Читать книгу Die unglaubliche Wunderreise des Freddie Yates - Jenny Pearson - Страница 10

Оглавление

In dem ich mal kräftig weinen muss und dann

einen Brief von Grams bekomme


Am nächsten Morgen kam Mr Burnley vorbei, um Dad in die Stadt zu fahren. Wenn jemand stirbt, muss man danach furchtbar viel Papierkram erledigen, damit jeder erfährt, dass derjenige wirklich tot ist.

Dad musste Grams’ Tod behördlich registrieren lassen und ihre Sterbeurkunde abholen. Um ehrlich zu sein, ist mir immer noch nicht ganz klar, warum man fürs Totsein eine Urkunde kriegt. Dafür muss man sich ja nicht mal besonders anstrengen. Ich habe Dad gefragt, ob er sie zu der Urkunde an die Wand hängen würde, die ich für mein Schwimmabzeichen bekommen habe. Für das ich mich übrigens sehr wohl anstrengen musste. Unter anderem musste ich meine Schlafanzughose zuknoten und aufblasen, um daraus eine Art Notfallschwimmweste zu machen. Und das im Wasser, während ich mit den Beinen strampelte, um nicht unterzugehen. Dad sagte, nein, die Urkunde müsse er an die Bank schicken. Mir ist allerdings schleierhaft, wozu die Bank Grams’ Auszeichnung fürs Totsein haben will.

Dad riet mir, mich irgendwie zu beschäftigen, solange er unterwegs war, um mich von meiner Traurigkeit abzulenken. Also ging ich auf Faktzination, meine Lieblings-Faktenseite im Internet, und fand Folgendes heraus:

1. Bienen können von Alkohol betrunken werden. Wenn sie dann zu ihrem Bienenstock zurückkehren, werden sie von den anderen aber nicht reingelassen, bis sie wieder nüchtern sind. Es gibt richtige Türsteherbienen, die darauf aufpassen. Lustig, oder?

2. Es gibt schwarz-weiße und sogar ganz schwarze Schwäne. Die schwarz-weißen haben einen schwarzen Hals und weißen Körper und heißen – Überraschung! – Schwarzhalsschwäne, und die ganz schwarzen nennt man Trauerschwäne. Höckerschwäne – das sind die weißen, die in allen möglichen Parks rumschwimmen – können bis zu neunzig Stundenkilometer schnell werden. Genauso schnell war Grams unterwegs, als sie ins Weltkriegsdenkmal gekracht ist.

3. Die Zellen eines Kindes leben in der Mutter weiter. Offenbar wurde die DNA von Babys schon im Hirn-, Knochen- und Herzgewebe ihrer Mütter gefunden. Oh.

Das war der Moment, an dem ich mit dem Faktenlesen wieder aufhörte. Weil mir nämlich etwas klar wurde: Als meine Mum gestorben ist, ist damit auch ein winziger Teil von mir gestorben. Und als Grams gestorben ist, ist mit ihr das letzte bisschen von meiner Mum gestorben.

Ich hatte nicht erwartet, dass mich die Fakten sogar noch trauriger machen würden. Normalerweise geht es mir danach immer besser. Aber jetzt wollte ich mich einfach nur noch im Bett verkriechen, mir die Decke über den Kopf ziehen und die gesamte Welt ausschließen. Ich ging zu meinem Schrank und holte einen der Pullis raus, die Grams für mich gestrickt hatte. Sie hat mir mal gesagt, dass sie das machen würde, damit ich immer etwas hätte, das sich an mich kuscheln würde wie bei einer Umarmung. Damals war mir das ein bisschen unangenehm, doch in diesem Augenblick gab es nichts, wonach ich mich mehr sehnte, als von ihr in den Arm genommen zu werden.

