Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 14

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Das Bett, die zwei Stühle und der Schrank – alles war weiß. Die Vorhänge waren grün, aber auch der Himmel sah wie ein blütenweißes Laken aus.

»Willst du Wasser?«, fragte Mama.

Aber ich hatte keinen Durst. Ich war noch zu benommen von der Narkose.

Mama hatte mir in groben Zügen erzählt, was passiert war. Ich war aus zehn Metern Höhe in die Tiefe gestürzt und lag wie tot im Gras. Yasmin war weinend losgerannt, um Hilfe zu holen. Währenddessen war Jadran ausgerastet. Schließlich hatten sie ihn durch ein Fenster im dritten Stock hereingezerrt.

»Ich hab ihn ermordet!«, brüllte er, als der Krankenwagen mit Blaulicht angerast kam. »Ich hab meinen Bruder ermordet!«

Es brauchte vier Sanitäter, um mich auf die Trage zu heben und gleichzeitig Jadran zu bändigen. Zum Glück hatten sie Beruhigungstabletten dabei, denn allein mit Worten wäre nichts zu machen gewesen. Von den Tabletten wurde Jadrans Zunge dick, und er bekam einen Zombieblick.

Ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Stundenlang war mein Bein operiert worden, und danach hatte ich fast rund um die Uhr geschlafen.

»Ist Tirie geflogen?« Meine Stimme klang heiser und wie von weit her, als gehörte sie jemand anderem.

Mama seufzte, und es war, als zöge damit eine dunkle Wolke ins Zimmer. »Dreimal um die Wiese, hat Yasmin gesagt.«

Frau Doktor Mbasa stand in der Tür. Sie war groß und hatte sehnige Arme. Ihre dunklen Locken schauten unter der Kappe hervor.

»Du hast viel Glück gehabt, Josh.« Sie lächelte, wie nur Ärzte es können, mit einem liebevollen Zug um den Mund und ansonsten unbewegter Miene. »Deine Wirbelsäule hat keinen Schaden genommen. Und die Beine sind auch noch dran.«

Meine Beine.

Ich schob meine Hand unter die Bettdecke und fühlte ein dünnes Krankenhaushemd und jede Menge Verband und Pflaster. Mein rechtes Bein war von der Leiste bis unter die Wade eingegipst. Und um den linken Fußknöchel hatte ich eine dicke Bandage.

»Drei Brüche und ein Wunder«, sagte Mama leise.

»Morgen bekommst du einen Rollstuhl«, sagte Frau Doktor Mbasa. »Und dann wird geübt. Glaub mir, ich mache einen Rollstuhlchampion aus dir.«

Meine Haut unter dem Gips zog sich zusammen. Mama sagte, die Operationswunde sei mit zwölf Stichen genäht worden.

»Wann kann ich wieder laufen?«, fragte ich.

»Da musst du noch ein bisschen Geduld haben«, meinte Frau Doktor Mbasa. »Aber wenn der Winter vorbei ist, rennst du wieder in die Schule.«

»Das sind ja ein paar Monate!«

Mama fand es auch zu lang, das sah ich ihr an, aber sie sagte nichts. Stattdessen stand sie auf und stopfte mir ein Kissen in den Rücken.

Um sechs kamen Murad und Yasmin, um Mama abzulösen.

Jadran saß draußen im Auto, er hatte nicht aussteigen wollen.

»Hallo«, sagte Murad.

Und »Hallo« sagte auch Yasmin.

Ich grüßte nicht zurück.

Yasmin hängte ihren Wollschal über die Heizung. Bald roch das ganze Zimmer nach nassem Schaf.

»Ich habe was Feines mitgebracht.« Murad zauberte ein Karamellbonbon nach dem anderen hervor.

Mama ging Kaffee holen. Als sie wiederkam, gab sie Murad den Plastikbecher. Dann rückte sie einen Stuhl ans Kopfende meines Betts und klopfte auf die Sitzfläche, um ihm deutlich zu machen, dass er dort sitzen sollte. »Ich schaue inzwischen nach Jadran«, sagte sie. »Später rufe ich dich noch mal an, kleiner Riese.« Sie gab mir einen Kuss, der so laut schmatzte, als wäre es ein Abschied für Jahre.

Yasmin fummelte an ihrer Jacke herum. Sie starrte den Gipshügel unter der Decke an. Ihr Pony war nachgeschnitten. Zwischen den schwarzen Fransen und ihren Augenbrauen war fast ein Zentimeter frei.

»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Heute Nacht habe ich von dir geträumt«, fuhr Yasmin fort. »Du hast die Flügel angehabt und bist wie eine Rakete losgeschossen.«

Wir tranken lauwarmes Krankenhauswasser und lutschten Murads Karamellbonbons. Yasmin spitzte ein wenig die Lippen. Ich ertappte mich dabei, dass mir das ziemlich gut gefiel.

»Die Flügel habe ich in euer Zimmer gelegt«, sagte Yasmin.

»Deine Mutter wollte sie wegwerfen, aber ich dachte …«

Das Karamellbonbon klebte an meinen Zähnen fest. Darum lächelte ich mit geschlossenem Mund.

Murad rückte noch ein wenig näher an mein Bett. Auf dem Flur ratterte es, wahrscheinlich eine Schwester mit einer Karre.

»Bist du sehr böse auf Jadran?«, fragte Murad.

»Er ist mein Bruder.«

»Ich an deiner Stelle würde rasen vor Wut. Aber du nimmst das Ganze ziemlich gelassen.«

Gelassen fühlte ich mich ganz und gar nicht. Gerädert, das traf es besser. Ich schob die Hand unter das Krankenhaushemd. Mein Bauch war hart und kalt, als wäre der Gips bis zum Nabel hochgewandert.

»Jadran hat geglaubt, dass ich fliegen kann«, sagte ich.

Murad zog die Augenbrauen hoch. Ich sah ein paar graue Haare darin.

»Du hast es, glaube ich, nicht leicht mit Jadran. Er ist manchmal so fürchterlich …«

»Fröhlich!«, ergänzte ich rasch. Ich konnte es nicht leiden, wenn andere über Jadran redeten, als wäre er ein Problem, für das man sich eine Lösung ausdenken musste.

»Stimmt, fröhlich ist er oft.« Murad lachte. »Aber wenn das mal nicht so ist, kannst du mich jederzeit …«

Ich fühlte mich wie eine Gipsmumie. Murad trank einen Schluck aus meinem Becher und legte dann eine Hand aufs Bett, dicht neben meine.

»Hast du gewusst, dass Kraniche voll eklig rülpsen?«, fragte ich.

Die blauen Flügel

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