Читать книгу Handbuch Niederländisch - Jelle Stegeman - Страница 24
2.2.2. Folgen der Auseinanderentwicklungen des Germanischen im Delta
ОглавлениеDie Ausdifferenzierung des Gotischen aus dem Frühgermanischen erfolgte bereits vor dem 4. Jh. n.Chr., Bibeltexte, die der westgotische Bischof Wulfila (311?–382?) um 369 aus dem Griechischen ins Gotische übersetzte, zeugen davon. Übrigens haben schon früh auch Gelehrte aus den Niederlanden zur Vermittlung dieser gotischen Quelle beigetragen. So befassten sich Humanisten wie Georg Cassander und Cornelius Wouters bereits um 1550 mit Wulfilas Texten, die sich dazumal in einer Handschrift im Benediktinerkloster Werden an der Ruhr befanden. Goropius Becanus (für die in diesem Abschnitt genannten Gelehrten siehe 5.1. und 5.2.), der ebenfalls Einblick in die Handschrift erhielt, erwähnte 1569 als erster Gelehrter diese Quelle in seinen Origines Antwerpianae. Zudem reproduzierte er Fragmente aus der Handschrift mit Hilfe von Holzschnitten und transkribierte sie in römische Buchstaben. Auch Bonaventura Vulcanius veröffentlichte 1597 in seinem De literis et lingua Getarum sive Gothorum (‚Über die Literatur und Sprache der Geten oder Gothen‘) Teile der Texte mit lateinischen Transkriptionen. Er gab der aus dem 6. Jh. stammenden Handschrift nach der silbrigen Farbe der verwendeten Tinte den Namen Codex Argenteus (‚Silberne Handschrift‘) und brachte sie mit Bischof Wulfila in Verbindung. Sodann gab 1602 Janus Gruter Fragmente der gotischen Texte in Druck. Francis Junius der Jüngere, oder François du Jon, besorgte dann 1665 die erste Ausgabe des Codex Argenteus und fügte eine Wörterliste hinzu. Zuvor war Gerardus Vossius als Bibliothekar der Königin Christiana von Schweden in den Besitz der Handschrift gekommen, musste sie dann aus Geldnot nach Schweden verkaufen. Der Codex Argenteus, der die ältesten erhaltenen grösseren Texte einer germanischen Sprache umfasst, ist für die vergleichende und historische Sprachforschung nach wie vor von entscheidender Bedeutung, da er sozusagen vollständig die älteste überlieferte germanische Sprache enthält. Dass das Gotische, das neben Altertümlichkeiten auch wesentliche Erneuerungen des Sprachsystems aufweist, eine Fülle von Daten für die Beschreibung der Geschichte germanischer Sprachen, so auch für die historische Grammatik des Niederländischen enthält, dürfte einleuchten.
Allmählich erfolgte nach der Ausdifferenzierung des Gotischen mit der Trennung des Spätgemeingermanischen in eine südliche, kontinentale, später auch britische Gruppe und eine nördliche Gruppe die Herauslösung weiterer germanischer Sprachen, wobei ihre zeitliche Einordnung ungewiss ist. Das aus dem Spätgemeingermanischen entstandene Nordgermanische, Vorläufer der skandinavischen Sprachen, kann mit dem Süd- oder Westgermanischen noch bis ins 5. Jh. n.Chr. eine gewisse Einheit gebildet haben. Überlieferte Runen (siehe auch 2.3.2.) schliessen dies jedenfalls nicht aus. Vom Südgermanischen hob sich dann im frühen Mittelalter das Nordseegermanische oder Ingwäonische ab, ein Vorgang, der möglicherweise durch den Bedarf an Verständigung an den Küsten der Nordsee nach dem angelsächsischen Einfall in England im 5. Jh. begünstigt wurde. Oder handelt es sich bei ‚Ingwäonismen‘ um Varianten, die sich am Rande des vom Fränkischen geprägten germanischen Gebietes durchsetzen konnten? Wie auch immer, sie sollten die Entstehung des Altenglischen, des Altfriesischen und des Altsächsischen prägen, Sprachen, die in der Forschung wegen ihrer gemeinsamen sogenannten nordseegermanischen Merkmale nicht selten als engerer Sprachenverband zusammengefasst werden. In den Küstengebieten der Niederlande dagegen hat der nordseegermanische Einfluss mit Ausnahme der friesischen Gebiete stark abgenommen, das Niederländische weist nur noch vereinzelte ingwäonische Merkmale auf (siehe 3.4.). Weiter entstanden aus dem Südgermanischen neben dem Elbgermanischen (Hermionisch) auch das Rhein-Weser-Germanische (Istwäonisch), das die Herausbildung des Altniederländischen (siehe 3.2.) prägen sollte. Schematisch lässt sich die sprachliche Auseinanderentwicklung vom Indogermanischen bis zur Entstehung des Nordsee-, Rhein-Weser- und Elbgermanischen wie unten darstellen:
Die Ausdifferenzierung des Altniederländischen aus dem Germanischen, die im frühen Mittelalter zu datieren ist, steht im nächsten Kapitel, insbesondere in 3.2. zur Diskussion.
Literatur zu 2.2.: Beck et al. 1998; Van Bree 1995; Caron 1972; Van Coetsem 1964; Van Coetsem et al. 1972; Daan 1966; Gorter 1983; De Grauwe 1979/82; De Grauwe 2008; Van Hal 2010; Klein 2003; Krause 1968; Kuhn 1959; Kyes 1969; Kyes 1983; Quak 1981; Quak 1983; Quak 2010; Rauch et al. 1995; Schoonheim 2008; Sonderegger 1979; Sonderegger 1985; Sonderegger 1993; Sonderegger 2003; Ulfila/Streitberg 1971; De Vries 1982.