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Kapitel 3

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Heute war Mittwoch und es war wieder soweit. Nach einigen ausbleibenden Wochen hatte ich mich erbarmt und wollte Ma mal wieder besuchen. Es glich schon einem schlechten Gewissen, wenn ich früher nicht regelmäßig zu Besuch war. Aber mit der Zeit wurden auch meine Briefe seltener beantwortet und das Band zwischen uns wurde immer dünner.

Jede Woche, Mittwochnachmittags für ganze zwei Stunden, durfte ich meine Mutter besuchen. Selten auch an ausgewählten Wochenenden. Bei guter Führung kamen die Wochenenden noch mit dazu, aber nur unter Begleitung und an ausgewählten Plätzen. Wir trafen uns meist draußen bei schönem Wetter oder auch in der Klinik selbst. Dort gab es mehrere Räume zum Aufenthalt und auch gemeinsames Essen. Es war netter eingerichtet, als es das äußere Erscheinungsbild der Klinik versprach - recht verspielt, aber dennoch sehr modern. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei um eine Psychiatrie handelte. Die Möblierung der Inneneinrichtung war zwar weiß, aber immer wieder tauchten Farbklekse auf. Meist in grün, rot oder orange. Das nahm dem Ganzen das Sterile und brachte ein paar frohe Gedanken mit hinzu. Es gab auch eine Wand, an der die selbst gemalten Bilder der Patienten hingen. Diese erneuerte das Personal alle 2 Wochen und man konnte die Bilder kaufen. Die Bilder der meisten Insassen waren allerdings einfarbig oder dunkel gehalten. Meine Ma nannte das immer „die inneren Dämonen, die keine Farbe zuließen“. Die Bilder meiner Ma waren, im Vergleich, sehr bunt und blumig. Sie hingen nie besonders lange, da meine Familie oder Becky mir die Bilder immer zu irgendwelchen Festen als Andenken schenkten. Aber nur die besonders guten. Und davon hatte meine Ma einige, denn zeichnen konnte sie.

Nach mehr als 10 Jahren mit mehr oder weniger getakteten Mittwochnachmittagen, an denen ich meine Mutter besuchen durfte, war die Hoffnung, die ich damals fast täglich hatte, geschwunden. Ein Zusammensein war wohl nicht möglich. Auch, wenn ich es liebte, ihr immer wieder meine Erfahrungen und Erfolge zu berichten und ich auch wusste, dass sie sich freute, waren die Sehnsucht nach der Teilnahme an all den Ereignissen und auch die Sehnsucht an eigenen, neuen Erfahrungen jedes Mal in den Augen meiner Ma zu sehen. Das brach mir, je mehr Zeit verging, immer stärker das Herz.

Manchmal wollte ich es noch verstehen. Verstehen, warum sie, ohne ein Wort zu sagen, immer von diesen Männern in diese Klinik gebracht wurde - unzwar mehr und mehr ohne Widerstand. Fragen zum Aufenthalt meiner Ma und der Gründe, wieso alles soweit gekommen ist, beantworteten mir weder die Ärzte, noch meine Familie. Die Begründung der ausbleibenden Antworten war immer wieder: „das bekommst du alles noch mit, wenn du alt genug bist.“ Daher habe ich es irgendwann einfach aufgegeben.

Der Termin diese Woche war wie viele andere. Ich erzählte von den vergangenen Wochen und meine Ma hörte mir zu. Wir saßen zwar draußen im angrenzenden Klinik-Garten, um das Wetter und die Sonne zu genießen, aber so richtig da war meine Ma wohl gedanklich nicht. „Ich soll dir liebe Grüße von Lynn sagen“, hörte ich mich sagen, ohne dass ich das eigentlich geplant hatte. Meine Ma schaute auf, lächelte mich an und seufzte nur ganz langsam. „Lynn… meine Lynn. Wie geht es ihr und wie geht es euch?“ Das war wohl das Schlagwort, auf das meine Ma reagierte und wir kamen langsam ins Gespräch. „Es geht ihr gut, denke ich. Uns geht es gut. Es sind bald Sommerferien und wir haben alle eine Pause verdient, denke ich.“

„Dennoch höre ich Tante Lynn oftmals leise weinen und auch schluchzen“, erzählte ich weiter. „Vielleicht liegt es daran, dass sie allein ist, ihren Mann vermisst oder auch dich?!“ Ich konnte es damals wirklich nicht einschätzen, wie das Verhältnis zwischen meiner Ma und Tante Lynn war. Lynn besuchte sie auch ab und an. Aber nicht so regelmäßig, wie ich. Aber vielleicht hat sich das auch einfach verlaufen oder auseinander gelebt. Aber meine Ma bekam jede Woche einen Strauß weiße Rosen von ihr. Das waren die Lieblingsblumen von beiden, hatte Tante Lynn mal erwähnt.

