Читать книгу Die unglaubliche Wunderreise des Freddie Yates - Jenny Pearson - Страница 9
ОглавлениеOkay, ich hab euch ja schon gewarnt, dass es ein bisschen
traurig wird. Aber ich muss euch das erzählen,
denn wenn Grams nicht gestorben wäre, hätte meine
nie stattgefunden.
Als ich nach Hause kam, war meine Laune zugegebenermaßen nicht die beste. Aber ich glaube, das ist irgendwie auch verständlich, schließlich stand mir ein langer Sommer ohne Urlaubspläne oder Freunde bevor. Als ich in unsere Straße bog, erblickte ich Eileen, die gerade mit Lady Gaga spazieren ging. Und mit »spazieren gehen« meine ich, dass sie mit einem Plastikbeutel in der Hand rumstand und wartete, bis Lady Gaga auf dem Gehsteig ihr Geschäft verrichtet hatte. Ich versuchte, an ihrvorbeizulaufen, aber sie guckte mich mit einem ganz komischen Ausdruck im Gesicht an. Eileen, meine ich, nicht Lady Gaga.
Sie legte den Kopf schief und seufzte: »Ach, du armes Kind. Wenn du dich dazu in der Lage fühlst, komm bei mir im Salon vorbei, dann bringe ich dir diesen komischen Pony in Ordnung.«
Ich kannte Eileen nicht besonders gut und verstand nicht, warum sie sich plötzlich solche Sorgen um meine Haare machte.
Dann tupfte sie sich mit einem Taschentuch an der Nase herum und sagte: »Es tut mir so leid, Fred. Es war wohl einfach ihre Zeit.«
Ich blickte zu Lady Gaga und zuckte mit den Schultern. Wenn man muss, dann muss man eben.
Inzwischen ist mir natürlich klar, dass Eileen damit nicht Lady Gaga meinte, die gerade vor Mr Burnleys Bungalow auf den Gehsteig kackte, aber damals habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Ich war zu sehr von einem überraschenden Anblick abgelenkt.
Dieser überraschende Anblick war mein Dad.
Er stand am Gartentor.
Das war aus zwei Gründen überraschend.
Erstens: Er hatte seit seinem Unfall nicht mehr die Couch verlassen.
Zweitens: Er rauchte!
Ich war außer mir. Da ich nicht vorhatte, tatenlos dabei zuzusehen, wie mein Dad sich langsam umbrachte, rief ich: »Dad! Was machst du da?«
Damit hatte ich ihn offensichtlich erschreckt, denn er zuckte so heftig zusammen, dass er um ein Haar umgefallen wäre. Wutentbrannt stürmte ich auf ihn zu und begann umgehend, meinen Vortrag über die Gefahren des Rauchens zu wiederholen, den ich in der fünften Klasse einmal gehalten hatte. »Dad, Zigarettenrauch enthält über fünftausend verschiedene Chemikalien …«
»Die zählst du jetzt aber nicht alle auf, oder, Fred?«, fragte er mit dieser Stimme, die immer ein bisschen müde und erschöpft klang. Um ehrlich zu sein, fand ich das ziemlich unhöflich, schließlich versuchte ich gerade, ihm das Leben zu retten. Ein toter Elternteil ist mehr als genug.
»Von mindestens 250 dieser Chemikalien ist bekannt, dass sie gesundheitsschädlich sind, darunter Zyanwasserstoff, Kohlenmonoxid und Ammoniak. Und von diesen 250 gesundheitsschädlichen Chemikalien gelten mindestens 69 als krebserregend.«
Ich war FASSUNGSLOS, als er einfach noch einen Zug nahm. Während ich zusah, wie der Qualm aus seinen Nasenlöchern stieg, war ich kurz davor zu explodieren. So wie die Colaflasche bei unserer Abschiedsfeier.
Offenbar merkte er es mir an, denn er sagte: »Tut mir leid, Fred«, ließ die Kippe auf den Boden fallen und trat sie mit seinem gesunden Fuß aus.