Ich wählte den beigefarbenen Pulli mit dem braune Teddy vorne drauf, unter den sie die Worte Familie ist das größte Glück gestickt hatte. Damit das klar ist: So was würde ich niemals in aller Öffentlichkeit tragen. Ich glaube, für mich war er eher so eine Art Schnuffeldecke mit Ärmeln dran. Nachdem ich ihn mir angezogen hatte, schlüpfte ich unter meine Bettdecke, holte Grams’ Stofftaschentuch unter meinem Kissen hervor und vergrub die Nase darin. Ich bin nicht besonders gut im Weinen, aber unter den gegebenen Umständen dachte ich, ich sollte es zumindest mal probieren. Und ich muss gestehen, nachdem ich ein paar Minuten lauthals vor mich hin geschluchzt hatte, fühlte ich mich tatsächlich etwas besser. Außerdem war mir heiß. Tierisch heiß sogar. Immerhin war es Juli und ich lag mit einem dicken Strickpulli im Bett.

Gerade als ich die Decke wieder von mir strampelte, hörte ich Dads Krücken auf dem Teppich draußen vor meinem Zimmer. Das war das erste Mal seit seinem Unfall, dass er sich die Treppe hinaufgekämpft hatte.

Die Tür ging auf und er steckte den Kopf hindurch.

»Alles in Ordnung, Junge?« Er zeigte mit einer Krücke auf mich. »Ist das einer von Grams’ Pullis?«

»M-hm.«

»Ach, das ist schön. Fühlst du dich ihr dadurch näher?«

»Ein bisschen. Ich hab mir auch ein Stofftaschentuch von ihr genommen.« Ich hielt es ihm hin. »Riecht nach Lavendel.«

Dad verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und nahm das Taschentuch entgegen. Erst als er es hochhielt, bemerkten wir, welch kolossaler Fehler mir unterlaufen war.

»Oh, Freddie, du Dussel«, prustete er. »Du hast an der Unterhose deiner Grams geschnüffelt.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es ist halt passiert. Schwamm drüber. Nachdem Dad sich einigermaßen eingekriegt hatte, fiel ihm ein, warum er zu mir hochgekommen war, und sein Gesicht wurde ganz ernst.

»Fred, ich hab etwas für dich. Vom Anwalt.« Er holte einen Umschlag aus seiner Potasche.

»Was ist das?«

Seine Augen glitzerten verdächtig, daher sagte ich schnell: »Wusstest du, dass die Chinesen Papierumschläge schon im zweiten Jahrhundert vor Christus erfunden haben?«

Er antwortete: »Das ist ja toll, Fred, wirklich toll.« Was ziemlich seltsam war, weil dieser Fakt auch nicht toller war als alle anderen, von denen ich ihm bisher erzählt hatte.

Er gab mir den Umschlag und ich sah, dass mein Name in so einer schnörkeligen Oma-Handschrift draufgeschrieben war.

»Der ist von deiner Grams.«

»Aber die ist doch tot.«

»Sie hat ihn geschrieben, als sie noch am Leben war. Du solltest ihn aber erst nach ihrem Tod lesen.«

Das war genauso seltsam – wenn sie wusste, dass sie sterben würde, hätte sie doch irgendwem Bescheid geben können. Ich schob den Finger unter die Lasche und öffnete sie.

Lieber Fred,

mein tapferer kleiner Soldat.

Weiter kam ich nicht, denn ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich gleich wieder losheulen müsste. Mühsam schluckte ich meine Tränen runter und atmete tief durch.

Dad legte mir einen Arm um die Schulter und meinte: »Du musst ihn ja nicht gleich lesen. Heb ihn dir auf, bis du bereit dafür bist. Bis du dich stark genug fühlst.«

Er klopfte sich mit der Krücke auf den Gips. »Ich leg mich mal ’ne Runde hin. Mein Bein bringt mich um.«

Ich half ihm nach unten und zurück auf die Couch. Seine Stimme klang irgendwie quietschig, als er sagte: »Du warst das Ein und Alles deiner Grams. Und für mich bist du das auch.«

Auf einmal hatte ich einen riesigen Kloß im Hals, der dicker und dicker zu werden schien. Ich musste jetzt dringend ein bisschen allein sein. »Ich glaub, ich geh wieder hoch in mein Zimmer. Kann ich dir noch irgendwas bringen?«

»Ein Blechbrötchen und vielleicht was zu knabbern?«

Ich holte ihm eine Dose Bier und eine Tüte Erdnussflips mit Käsegeschmack, schüttelte die Kissen für ihn auf und kratzte ihn dann noch an einer Stelle am Rücken, an die er selbst nicht rankam.

