hohlraum bezugsfertig liefern. Frau Kan hätte aber Flügel gebraucht, keine Schubladen. Frau Kan ist keine Künstlerin geworden. Hans hat gemeint, sie könne schreiben. Frau Kan legt die Partitur des Gesanges aus der Fremde in die Kiste zurück. Es ist zu früh sich ins Bett zu legen. Frau Kan nimmt sich die Seiten vor, die unter den Stimmen der Fremdheitserlebnisse liegen. Ich sammle Männer (Arbeitstitel). Frau Kan lacht. Sie lacht so laut, dass sie sich die Hand vor den Mund hält. Jetzt nur nicht auffällig werden. Ein Virium. Frau Kan lacht erneut. Sie erinnert sich nicht Männer zwischen Buchdeckeln gepresst und mit Stecknadeln auf den neutralen Bildhintergrund gepinnt zu haben. Frau Kan legt die Männersammlung in die Kiste zurück. Später. Später, wenn sie Hana Maric für sich gewonnen haben wird, wird Frau Kan alles sortieren. WEG. ÜBERPRÜFEN. EINEM GEBRAUCH ZUFÜHREN. Unter der Partitur Amélie. Manchmal hat Frau Kan an Wochenenden mit Amélie Kaffee getrunken. Bis Amélie ausgezogen ist, weil sie Fred geheiratet hatte. Fred hat Bananenaufkleber gesammelt. Amélie hatte ein spitzes Gesicht. Ein Fuchsgesicht. „Seit ich die Haare rot gefärbt habe, sagt mir niemand mehr, ich hätte ein Fuchsgesicht.“ Frau Kan erinnert sich an Amélies Stimme. Frau Kan bereut sich nicht mehr erinnern zu können, ob sie mit Amélie darüber geredet hat, warum niemand mehr gesagt hatte, Amélie hätte ein Fuchsgesicht, nachdem sich Amélie die Haare rot gefärbt hatte. Als Frau Kan Amélie kennen gelernt hatte, war Amélie in der Entwicklung von unblutigen Seziermethoden am gerichtsmedizinischen Institut tätig gewesen. Wenig später hat sie Leichen präpariert. Herzen, Häute, alles Mögliche. Danach hat Amélie in die Equipe des Fossilienmuseums einer Firma gewechselt, die Zement abbaut und vertreibt. Beim Abbau des Ölschiefers wurden häufig Fossilien gefunden. Amélie hatte die Blicke nicht mehr ertragen, wenn sie die Frage, die jeder stellt, die ewig gestellt wird: „Was machst du?“, wahrheitsgetreu beantwortet hatte. Amélie hatte sich sogar bei der neuen Arbeit fotografieren lassen um ihre jetzt gültige Antwort auf die ewige Frage zu beweisen:
• Amélie auf dem Jeep mit den Holzkisten. Von der Grube wegfahrend, in der sie die Steinbrocken abgeholt hatte.
• Amélie im Keller des Museums klopfend, sägend schleifend, das konservierte Leben aus dem Stein herausholend. Mit Maske. Wahrscheinlich um den Staub von ihrer Lunge abzuhalten.
Sie musste von Niki de Saint Phall’s Lunge gewusst haben, denkt Frau Kan.
• Amélie, einer Juwelierin gleich, mit Lupe über einen Stein mit Seelilien gebeugt.
Von Amélie hat Frau Kan erfahren, dass Seelilien Tiere sind.
• Amélie am Skizzieren des Bauplanes des gefundenen Lebewesens.
• Amélie mit dem Chef des Museums.
Frau Kan legt die Fotos in die Kiste zurück. Amélie liebt schöne Formen. Frau Kan hat Amélie im Museum besucht. Eine lichte Konstruktion aus Stahl, Beton und Glas mit einer Brücke zu den Bürogebäuden der Zementfirma. Frau Kan erinnert sich nicht, dass Amélie je etwas davon erzählt hatte, wie aus dem gesprengten Kalkstein, der mit einer Seilbahn vom Berg direkt der Verarbeitung zugeführt wird, Zement entsteht. Amélie interessiert sich nicht für den Zement, denkt Frau Kan. Es genügt ihr, dass die Fossilien sie bei der ewigen Frage vom Spiessrutenlaufen befreit haben. Sie war keine Leichenschänderin mehr. Fossilien kommen gut an. Die Millionen Jahre dazwischen verwandeln den Tod in ein Kunstwerk. Amélie ist leicht. Sie wird mit Frau Kan hochsteigen. Die Felswände hoch in den Himmel hinein. Frau Kan legt die Fotos in die Kiste zurück. Hana Maric wird mir helfen, denkt Frau Kan.
