Читать книгу Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König - Страница 8
Verschwinden
ОглавлениеDie Materialsammlung muss weg. Die zwei Plastikkisten mit den schwarzen Deckeln müssen weg. Alles Festgehaltene muss weg. Leicht werden. Abnehmen. Die Lust einer Magersüchtigen. Verschwinden. Keine Spuren hinterlassen. Nach dem Spaziergang im Schnee. Auf der Fahrt nach Hause. In der Strassenbahn. Stille. Schneestille. Die Passagiere bewegungslos. Die Passagiere müssen entsorgt werden. Die Katastrophe wälzt sich auf Frau Kan zu. Nicht das Entsorgen der Toten ist übermenschlich, denkt Frau Kan. Nach einer temporären Überbelastung der Krematorien werden nach einer kurzen Verzögerung alle Körper zu Asche werden. Das Entsorgen der Biografien ist das ÜBERMENSCHLICHE. Kein Perseus, der sich mit der Tarnkappe der Medusa nähert; dem Ungeheuren den Kopf abschlägt. Die Götter haben aufgehört sich zu paaren. Die Biografien und die Einträge in den Datenbanken, Registern, Archiven. Es ist immer jemand da, der nach etwas sucht. Jemand wird die Strassenbahnfahrenden in einer cloud finden. An das Licht zerren. Im Licht des Jahresanfanges werden die Passagiere auferstehen, wenn die Strassenbahn längst nicht mehr fährt. Kein Mensch hatte Sonne erwartet. Auf dem Plateau vor dem Passübergang. Nebelschwaden waren hochgezogen. Über die Spitzen der Giganten hinaus in den Himmel hinein. Der zerklüftete Fels stemmte der entstandenen Weite seine Schatten entgegen. Der Wind plissierte die Schneefelder. In den Faltenbrüchen himmelblau oszillierendes Jenseits. Das Kollagen wird erstarren. Die Falten werden glattgezogen. Die Kisten müssen weg, denkt Frau Kan. Frau Kan kommt aus einer Familie, die ausser einem Porzellanreh, zwei hölzernen Heugabeln, einem Fotoalbum und einer silberfarbenen Biskuit Blechschachtel nichts hinterlassen hat. Ich werde die Teekanne zum Familienbesitz beisteuern, denkt Frau Kan. Das Spiegelbild des Aktes auf dem Bauch der Teekanne. An einem glasklaren eiskalten Tag. Alles muss weg. Überhaupt nichts sagen. Keine Geister hinterlassen. Nichts zum Entziffern. Anna ist mit 13 Jahren von Uruguay in die Schweiz gekommen. Anna ist, wie Anne, mit der Mutter zurückgekommen. Vor dem Spiegel hat Anna geübt: Ich heisse. Ich wohne. Wenn Anna etwas anderes gefragt wurde, war nichts da. Die Schule. Schlimm. Eine Rädelsführerin hat es arg getrieben. „So ein Indio! Die haben nicht einmal Betten zum Schlafen.“ Die Rädelsführerin ist Schriftstellerin geworden. „Der einzige Mensch, den ich hasse“, hatte Anna gesagt. Name? Geburtsdatum? Heimatort? Den Durst aushalten. Den Mund nicht öffnen. Nicht zur Türe gehen. Keinen Knopf, keinen Schalter drücken, kippen, touchen. Das Handy auf‚ der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar‘ stellen. Alle Stecker ausziehen. Es gab keinen Handgriff an einem schwarzen Kästchen an der Wand, den Frau Kan, wie Grossmutter bei einem nahenden Gewitter, hätte nach unten ziehen können. Ein Mann und eine Frau gehen in ein Haus. Drei Minuten. Der letzte Film läuft in drei Minuten ab. Der zusammengeklappte Liegestuhl. Die Bachstelze, die Wasserschlange, das schäumende Pferd, der blutüberströmte Nachbar, die Hauswand mit den anthrazit gerahmten Fenstern. Die Blütenblätter am Rand leicht aufgewellt, in der Mitte eine goldene Kugel. Die spanische Wand.