Читать книгу Die blauen Flügel - Jef Aerts, Laura Watkinson - Страница 12

Оглавление

Ich befand mich zwischen Jadran und der Feuerleiter und hatte das Gefühl, die Grashalme wie Nägel unter meinen Schuhsohlen zu spüren. Jadran fuchtelte drohend mit seinen Riesenhänden. Aber ich gab nicht nach.

»Lass mich das machen«, sagte ich. »Ich bin nicht so schwer wie du und …«

»Ich bin nicht zu schwer!« Jadran hob die Nase wie einen Schnabel in die Luft und zog den Bauch so weit ein, dass die Rippen vorstanden.

»Gib mir die Flügel.«

Jadran fixierte mich aus dem Augenwinkel. »Nimmst du Tirie dann mit?« Er ließ die Hände sinken.

Ich nickte und löste die Riemen um seine Handgelenke. Er schlüpfte aus den Lederschlaufen und rannte los, um den Kranich zu holen. Mamas Flügel waren viel zu groß für mich. Die Schwungfedern reichten mir bis zu den Knien.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich verabredete mit Jadran, dass er unten warten sollte, und begann mit dem Aufstieg. Mit einer Hand umfasste ich das kalte Metall der Leiter, mit der anderen drückte ich Tirie an mich. Sein langer Hals war im Weg, und er trat immer wieder tückisch nach mir, aber ich ließ ihn nicht los.

Sprosse um Sprosse suchte ich mit den Füßen Halt. Der Wind fuhr unter Mamas Flügel und blies mir die Federn ins Gesicht.

Nicht runterschauen, dachte ich, bald ist es vorbei.

Von unten wirken zehn Meter nicht sonderlich hoch, aber als ich die Plattform erreichte, hatte ich wacklige Knie, und mir wurde schwindlig. Ich stellte Tirie ab und hielt mich am Geländer fest.

»Riese!«, schrie ich nach unten. »Ich bin da!«

Aber es kam keine Antwort, und auf der Wiese war niemand zu sehen. Ein Motorrad röhrte vorbei.

Erst dann merkte ich, dass die Leiter vibrierte. Und ich hörte keuchende Atemzüge.

»Puuuh!« Jadrans Gesicht tauchte am Rand der Plattform auf. Es war rot angelaufen und schwitzig. »Ganz schön hoch, oder?«

Ich trat ein paar Schritte zurück und wollte schreien, dass er sich nicht an unsere Abmachung gehalten hatte, und ihn sofort wieder hinunterschicken. Aber ich traute mich nicht. Denn jedes Wort konnte verkehrt sein, konnte seine Lunte entzünden.

Ich dachte an das, was ich bei Mama schon oft gesehen hatte: drei Sekunden die Augen zumachen, tief Luft holen und dann möglichst ruhig mit ihm reden.

»Halt dich mit beiden Händen fest, Riese.«

Tirie hatte keine Höhenangst. Seine spitzen Krallen klackerten auf dem Metallboden.

»Du musst die Flügel bewegen«, sagte Jadran, »damit Tirie sieht, wie es geht.«

»Das ist hier zu gefährlich«, wandte ich ein.

»Dann mach ich’s eben.« Jadran packte meinen Arm und wollte mir die Flügel abnehmen.

»Lass das!« Ich riss mich los und trat an den Rand der Plattform. Dann streckte ich die Arme seitlich aus.

Jadran dirigierte Tirie zu mir hin und redete dabei auf ihn ein: »Schau zu, mein Vögelchen. So geht Fliegen. Flügel spreizen und dann springen. Verstehst du?« Und zu mir sagte er: »Auf und ab, Josh. Immer auf und ab.«

Es war schaurig tief, und ich hatte Mühe, die riesigen Flügel ausgebreitet zu halten.

»So, jetzt ist es genug«, flüsterte ich. »Tirie hat’s kapiert.«

»Hat er nicht!«

»Vielleicht ist er noch nicht so weit …«

Zornig stampfte Jadran auf. »Mach endlich, Josh! Los!«

Im nächsten Moment erklangen von unten laute Rufe. Ich sah Yasmin über die Wiese rennen, anscheinend suchte sie uns. Sie sah hinter dem Fahrradschuppen nach, und als sie den Metallboden unter Jadrans Füßen dröhnen hörte, schaute sie hoch. Einen Augenblick lang mit offenem Mund.

»Was treibt ihr da?«, rief sie dann.

Ich legte die Flügel an und trat ein Stück zurück.

»Tirie lernt fliegen!«, brüllte Jadran. »Schau!«

Neben mir stand Tirie und hatte beide Flügel gehoben, auch den verletzten. Endlich ahmte er mich nach.

»Siehst du!« Jadrans tiefe Stimme hallte zwischen den Hochhäusern. »Ich hab’s doch gesagt. Ich sag immer alles, oder?« Nun breitete Tirie die Flügel weit aus, was er noch nie zuvor getan hatte. Sein Körper schwankte im Wind, es sah aus, als würde er gleich emporgehoben.

Yasmin winkte mit beiden Armen. »Eure Mutter ist nach Hause gekommen. Was, wenn sie euch so sieht?!«

»Komm, Jadran«, murmelte ich. »Gleich gibt’s Essen.« Damit konnte Mama ihn sogar aus der Badewanne locken.

Pwie ie ie! Flügelschlagend hüpfte Tirie auf der Plattform herum. Pwie ie!

»Er fliegt fast«, zischte Jadran. »Wir dürfen jetzt nicht aufhören.«

Wieder schloss ich die Augen und zählte bis drei. Dann ging ich auf Tirie zu. Jadran durfte auf keinen Fall explodieren. Nicht hier, zehn Meter über dem Boden.

Ich schluckte. »Gut. Ein Mal noch. Und dann gehen wir runter, abgemacht?«

Zwei Paar Flügel öffneten sich und begannen zu schlagen.

»Stärker!«, schrie Jadran. »Schneller, Kleiner!«

Er stand jetzt dicht hinter mir und Tirie. Ich hörte ihn keuchen. Ein letztes Mal schwenkte ich die blauen Flügel.

»Nicht!«, schrie Yasmin.

»Los! Du kannst das!«, rief Jadran triumphierend. »Wenn man es ganz fest will, kann man alles!«

Und dann versetzte er mir einen solchen Stoß, dass ich von der Plattform in die Tiefe stürzte.

Die blauen Flügel

Подняться наверх