Bernard
Geboren in Bordeaux. 1943. Illégitime. Mutter: französische Jüdin. Vater: unbekannt. Der Vater war Grieche gewesen. Die Familie lebt in Rhodos. Der Hinweis war von einer Freundin der Mutter gekommen. Mutter und Vater hatten wegen all den Umständen eine aussereheliche Beziehung geführt. Mutter und Vater sind nach dem gemeinsamen Verlassen der Wohnung in Paris nicht mehr zurückgekommen. Erschossen. Auf offener Strasse. Kindheit in Syrien bei der Schwester der Mutter in gehobenen Verhältnissen. Bernard hatte den Namen des verstorbenen Sohnes der syrischen Familie erhalten. Bernard erinnert sich an das Essen, das er bekommen hatte. „Es ist eine gute Zeit gewesen“, sagt Bernard, glatzköpfig, Onassis Statur. Bernards Küche ist vollgestellt mit einem Gastronomie Kühlschrank und einem Familienkühlschrank. „Es ist eine gute Zeit gewesen“ ,sagt Bernard.“ Ich hatte immer gut zu essen“. Bernard wartet auf den Durchbruch des Patentes für Umwandlungen von Schallwellen in Energie. Er wird reich werden. Er brauche eine Frau, die sein Leben ordne. Mit 18 hat ihn die syrische Familie nach Bordeaux zurückgeschickt. Die Lage war zu gefährlich. Der Staat Israel war gegründet worden. Mit 18 allein in Bordeaux. Ohne Geld. England sucht 6 junge Männer für die kostenlose Ausbildung zum Militärpiloten. Bedingung: In Bordeaux geboren. Die Rekrutierung ein alter Zopf aus dem 12. Jahrhundert. Hervorgegangen aus der Heiratsallianz zwischen der aquitanischen Herzogstochter mit dem Herzog der Normandie und König von England. Bernard wird aus den 120 Anwärtern auserwählt. Mit dem Geburtsnamen und einem englischen Pass emigriert Bernard nach London. Zehn Jahre Armee. Keine Kriegseinsätze nur Erkundungsflüge. Bei einem Trainingsflug Explosion des Motors. Ausgelöst durch einen Vogel. Bernard betätigt den Schleudersitz. Von hinten über den Trainee gebeugt. Als Trainer war es Bernards Pflicht gewesen den Trainee zu schützen. Bernards Rücken schwer verletzt. Beste medizinische Betreuung in Wien. Das englische Militär ist bis heute grosszügig. Weitere Laufbahn in Wien. Der österreichische Staat stiehlt ihm eines seiner Patente.
Frau Kan nimmt Bernard mit in die Küche. Ein seltenes Exemplar, denkt Frau Kan. Sie hätte seine Biografie schreiben müssen. Wahrscheinlich habe ich ein Drehbuch aus der Lebensgeschichte schreiben wollen denkt Frau Kan. Sie hat es nicht gemacht. Frau Kan erinnert sich vernebelt an Kuchen an einem See. Warum hatte Frau Kan das Exemplar nicht in das virium eingefügt? Warum als Einzelstück aufbewahrt? Frau Kan erinnert sich an den Archivar südöstlich von Bordeaux. Auch ein Glatzkopf. An das Original eines Briefes von Cézanne an die Grossmutter des Archivars. Frau Kan kocht Teewasser. Betrachtet die Hände im Spiegel der Wasserkanne. Es sind Frau Kans Hände. Sie holt die Männersammlung unter Amélie und den Stimmen der Fremdheitserlebnisse hervor. Ohne zu überprüfen, ob der Archivar und das Original von Cézannes Brief an seine Grossmutter darin figurieren, zerreisst Frau Kan die Seiten und wirft die Schnitzel in den Abfall. Hana Maric soll sie nicht lesen. Was Frau Kan mit Bernard anfangen will, weiss sie noch nicht. Bernard ist zu schwer um mitzunehmen, denkt Frau Kan. Unerlöst.