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1.1.2. Äussere und innere Grössen des Niederländischen

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Die Beschreibung einer diachronischen Entfaltung des Niederländischen ist in zwei Hinsichten auf verandering im Sinne von ‚Wandel‘ zu gründen: einerseits wandelt sich Sprache kontinuierlich, andererseits vollzieht sich Sprachwandel in einer Gesellschaft, die sich ebenfalls dauernd wandelt. Folglich ist bei der Entwicklung des Niederländischen sowohl mit sprachinternen Erneuerungen als auch mit äusseren sich ändernden Bedingungen zu rechnen. Sodann sind für die Erörterung eines sprachhistorischen Bildes des Niederländischen neben beliebigen, inkonstanten Gegebenheiten auch konstante Entwicklungstendenzen zu berücksichtigen, wie namentlich St. Sonderegger dies für die Geschichte des Deutschen systematisch dargelegt hat. Sie werden hier weiter als feste und variable äussere beziehungsweise feste und variable innere Grössen des Niederländischen bezeichnet.

Bei den konstanten, festen äusseren Grössen des Niederländischen ist zuerst das Vorhandensein einer Gruppe Menschen zu nennen, die gemeinsam Niederländisch als Muttersprache anwenden. Sodann gehört das Bewusstsein dieser Menschen, Niederländisch als Muttersprache zu gebrauchen, ebenfalls zu den konstanten äusseren Grössen, ebenso die Selbstbezeichnung der eigenen Sprache, weiter die überregionale Geltung des Niederländischen wie auch die zunehmende Möglichkeit der Mitglieder der niederländischen Sprachgemeinschaft, im Niederländischen zu kommunizieren. Damit ist die Geschichte des kommunikativen Handelns in niederländischer Sprache angesprochen, die stets in den ersten Abschnitten der jeweiligen Kapitel zur Sprache kommt. Es handelt sich dabei zum Beispiel um die zeitliche und räumliche Bestimmung der sich etablierenden niederländischen Sprachgemeinschaft. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ab wann von einer niederländischen Schreibtradition die Rede sein kann (vgl. 3.2.1.), die sich von benachbarten Schreibtraditionen abhebt. Ebenso fragt sich, wann im hohen und späten Mittelalter im Gebiet zwischen Maas und Niederrhein, in den Grafschaften Flandern und Holland, auf den Inseln Seelands, in den Herzogtümern Brabant und Geldern und im Bistum Utrecht eine Sprachgemeinschaft vorauszusetzen ist, deren Mitglieder sich nicht nur lokaler Sprachvarietäten, sondern auch einer mittelniederländischen überregionalen Verkehrsund Kultursprache bedienten (vgl. 4.2.). Weiter gehört dazu das Bewusstsein, einer Gemeinschaft mit eigener Sprache anzugehören: ab wann war man sich dessen bewusst, eine gemeinsame Sprache zu benützen, die von der Sprache benachbarter Sprachgemeinschaften abwich, wie sind damalige Bezeichnungen der Muttersprache wie Dietsch oder Duutsch zu verstehen (vgl. 4.2.2.)? Zu den äusseren Grössen zählt zudem die überregionale Geltung des Niederländischen, die zum Beispiel 1477 zum Ausdruck kam, als Maria von Burgund verordnete, Niederländisch als Amtssprache in niederländischsprachigen Provinzen einzuführen (vgl. 4.1.2.).

Zu den variablen äusseren Grössen der Geschichte des Niederländischen ist u.a. die Entwicklung des Schreibsystems zu rechnen. Da das lateinische Schriftsystem nur unvollkommen niederländische Laute wiedergeben kann, weisen die überlieferten Texte lokale und individuelle Merkmale auf. Die Kultivierung der Muttersprache, die im 16. Jh. einsetzte, führte allmählich zu einheitlichen Regelungen der Rechtschreibung, die mehr oder weniger zufällig zustande kamen (vgl. 5.2.2.1.). Auch die Textüberlieferung gehört zu den zufälligen äusseren Grössen der Geschichte des Niederländischen: so kennt die mittelniederländische Sprachkultur Ritterepik, in der mittleren Neuzeit umfasst die Epik u.a. Romane in Briefform; in der frühen Neuzeit entstehen Blätter mit kurzen Nachrichten, im 18. Jh. veröffentlichen Journalisten umfangreiche Essays in Moralischen Wochenschriften (vgl. 6.1.3.1.). Die Veränderlichkeit der Funktionen des Niederländischen hängt wohl mit der uneinheitlichen Textsortenüberlieferung zusammen. So dienten die Wachtendonckse Psalmen wahrscheinlich als Unterstützung beim Lesen eines lateinischen Textes, auch wurden sie vermutlich beim Lateinunterricht benutzt (vgl. 3.2.3.). Mittelniederländische Texte wie die abele spelen (‚weltliche Theaterstücke‘) dienten der Unterhaltung, mehrere Werke Van Maerlants erfüllen didaktische Aufgaben (vgl. 4.2.4.).