Nachdem der Termin vorbei war und ich an der Klinik-Pforte stand, dachte ich über die gesamte Situation nach. Wir funktionierten einfach, wie eine normale Familie es tat. Jede Familie hatte schließlich ihre Päckchen zu tragen und wir hatten eben einfach viel damit zu tun, leben zu können, meine Ma auf den Weg der Genesung zu führen und erwachsen zu werden, redete ich mir ein. Es sollte realistisch bleiben. In meinem imaginären Notizbuch notierte ich allerdings: Ma öfter und regelmäßiger besuchen. Schon allein bei dem Gedanken bekam ich irgendwie Gänsehaut…

Außerdem wurde mir die Klinik an sich immer suspekter. Viele der damaligen Betreuerinnen waren bereits in Rente und mit dem neuen Personal ging die Herzlichkeit. Es ging nur noch um das Nötigste und darum, kostengünstig Personal einzustellen. Daher ließ irgendetwas an dieser Klinik meine Alarmglocken läuten. Aber ich wusste nie, was es war.

Die Ärzte sagten immer, es ginge meiner Ma nicht sehr gut und dass sie Ruhe brauchte. Bei einem meiner letzten Versuche, herauszufinden, wieso sie nie raus konnte, starrte mich meine Ma einfach nur mit geweiteten braunen Kulleraugen an. Meine Augen hatte ich definitiv von ihr. Sie sahen, anders als meine, traurig und sehr müde aus. Wenn sie die Betreuer bereits von der Ferne sah, stand sie auf und verabschiedete sich gleich, um den Herren entgegen zu laufen. So wie heute. Es war keine Mühe mehr dahinter, die Treffen auszudehnen. Vielleicht war sie aber auch einfach nur müde und hatte, wie ich, die Hoffnung bereits aufgegeben. Sie zeigte hinter sich an der kleinen Hecke vorbei zum See. Einmal starrte sie ewig in eine Richtung und bewegte sich nicht mehr, sodass sie mir in diesem Moment wirklich einen Schrecken einjagte. Solche Momente gab es immer wieder und keiner von der Familie konnte sie deuten. Ava wurde durch Ma einmal so erschreckt, dass sie seitdem nicht mehr bei den Besuchen dabei war. Sie sah Ava, als wir hereinkamen, da sie bereits in der Klinik unten im Aufenthaltsbereich saß. Da riss sie ihre Augen weit auf. Sie stottere und murmelte immer wieder etwas in ganz schnellen und sehr missverständlichen Sätzen und lief auf Ava zu. Ava wusste nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte und fing an, zu schreien und weg zu laufen. Meine Ma beruhigte sich erst wieder, nachdem Ava den Raum verlassen hatte - konnte sich aber die letzten Male, nachdem wir sie darauf ansprachen, nicht erinnern.

Lynn hat mir daher verboten, mit meiner Ma über Ava´s Besuch zu sprechen oder zu oft nachzufragen, was eigentlich los sei und was genau passiert war. Das würde sie nur zu sehr aufwühlen. Sie war bei jedem Besuch mit dabei, seit ich mich zurück erinnere. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich solle doch einfach die Zeit mit ihr genießen und meiner Mutter bei der Heilung ihrer Seele helfen. Das sei das Wichtigste und so könnten wir auch schnell wieder vereint sein. Diesen Rat habe ich leider jedes Mal erhalten, wenn wir gemeinsam in der Klinik waren. Der immer wiederkehrende Gedanke, dass sie mir etwas sagen wollte und ich einfach noch nicht bereit dafür war, ließ mich dennoch nicht los. Das sollte sich aber alles noch ändern.

Ava & Me

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