Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 11
ОглавлениеHinter unserem Wohnblock war eine Wiese. Dorthin wollten wir mit Tirie. Weil es mit dem Flattern immer besser ging, fand ich, es wäre jetzt an der Zeit, im Freien mit ihm zu üben. Jadran ging mit den Flügeln auf dem Rücken zum Lift und klapperte mit der Futterdose, damit Tirie uns folgte. Für jedes Stockwerk bekam der Kranich einen Wurm. Die ganze Zeit starrte er die aufleuchtenden Zahlen an.
Im dritten Stock hielt der Lift. Rasch bugsierte ich Tirie in eine Ecke und stellte mich mit Jadran wie eine Mauer vor ihn. So hatten wir es abgemacht, denn keiner durfte wissen, dass wir einen Kranich dabeihatten.
Frau Rafaelis stieg mit ihren Zwillingen an der Hand ein.
»Guten Morgen«, sagte Jadran übertrieben freundlich und versuchte unterdessen, den Vogel mit seiner weiten Hose zu verdecken. »Wie geht’s Ihnen?«
Frau Rafaelis lachte, ihre Mädchen dagegen guckten ängstlich den geflügelten Riesen an, der den halben Lift einnahm.
»Uns geht’s prima, Jadran. Und euch?«
Frau Rafaelis mochte meinen Bruder gern. Sie arbeitete in der Apotheke und schenkte ihm manchmal Zahnpastapröbchen, solche Minituben mit neuen Geschmacksrichtungen.
»Prima, danke!« Jadran grinste breit, damit sie sehen konnte, dass die Zahnpasta etwas nützte.
Tirie rieb sich an meiner Jeans. Ich kam fast um vor Nervosität.
»Ihr habt jetzt bestimmt viel zu tun nach dem Einzug von Murad. Scheint ein netter Mensch zu sein. Und eine hübsche Tochter hat er auch. Ist sie nicht ungefähr so alt wie du, Josh?«
Ping!, machte der Lift.
Die Mädchen drängelten, weil jede als Erste rauswollte.
»Die Flügel stehen dir prächtig«, sagte Frau Rafaelis noch zu Jadran. Sie tat, als hätte sie Tirie nicht gesehen.
Wir warteten, bis sie weg waren. Dann folgte Tirie Jadran wie ein Hündchen in den Eingangsflur. Er rutschte auf den glatten Fliesen aus, rappelte sich wieder auf und hüpfte dann mit uns ins Freie.
»Brav, Tirie. Komm, komm!«
Ich ging voraus, um nachzusehen, ob auch niemand auf der Wiese war.
»Die Luft ist rein!«, rief ich um die Hausecke.
Jadran ging jetzt nicht mehr krumm, sondern stolzierte mit erhobenem Kinn über den Betonstreifen, der um den Block herumlief. Ich kam mir noch kleiner vor als sonst.
Jadran gab mir die Futterdose und stieg auf eine Holzbank.
»Kru kru kru!«, tönte er und breitete die Flügel aus.
Tirie pickte an einem Klecks Mayonnaise neben dem Abfalleimer herum.
»Weg da! Davon wirst du krank!« Ich versuchte, den Vogel zur Bank hin zu scheuchen, aber das klappte nicht, weil er als Nächstes eine feuchte Brotrinde erspähte.
Jadran ließ sich nicht verdrießen. »Schau zu, wie ich’s mache!«, rief er, sprang von der Bank und rannte mit ausgebreiteten Flügeln über das Gras.
Tirie floh, so schnell er konnte, in die Gegenrichtung.
Jadran nahm im Sturzflug die Verfolgung auf.
»Halt!«, schrie ich.
Aber dieses Wort verstand der Kranichpapa nicht. Mit seinen langen Stelzen sauste er zum Fahrradschuppen und trieb dort sein Junges in eine Ecke.
»Los! Du kannst das! Du kannst das!«, rief er. Genau so wie seine Betreuer im Freiraum.
Tirie zitterte wie Espenlaub. Gleich haut er ab, dachte ich, und in der Stadt ist er verloren. Also musste ich etwas tun.
Ich stellte mich hinter Jadran und versuchte, seine Arme nach unten zu ziehen.
Er spannte die Muskeln an.
»So machst du ihm nur Angst«, sagte ich.
»Er muss fliegen! Seiner Familie nachfliegen!«
»Schon, aber du bist zu schnell.« Ich presste mich an seinen Rücken und strich ihm so lange über die Schultern, bis er zu flattern aufhörte. »Das ist genau wie beim Atmen, Riese«, sagte ich. »Du musst es in seinem Tempo machen.«
Mit der Futterdose lockten wir Tirie vom Fahrradschuppen weg. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir ihn so weit hatten, dass er auf die Bank sprang. Und als er erst einmal oben war, wollte er nicht mehr herunter.
Jadran schlug unaufhörlich mit den Flügeln. Manchmal bewegte er sich tänzelnd, dann wieder schoss er wie ein Düsenjäger über die Wiese. Aber Tirie hatte keine Lust. Sogar als er von der Banklehne purzelte, hielt er die Flügel an den Leib gedrückt.
»Das ist nicht hoch genug«, entschied Jadran.
Aber auch vom Müllcontainer aus klappte es nicht. Jadran hob Tirie hinauf, aber der rutschte auf dem glatten Deckel aus und wäre um ein Haar kopfüber heruntergefallen. Danach wollte Jadran auf das Dach des Fahrradschuppens klettern. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten.
Sein Blick wanderte zur Seitenfront unseres Wohnblocks. Dann trieb er Tirie unter heftigem Geflatter dorthin.
Mir war klar, was er vorhatte. Aber das ging auf keinen Fall. Es war streng verboten, die Feuerleiter zu benutzen. Sie war nur für Notfälle gedacht.
»Da!« Jadran wies mit einem Flügel auf die Metallplattform auf halber Höhe des Hauses, zwischen dem dritten und dem vierten Stock.
Ich schüttelte den Kopf. »Kraniche steigen immer vom Boden auf.«
Jadran schlug so wild mit den Flügeln, dass ihm Schweiß über die Schläfen rann. Staub wölkte auf. Er machte Sprünge, so hoch er es mit seinen dicken Waden schaffte.
Tirie hüpfte hierhin und dorthin, flog aber nicht.
Jadrans Mund wurde schmal. »Vom Boden aus klappt’s nicht!«
»Du musst ein bisschen mehr Geduld haben, Riese«, sagte ich. »Komm, wir gehen jetzt rein. Und morgen probieren wir es wieder.«
Jadran glaubte nicht an morgen. Für ihn war alles jetzt. Er zog eine Grimasse und steuerte auf die Feuerleiter zu. Ich rannte ihm nach und zerrte an seiner Hand.
»Lass das! Mama wird sonst böse!« Und damit meinte ich nicht nur böse auf ihn. Sondern vor allem auf mich. Wenn ich es nicht schaffte, Jadran von seinem Plan abzubringen, war ich ein lausiger Schutzengel.
Aber ihn kümmerte es nicht, ob Mama böse würde. Er schubste mich einfach weg.
Also musste ich mir etwas einfallen lassen. Doch was auch immer es war, es würde falsch sein.