Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 6

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Es war der erste Tag der Herbstferien, und wir wollten nur noch schöne Dinge zusammen unternehmen. Wie zum Beispiel Kraniche beobachten.

Mein Bruder Jadran und ich liefen um die Wette den Waldweg zum See entlang. Er rannte in seinen Gummistiefeln vor mir her. Ich ließ ihn gewinnen. Alle ließen Jadran gewinnen. Auch wenn er stark war wie ein junger Wolf, sein großer, schwerfälliger Körper war langsam.

Und er konnte es nicht ertragen zu verlieren.

»Pass auf, Riese! Ich hol dich ein!«, rief ich, um ihn aufzustacheln.

Und Jadran ließ sich gern aufstacheln. Er rannte schwankend über die Steine bis zum sumpfigen Ufer. Wie meist hing sein Kopf leicht nach vorn, und sein Rücken war gekrümmt.

»Ich will sie als Erster sehen, Josh!«, keuchte er. »Ich seh immer alles als Erster, oder?«

Hinter dem Schilf erklangen trompetenartige Laute.

Krrru krrru krrru!

Jadran drehte sich um und winkte Mama und Murad zu, die Arm in Arm angeschlendert kamen. Yasmin trottete hinter ihnen her und gab sich alle Mühe, keine Kraniche zu sehen. Sie hatte ihren Schal weit hochgezogen, bis knapp unter die Brille.

»Ich hör sie schon!«, rief Jadran. »Das zählt auch, Mama, oder?«

Mama und Murad hoben gleichzeitig den Daumen. Und darüber mussten sie beide lachen, auch wieder gleichzeitig.

Murad und seine Tochter waren erst vorige Woche bei uns eingezogen. Das war nicht reibungslos abgelaufen. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Jadran überhaupt mit Murad sprechen wollte. Am Abend vor dem Umzug hatte er die Wohnungstür mit einem Schrank verbarrikadiert. Was die Situation schließlich rettete, war das Versprechen, dass er künftig bei mir im Zimmer schlafen durfte – wir beide auf zwei Matratzen dicht nebeneinander.

Jadran folgte den Rufen der Kraniche, mit seinem staksigen Gang, das Kinn vorgeschoben und die großen Hände neben dem Körper baumelnd.

»Josh, pass bitte auf, dass er nicht zu weit geht!«, rief Mama gegen den Wind an. »Er darf nicht bis in den Sumpf!«

Ich sprintete hinter Jadran her. Er war sechzehn und konnte mich an einem Arm in die Luft heben. Aber obwohl fast fünf Jahre älter als ich, war er für Mama mein kleiner Bruder.

Jadran ahmte die Laute der Kraniche nach, während er auf das Schilf zustapfte. Bei jedem Schritt versanken seine Füße tiefer im weichen Untergrund.

Krrru krrru krrru.

Zwischen den Schilfrispen hindurch sahen wir die großen Vögel nach Futter picken. Es waren Dutzende, mit langen Beinen und buschigen Schwanzfedern. Am Kopf hatten sie rote Flecken, und ihre schwarz-weißen Hälse ruckten hin und her.

»Da sind sie!«, schrie Jadran viel zu laut. Er warf die Arme in die Luft und machte einen Satz in Richtung der Vögel. Kaltes Wasser spritzte in die Höhe. Jadran stand jetzt bis zu den Waden im Morast.

»Sei still, Riese«, flüsterte ich noch, aber es war schon zu spät. Sie hatten uns bemerkt.

Der Kranichalarm ging los.

Kaa kru-ie! Kaa kru-ie!

Hoch aufgerichtet und mit vorgereckten Köpfen standen die Vögel wie versteinert da. Nur ihre Schnäbel bewegten sich noch beim Ausstoßen der schaurigen Rufe.

»Du hast sie erschreckt!«, zischte ich.

»Ich mach doch nichts, oder?« Jadran bahnte sich weiter einen Weg durch das Schilf. »Keine Angst, Freunde. Ich komm jetzt.«

»Bleib stehen, Jadran!«, rief Mama vom Ufer aus.

Das bedeutete so viel wie: Halt ihn auf, Josh!

Ich zog meine Jackenärmel über die Hände, um mich nicht an den scharfen Blatträndern zu schneiden. Mein Bruder schlug wild mit den Armen und trat die Schilfstängel platt. Die Kraniche spreizten die Flügel und riefen immer lauter.

Kaa kru-ie! Kaa kru-ie!

»Nun warte doch, Riese!«, rief ich.

Jadran legte die Hände wie einen Trichter an den Mund. »Ich tu euch nichts! Ich tu keinem was!«

Und dann flogen sie auf, alle zugleich.

Es war ein Höllenlärm, ein wahres Federgewitter. Die Kraniche stießen aneinander und flatterten dann knapp über den Tannen möglichst schnell davon.

Erschrocken wich Jadran zurück und versank knietief in einem Schlammloch.

»Ganz ruhig«, beschwichtigte ich. »Tief einatmen.«

Mama und Murad eilten den befestigten Weg entlang auf uns zu. Yasmin hatte ihr Telefon hervorgeholt und filmte alles, einfach zum Spaß.

»Sie sollen hierbleiben!«, rief Jadran.

»Ist nicht schlimm«, sagte ich. »Sie kommen bald wieder.«

Jadran schlug mit den flachen Händen aufs Wasser. »Sie fliegen ganz fort, oder? Im Winter wohnen sie in Spanien, das hast du selber gesagt!« Die Entengrütze schwappte bis an seinen Po.

Inzwischen hatten die Kraniche gedreht und flogen in zwei Reihen so niedrig über den See hinweg, dass man ihre Flügel rauschen hörte.

Ich nahm Jadran bei der Hand und zog ihn aus dem Schlammloch, ehe seine Stiefel sich ganz festsaugen konnten.

»Schau mal, sie wollen noch was zum Abschied sagen.« Ich deutete zu den Vögeln, während ich meinen Bruder zurück ans Ufer lotste. »Kraniche schreiben Buchstaben an den Himmel, hast du das gewusst?«

Jadran schüttelte den Kopf, sah sich aber dennoch nach den Vögeln um, die nun höher aufstiegen.

»W!«, rief er.

»So können sie sich miteinander verständigen, von Finnland bis zum Mittelmeer.«

Jadran nickte und deutete hierhin und dorthin. »Da – ein I! Und dort – das ist bestimmt ein R, oder?«

Ich brachte Jadran zu dem Holzsteg, wo im Sommer die Boote dicht an dicht lagen. Am Rand stand Yasmin und filmte sich selbst mit den Kranichen im Hintergrund.

»Komm, komm, komm«, versuchte Jadran sie zurückzulocken.

Krrru krrru krrru-ie!

»Sie rufen mir was zu, oder?«

Yasmin stoppte unwillig die Aufnahme. »Sei nicht blöd!«

»Jadran ist nicht blöd!«, sagte ich.

Er drückte meine Hand immer fester. »Es ist meine Schuld.«

»Schscht«, machte ich.

»Alles ist immer meine Schuld, oder?«

Sein Arm zitterte. Meine Finger knackten.

»Nicht alles, Riese.«

»Wie viel denn?«

»Höchstens die Hälfte.«

Die blauen Flügel

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