»Bist ein guter Junge, Fred. Deine Mum wäre stolz auf dich.«

Ich habe meine Mum nie kennengelernt. Ich weiß nicht, wie ihre Stimme klang und ob sie wie Grams nach Lavendel geduftet hat oder nach einer anderen Blume. Ich weiß nicht, ob sie wie ich die Zunge rollen konnte – Dad kann es jedenfalls nicht – oder ob sie mich vor ihrem Tod noch gesehen hat.

Aber eine Sache weiß ich über sie: Sie war leicht zufriedenzustellen.

Also, wirklich leicht.

Ich ließ Dad in seiner Wolke aus Erdnusssflipsstaub zurück und ging in mein Zimmer. Dort holte ich mein Dinge-wegen-denen-Mum-stolz-auf-mich-wäre-Buch aus der Schreibtischschublade. Das ist ein Notizbuch, in dem ich alles aufschreibe, von dem Dad behauptet, dass es Mum stolz gemacht hätte. Die Liste ist ziemlich lang. Nichts davon ist wirklich schwierig gewesen. Aber ich lese es mir trotzdem gerne durch. Hier sind ein paar Beispiele, damit ihr einen Eindruck davon bekommt, was das für Dinge sind:

Mein erster Schultag

Alles, was ich an diesem Tag geleistet habe, war, eine Schüssel Cornflakes zu essen und meine Schuluniform anzuziehen. (Ich habe mir nicht mal die Schnürsenkel zugebunden – das musste Grams machen.)

In der Weihnachtsaufführung der Schule mitspielen

Ich hatte nicht etwa eine Sprechrolle – ich musste mir bloß einen ausgestopften Putzhandschuh als Euter um den Bauch binden und ein paar Mal muhen.

Fahrrad fahren lernen

Alle anderen konnten längst Fahrrad fahren, bevor ich es gelernt habe. (Na ja, bis auf Charlie jedenfalls.)

Den ersten Sticker in mein Mathe-Übungsheft bekommen

Da war ich sieben und hatte gerade die Zweier-, Fünfer- und Zehnerreihe des kleinen Einmaleins gelernt. Ben konnte aber schon die Siebenerreihe, die viel schwieriger ist.

Ich fügte den Punkt »Dad Bier und Flips holen und den Rücken kratzen« zu der Liste hinzu.

Anscheinend muss ich irgendwann eingenickt sein, denn als ich aufwachte, klebte das Notizbuch vollgesabbert an meiner Wange. Vorsichtig löste ich es ab. Ein paar Wörter waren verschmiert, aber der Schaden war zum Glück nicht allzu groß. Mein Blick wanderte zu meinem Roboterwecker. Zwanzig Uhr schon! Ich hatte das Abendessen verpasst. Das war noch nie passiert! Grams achtete sonst immer darauf, dass ich zu Abend aß. Ich brauche regelmäßige Mahlzeiten. Ich befinde mich schließlich noch im Wachstum.

Dann fiel mir die Sache mit Grams wieder ein.

Und dann erinnerte ich mich an DEN BRIEF.

Ich zog ihn aus meiner Potasche und öffnete die Lasche. Dabei bemerkte ich, dass außer DEM BRIEF noch etwas anderes im Umschlag steckte: meine Geburtsurkunde.

Die unglaubliche Wunderreise des Freddie Yates

Подняться наверх