Brüche in den historisch-systematischen Erneuerungen des Niederländischen werden hier als variable innere Grössen zusammengefasst. Sie gelten als nicht vorhersagbare sprachliche Änderungen, die Teilsysteme wie Akzent-, Laut- und Formensystem durchdringen. So entwickelte sich das Objekt 3. Pers. Plur. hun Anfang des 20. Jh. in einzelnen Sprachvarietäten zu einem Subjekt Plur. wie in hun heb gezegd (,sie haben gesagt‘). Diese Verwendung von hun, die als Verstoss gegen allgemein akzeptierte Grammatikregeln gilt, sich aber rasch verbreitete, erfolgte nicht aus einer sprachhistorisch erklärbaren Entwicklung des Sprachsystems, sondern ist als zufällige Erneuerung einzustufen. Auch die offene Artikulation der Diphthonge ei, ui,und ou durch zumeist gebildete Sprecher, die gegen Ende des 20. Jh. im Westen der Niederlande entstand, ist als zufällige Entwicklung in der Aussprache des Standardniederländischen zu bewerten. Solche Aussprachevarianten, die gemeinhin mit dem Ausdruck poldernederlands (‚Polderniederländisch‘) zusammengefasst werden, hatten bereits Grammatiker wie Christiaen van Heule und Jacob van der Schuere beschrieben, sie konnten sich früher aber nicht durchsetzen (vgl. 5.4.1.3.).

Dagegen zählen systematische Entwicklungen der Laute, der Morphematik, der Wortbildung und der Syntax zu den festen inneren Grössen der Geschichte des Niederländischen. Es sind dies gesetzmässig erfolgte sprachinterne Erneuerungen. Zu den zahlreichen Beispielen solcher systematischen Änderungen zählen die Umschreibungen ursprünglich synthetischer Strukturen. So treten im Anl. neben synthetischen Strukturen wie mistrot bin in mistrot bin fan stimmon fiundes (‚missmutig bin ich von der Stimme des Feindes‘ WPS 54, 3) auch umschriebene Strukturen auf, so ic riep (,ich rief‘) in ic eft te gode riep (‚ich jedoch rief zu Gott‘ WPS 54, 17; vgl. 3.4.2.5.). Die Verlagerung des Wortakzentes auf die Stammsilbe führt auch im Niederländischen tendenziell zu vokalischen und konsonantischen Verkürzungen, zur Abschwächung und zur Ausstossung von Nebensilben sowie zu Reduktionen der Flexion. Solche systeminhärente Erneuerungen, die sich in den einander folgenden Sprachstufen des Niederländischen verfolgen lassen, gehören ebenfalls zu den festen inneren Grössen.

Zwischen äusseren und inneren Grössen bestehen kausale Zusammenhänge. So sind archaische Merkmale der niederländischen Schriftsprache des 18. Jh. auf die Rezeption von Texten der bewunderten Schriftsteller des 17. Jh. und der Texte der Statenvertaling zurückzuführen (vgl. 6.4.3.). Sie können dagegen nicht als logisch bezeichnet werden: dass der archaische Charakter des Niederländischen im 19. Jh. von führenden Philologen geschätzt und beschützt wurde, um im 20. Jh. von Linguisten, Pädagogen und Schriftstellern kritisiert und zerstört zu werden, sind beispielsweise zufällige, zeitgebundene Entwicklungen.

In den folgenden Kapiteln wird der geschichtliche, sozio-ökonomische und kulturelle Wandel der niederländischen Sprachgemeinschaft zuerst skizzenhaft als äussere Grösse der jeweiligen Sprachstufe des Niederländischen dargestellt. Textbeispiele dienen dazu, einen Eindruck des Sprachmaterials der entsprechenden Epoche zu vermitteln. Die Kapitel schliessen jeweils mit einem Überblick variabler beziehungsweise systeminhärenter interner Sprachentwicklungen ab. Das Zusammenspiel äusserer und innerer, variabler und fester Grössen hat Entstehung und Herausbildung des Niederländischen von heute bestimmt und bildet daher die Grundlage der vorliegenden Darstellung der Geschichte des Niederländischen und der niederländischen Sprachkultur.

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