Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 10

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Murad und ich spielten Flying Zombies. Ich hämmerte auf die Tastatur ein und hatte schon zehn Zombies zur Strecke gebracht, ehe Murad auch nur einen Mausklick machen konnte.

»Der letzte gehört dir«, sagte ich.

Murad ließ die ganze Zombiestadt hochgehen.

»Das sollten wir öfter machen«, sagte er.

Jadran mochte die neuen Bettbezüge nicht, die Mama gekauft hatte. Schon ihr Geruch machte ihn unruhig. Er musste davon niesen und trat die Bettdecke von sich.

»Komm«, flüsterte ich und klopfte neben mir auf die Matratze.

Jadran schob sein Kopfkissen an meines und rutschte ganz nah zu mir.

Ich bekam kein Auge mehr zu, er dagegen schnarchte sich selig durch die Nacht.

Am nächsten Morgen brachten wir Tirie seinen Namen bei.

»Tirie«, krächzte Jadran. Er war jetzt der Kranichpapa und warf ein paar Körner auf den Boden.

Schon bald kam der Vogel zu uns, wenn wir seinen Namen sagten. Weil er noch nicht rufen konnte wie ein erwachsener Kranich, antwortete er mit einer Art Jammerlaut.

Triririri trrrrie.

»Tirie! Tirie!«

Es machte Spaß, gemeinsam mit Jadran den Vogel zu zähmen. Mein Bruder hatte lange keine so gute Laune mehr gehabt. Als Tirie zum ersten Mal ein Stück Brotrinde aus seiner Hand nahm, strahlte er. Und darum erlaubte Mama auch, dass der Kranich noch ein Weilchen blieb. Seine Wunde heilte gut. Ein paar Tage noch, dann könnten wir ihn zurück zum See bringen.

Es dauerte nicht lange, und Tirie hüpfte hinter uns her. Wenn Mama gerade nicht in der Nähe war, öffnete Jadran die Balkontür und stolzierte zusammen mit dem Vogel durch die Wohnung. Ich gab ihm Hinweise, wie er Tiries Bewegungen am besten nachahmen konnte: den Hals recken, den Bauch einziehen und auf Zehenspitzen trippeln.

Nur fliegen konnte Tirie noch nicht. Das heißt, er machte keinerlei Anstalten dazu. Er versuchte nicht einmal, seine Flügel auszubreiten.

»Wir müssen’s ihm beibringen«, sagte Jadran.

»Wir können nicht fliegen«, wandte ich ein. »Wie soll man jemandem etwas beibringen, das man selber nicht kann?«

»Wenn man ganz fest will, kann man alles.«

Das hatten sie ihm natürlich im Freiraum, seiner Spezialschule, eingehämmert. Dort wurde er mit Lob und Tipps überschüttet. Jadran hatte es richtig gut drauf, die Sätze der Betreuer ständig zu wiederholen.

»Wir sind viel zu schwer«, sagte ich.

Jadran warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Wir brauchen Flügel!«

Damit meinte er nicht etwa selbst gebastelte Flügel aus Papier oder Karton. Er wollte große Flügel mit echten Federn. Er wollte Mamas blaue Flügel.

Die hatte sie getragen, als sie noch mit Papa in Musicals auftrat. Sie waren nach Maß angefertigt worden.

Aber seit Papa fort war, wollte sie nichts mehr von ihnen wissen.

Jadran war schon auf dem Weg in die Diele, um den Schlüssel zu holen, der über dem Schuhschrank hing. Denn die Musicalkostüme befanden sich im Keller. Und dort durfte Jadran nicht allein hin, das sah ich genau wie Mama. Also musste ich ihn davon abhalten. Oder mitgehen.

Mama selbst ging ungern in den Keller. Dort sei es wie in einer Zeitmaschine, sagte sie. Ehe sie sich’s versehe, hätte sie den falschen alten Karton aufgemacht und sei in einem früheren Leben gelandet. Einem früheren Leben, von dem sie glaubte, es beinahe vergessen zu haben.

Ich steckte den Schlüssel ein und ging vor Jadran her die Treppe hinab bis ganz nach unten.

Im Kellergeschoss roch es nach Schimmel und Mottenkugeln. Links und rechts gingen viele Metalltüren ab, aber ich wusste genau, welches unsere war.

Der kleine Kellerraum war bis an die Decke voll mit Kisten, Kartons, Stapeln von vergilbtem Papier und Sachen wie aus dem Secondhandladen. Ganz hinten befand sich ein Ständer, an dem große schwarze Kleidersäcke hingen.

