Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 9

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In der Nacht stand Jadran zweimal auf, um nachzusehen, ob Tirie noch da war. Er presste das Gesicht an die Balkontür und hauchte Atemwolken aufs Glas. Ich hatte ziemliche Mühe, ihn wieder ins Bett zu bekommen.

Am Morgen aß er seine Cornflakes auf dem Balkon. Dort sah es verheerend aus. Das Zeitungspapier war zerfetzt. Tirie hatte die Trinkschüssel umgestoßen, und an der Wand klebte meterhoch die Vogelkacke. Aber das alles störte Jadran nicht. Er kniete an der Tür, seine Frühstücksschale und den Löffel vor sich auf dem Boden. Der Kranich stand zitternd an der Brüstung.

»Lass ihn doch«, sagte ich. »Er hat Angst.«

»Er muss essen, sonst stirbt er.« Jadran schnippte mit dem Löffel ein Cornflake zu dem Vogel hin.

Tirie nahm es nicht. Aber er schaute zu uns her. Und das war immerhin ein Anfang.

Den ganzen Vormittag blieb Jadran auf dem Balkon. Mama versuchte gar nicht erst, ihn davon zu überzeugen, dass wir Tirie wegbringen müssten. So stand Jadran ihr wenigstens nicht im Weg herum.

»Na gut«, sagte sie und schlüpfte in ihren Mantel. »Der Kranich kann noch eine Nacht bleiben.« Sie fasste Murad unter, und die beiden zogen los, um Bettwäsche zu kaufen.

Ich schaute für Jadran im Internet nach: Kraniche sind Allesfresser. Wenn sie brüten, fressen sie vor allem Insekten, Würmer und Frösche, aber selten Fisch. Und beim Vogelzug scharren sie auf abgeernteten Feldern nach Resten von Weizen und Mais.

»Cornflakes sind Mais.« Jadran grinste. »Jetzt noch Würmer.« Wir zogen unsere Schuhe an. Jadran nahm einen Kochlöffel, und ich holte ein leeres Marmeladenglas aus dem Schrank.

Ich rannte durchs Treppenhaus nach unten. Jadran fuhr mit dem Lift. Was er eigentlich von Mama aus nicht allein durfte. Schon gar nicht, wenn wir wetteten, wer am schnellsten war. Aber weil sie nicht zu Hause war, machten wir es einfach. Ich schwang mich aufs Treppengeländer und rutschte das letzte Stück hinunter.

Jadran stand bereits im Eingangsflur und wartete auf mich, stolz wie ein Pfau.

Vor unserem Haus war ein Beet mit Kamelien. Sofort fing Jadran an, mit dem Kochlöffel darin zu graben. Erdklumpen flogen herum. Wir klaubten Asseln, Tausendfüßer und Regenwürmer aus dem welken Laub. Unter einer losen Gehwegplatte entdeckte Jadran jede Menge Käfer. Schon bald wimmelte es in unserem Glas von Tierchen.

Aber als wir wieder ins Haus wollten, war die Tür zu, und wir hatten keinen Schlüssel mitgenommen.

Jadran klingelte Sturm.

»Ja?«, knarzte es aus der Gegensprechanlage.

Über den Klingelknöpfen befand sich nicht nur ein Lautsprecher, sondern auch eine Kamera. So konnte Yasmin oben in der Wohnung auf einem kleinen Bildschirm sehen, wer vor der Tür stand.

»Wir können nicht rein!«, rief ich.

Jadran drückte seine Nase an die Kamera.

»Geh mal ein Stück zurück, dann kann ich euch besser sehen«, sagte Yasmin.

»Tirie hat Hunger.«

»Ihr seid dreckig.« Es klang nicht freundlich, und das war es auch nicht.

»Mach auf!« Ich versteckte meine schwarzen Finger hinter dem Rücken.

Jadran hielt stolz das Glas mit den wimmelnden Tierchen in die Höhe.

Das machte keinen Eindruck auf Yasmin. »Du hast deine Jacke verkehrt zugeknöpft«, sagte sie zu ihm.

Er ließ das Glas sinken und schaute auf seinen Bauch.

»Lass ihn!«, zischte ich. »Das ist doch jetzt nicht wichtig!«

»Und bei dir sind die Haare total zerzaust.«

Ich knöpfte Jadrans Jacke auf und wieder richtig zu. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar. »So besser?«

Yasmin lachte lauthals, wie über einen guten Witz. Es klickte, und die Haustür ließ sich öffnen.

Ich fand es grausig, lebende Würmer an Tirie zu verfüttern. Sie zappelten in seinem Schnabel. Einen Tausendfüßer biss er mittendurch, ehe er ihn auffraß. Jadran setzte einen Käfer mit glänzendem Schild auf seine Handfläche und ließ ihn dann vor Tirie auf den Boden taumeln. Kein Tierchen bekam die Chance zu entwischen.

Nach zwanzig Insekten und Würmern machte Tirie einen sichtlich zufriedeneren Eindruck. Er plusterte sein Gefieder auf, krallte die Füße in die Decke und hielt ein Schläfchen.

Jadran ahmte ihn nach. Er stellte sich auf ein Bein und zog den Hals ein.

»Weck mich, wenn Mama kommt«, sagte er.

»Soll ich dir ein paar Würmer bringen?«, fragte ich.

Aber Jadran hatte bereits mit seinem Kranichschlaf begonnen.

Auf Zehenspitzen schlich ich wieder in die Wohnung.

Die blauen Flügel

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