Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 8

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Ein junger Kranich passt nicht in einen Wäschekorb. Und auch nicht in den größten Umzugskarton. Mama wollte Tirie nicht im Bad oder auf dem Flur haben. Zu fünft war es in unserer Wohnung ohnehin schon eng genug.

Also musste Tirie auf den Balkon.

Wir breiteten Zeitungspapier auf dem Boden aus. Murad nahm unsere Socken vom Wäscheständer, klappte ihn zusammen und stellte ihn auf die Brüstung, wo er ihn mit einem Stück Wäscheleine festband. So bildete er eine Art Gitter, damit Tirie nicht vom siebten Stock herunterfallen konnte.

Jadran suchte nach etwas zu fressen für den Vogel, während wir uns um seine Verletzung kümmerten. Murad hob den Flügel hoch, ich schob den Flaum auseinander, und Mama besprühte die Stelle, wo der Angelhaken gesteckt hatte, mit Desinfektionslösung. Die Wunde blutete nicht mehr, und Murad meinte, sie sei nicht so schlimm, dass sie genäht werden müsste.

Jadran hatte die Kruste von einem Fischstäbchen gepult und schnitt es in kleine Stücke. Er füllte eine Plastikschüssel mit Wasser und trug alles auf den Balkon.

Wir ließen Tirie los.

Erst rannte er wie wild gegen die Brüstung an, um sich danach auf der Decke, die wir in einer Ecke bereitgelegt hatten, zusammenzukauern.

Eine ganze Weile standen wir am Fenster und beobachteten ihn. Mama und Murad viel zu eng aneinandergeschmiegt.

Jadran nahm meine Hand und drückte sie jedes Mal, wenn Tirie auch nur die kleinste Bewegung machte.

»Morgen hat er alles zugeschissen«, nörgelte Yasmin. »Und mit dem Wäscheständer vor der Nase ist es wie im Gefängnis.«

Dann verschwand sie in Jadrans Zimmer, das seit dem Umzug ihres war, und machte die Tür hinter sich zu. Sie musste dringend sein Poster mit den sieben Zwergen abhängen.

Die Straßen leerten sich. Bei den Geschäften wurden die Rollläden heruntergelassen, und langsam döste die Stadt ein. »Du musst etwas essen«, flüsterte Jadran. Er hatte die Balkontür ein Stück geöffnet und schob den Teller mit Fischhäppchen näher an den Vogel heran. »Mach schon. Ich hab für dich gekocht.«

Tirie schaute nicht einmal auf.

»Er ist böse auf mich.« Jadran trat gegen die Tür.

»Warum sollte er?«, fragte ich. »Du hast den Angelhaken doch nicht dort herumliegen lassen.«

Jadran schlug mit der Stirn an die Scheibe. »Ich hab seine Familie verjagt. Und jetzt ist er ganz allein!«

»Nicht ganz.«

Ich strich meinem Bruder über den Rücken.

Er bückte sich, nahm ein Stück Fischstäbchen und steckte es in den Mund.

Wir schliefen jetzt direkt nebeneinander. In mein Zimmer passten genau zwei Matratzen, ein Stuhl, über den wir unsere Kleider legen konnten, ein schmales Regal für meine Schulbücher und ein Schrank. Wenn Jadran im Schlaf mit dem Arm schlug, traf er mich ins Gesicht. Und er gab seltsame Geräusche von sich, eine Art Keuchen und Knurren. Wahrscheinlich träumte er lebhaft.

Trotzdem fand ich es schön, dass er bei mir war. Wenn ich allein schlief, bekam ich manchmal Albträume. Dann träumte mir, ich würde morgens aufstehen und alle Menschen wären von der Erde verschwunden.

»Du bist Jadrans Schutzengel«, hatte Mama zu mir gesagt, da war ich gerade acht. Ich machte damals meine erste Buchbesprechung für die Schule, und Jadran quälte sich noch mit seinen ungelenken Blockbuchstaben herum. »Wenn dein Bruder mal nicht zurechtkommt, musst du ihm helfen.«

»Jadran ist ein Riese«, sagte ich. »Wie kann ich ihm helfen?«

»Du bist auch ein Riese, Josh. Ein kleiner Riese, und zwar innerlich.«

»Jadran ist der Stärkste in der ganzen Gegend, er schlägt jeden beim Armdrücken, und ich …«

Da lächelte Mama nur und meinte, ich solle gut auf ihn aufpassen.

Ich rutschte noch näher zu Jadran und legte meinen Kopf auf seinen Bauch. Er sagte nichts, aber ich wusste, dass er wach war.

Wir machten eine Atembrücke. Wie jeden Abend, weil Jadran sonst nicht schlafen konnte. Erst gab ich das Tempo vor. Ich atmete tief ein, und er machte es nach.

Ein und aus. Brust und Bauch.

Pffff.

Sein Atem strich über mein Kinn.

Eigentlich war das Atemspiel Mamas Idee. Sie und Jadran hatten es schon gemacht, als ich noch ein Baby war. Ich lag zwischen ihnen im großen Bett. Sie versuchten, genauso schnell oder schmatzend oder seufzend zu atmen wie ich.

Zusammen atmen schafft eine Verbindung, sagte Mama, eine Verbindung, die weit über den einen Moment hinausgeht.

»Jetzt du, Riese.«

Jadran atmete stoßweise und zittrig. Und ich zitterte mit. Er ließ die Luft zwischen seinen Lippen brausen. Und ich brauste genauso laut. Aber schon bald wurde er viel zu schnell.

»So verlierst du mich noch«, flüsterte ich, »und dann ist die ganze Brücke kaputt.«

Jadran gab sich größte Mühe, wieder in einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.

»Ein«, keuchte er. »Ein-ein-ein!«

Ich saugte so viel Luft in meine Lunge, dass sie fast platzte. Und dann klappte es endlich wieder. Mein Kopf wippte auf Jadrans Bauch auf und ab.

Fort war das kleine Zimmer, fort der Wohnblock und das nächtliche Gemurmel der Stadt. Es gab nur noch meinen Bruder und mich in dem herrlich großen Bett.

Die blauen Flügel

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