»Wir hätten Mama erst fragen sollen«, sagte ich.

Aber Jadran ging bereits strahlend auf den Kleiderständer zu. Mamas Musicals hatte er immer toll gefunden. Bevor sie und Papa auseinandergingen, war er oft bei Aufführungen dabei gewesen. Er hatte hinten im Saal gesessen und alle Lieder mitgesungen. Sogar die Dialoge hätte er auswendig gekonnt, behauptete Mama, auch wenn er sie nur halb verstand.

Jadran ließ seine Finger über die Bügel gleiten.

»Weißt du, wo sie drin sind?«, fragte ich.

Er zögerte kurz und griff dann nach einem Kleidersack, der sich ziemlich ausbeulte.

Ich öffnete den Reißverschluss für ihn. Die Flügelspitzen fluppten heraus, als hätten sie seit Jahren auf diesen Moment gewartet. Jadran nahm die Flügel ganz aus der Hülle, lief damit durch den Gang zur Kellertür und hielt sie unter die Lampe.

Sie waren blau gefärbt, im schönsten Blau, das ich je gesehen hatte. An einem Gestell aus Draht waren viele Hundert echte Federn festgenäht. Ellenlange Schwungfedern, glänzende Deckfedern und an der Unterseite seidenweiche Flaumfedern. Jadran blies den Staub von den Flügeln. Er steckte eine Hand in die dicke Federschicht und glättete sie dann wieder. Anschließend nahm er die Flügel auf seinen Rücken und schob die Arme durch die Lederschlaufen.

Es war ein seltsamer Anblick: mein baumlanger Bruder mit den anmutigen Flügeln. Aber irgendwie standen sie ihm. Ich schnallte die schmalen Riemen um seine Handgelenke. Wenn er nun die Arme auf und ab bewegte, konnte er richtig flattern. Das tat er prompt.

Jadran flog vor mir her die Treppen hinauf. Oben rauschte er durch die Diele ins Wohnzimmer. Ich konnte kaum schnell genug alles Zerbrechliche in Sicherheit bringen.

»Aber Kinder, was soll das denn?« Beim Anblick der Flügel sprang Mama von ihrem Stuhl auf. Das Messer, mit dem sie Gemüse putzte, landete klirrend auf dem Boden.

»Ich bringe sie nachher wieder runter«, beeilte ich mich zu sagen.

Aber Mama hörte mich nicht. Mit großen Augen starrte sie Jadran an, der jetzt flügelschlagend am Balkonfenster stand.

»Auf und ab!«, rief er.

Bei jedem Flügelschlag bewegte Mamas Kopf sich hin und her, als wollte sie eine böse Erinnerung herausschütteln. Dann bückte sie sich nach dem Messer und schnitt weiter Brokkoli.

Der Vogel sah Jadran durch die Scheibe an.

»Gib ihm etwas zu fressen«, sagte ich. »Dann lernt er, dass Fliegen etwas Gutes ist.«

Und so begann die erste Übungsstunde. Jadran machte vor, was Tirie tun sollte, und ich gab ihm jedes Mal, wenn er seine Flügel ein wenig anhob, einen Käfer. Auf der Seite mit der Wunde ging es langsamer, aber der Flügel bewegte sich mit.

»Hopp!«, rief Jadran.

Happ, machte Tirie.

Yasmin trat in die Balkontür. Ihr Pony hing über den oberen Rand der Brille.

»Willst du auch mal probieren?«, fragte Jadran. »Du bist ein schöner Mamavogel, Yassi.« Mit nach hinten gerecktem Po als buschiges Schwanzgefieder trabte er vor ihr auf und ab.

»Ihr tickt wohl nicht richtig? Schwachköpfe seid ihr, alle beide!« Yasmin wich zurück und warf die Balkontür zu.

»So was sagt man nicht, Yasmin!«, rief Murad, der mit seiner Stoffhose in der Hand am Bügelbrett stand. »Entschuldige dich bei ihnen!«

Aber Yasmin sagte weder Entschuldigung noch sonst etwas.

Jadran ließ die Flügel sinken. »Sind sie denn nicht schön?«

»Doch, Riese. Sie sind wunderschön.«

Drinnen lief Murad hinter Yasmin her, um sie zusammenzustauchen. Schwachköpfe seien wir, hatte sie gesagt. Alle beide. Das klang schlimm. Und es stimmte überhaupt nicht. Trotzdem fühlte ich mich auf eine seltsame Art erleichtert. Yasmin zumindest machte keinen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir.

Die blauen Flügel

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