»Warum hast du überhaupt geraucht?«
»Wegen deiner Grams.«
Jetzt war ich endgültig verwirrt. »Grams raucht nicht. Und ehrlich gesagt finde ich es ein bisschen schäbig von dir zu behaupten, sie hätte dich zum Rauchen gezwungen.«
»Nein, so war das nicht gemeint.«
»Wie denn dann?«
»Sie ist nicht mehr bei uns.«
Mir war nicht klar, was das mit Dads plötzlicher Nikotinsucht zu tun hatte. »Hast du schon bei Mr Burnley nachgesehen?«, fragte ich, weil Grams, als wir sie das letzte Mal nicht finden konnten, drüben bei ihm im Bungalow gesessen, Sherry getrunken und eine Runde Strip-Monopoly gespielt hatte. Okay, das mit dem Strip-Monopoly stimmte vielleicht nicht ganz. Im Grunde hatte sie nur ihre Strickjacke abgelegt, aber das genügte, damit Dad und ich sie wochenlang damit aufzogen. Wir hörten erst wieder auf, als sie drohte, unsere Unterhosen nicht mehr zu waschen und uns keinen Kuchen mehr zu backen.
»Sie ist nicht bei Mr Burnley, Fred«, erwiderte Dad. Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie ist von uns gegangen.«
»Von uns gegangen?« Meine Gedanken begannen zu rasen und die Richtung, die sie dabei einschlugen, gefiel mir ganz und gar nicht.
»Tot, Fred. Deine Grams ist tot.«
Einfach so. Genau so hat er es gesagt.
Ich weißnicht, warum, aber ich fing an zu lachen. Eswar allerdings kein Ha-ha-wie-lustig-Lachen, sondern mehr so ein Ha-ha-mein-Gehirn-hat-einen-Kurzschluss-und-ich-kann-meine-Gefühle-nicht-kontrollieren-Lachen.
Keine Ahnung, wie viel Dad von dem, was ich danach sagte, wirklich verstand, denn mein Kinn zitterte plötzlich wie Wackelpudding. Was ich sagen wollte, war: »Wie kann das sein? Du meintest doch, sie würde uns noch alle überleben.« Aber ich glaube, raus kam eher so was wie: »Hüa gemein. Gemein noch. Sieben Rüben geben!«
Dad schrumpfte irgendwie total in sich zusammen und antwortete: »Es tut mir leid, Fred.«
»Wieso? Was tut dir leid? Hast du sie etwa umgebracht?« Das dachte ich natürlich nicht wirklich – ich hatte bloß gerade eine Art Nervenzusammenbruch.
»Was? Nein!« Dad wirkte verständlicherweise ziemlich entgeistert.
Daraufhin beschloss mein Hals, diese Kloßnummer abzuziehen. Ich musste mehrmals heftig schlucken, um atmen zu können. »Was ist dann passiert? Als ich heute früh aus dem Haus bin, ging es ihr noch gut.«
»Sie war alt, Fred. Es war wohl einfach ihre Zeit.« (Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Eileen nicht von Lady Gaga gesprochen hatte.)
Dad streckte den Arm nach mir aus, doch ich wich einen Schritt zurück. Ich war megasuperwütend und er war gerade der einzige Mensch weit und breit, dem ich die Schuld an allem geben konnte.
Ich schrie: »Sie war immer schon alt, aber bis jetzt ist sie noch nie gestorben! Wie konntest du das zulassen?« Ich stapfte an ihm vorbei ins Haus. Hinter mir konnte ich das Klappern seiner Krücken hören.
Er rief mir nach: »Halt! Fred – warte. Lass uns darüber reden.«
Doch ich hielt nicht an und ich wartete auch nicht. Ich wollte nichts mehr hören. Kein einziges Wort. Ich pfefferte meinen Rucksack in den Flur und stürmte in die Küche. Im Flur ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, als Dad über meinen Rucksack fiel. Ich weiß, das ist echt mies, aber insgeheim wünschte ich mir, dass er sich dabei wehgetan hatte. Nicht schlimm, nur ein bisschen. Sozusagen als Strafe dafür, dass er mir das mit Grams erzählt hatte.
Wehgetan hatte er sich nicht, dafür war er stinksauer. Aus seinem Mund kam ein Schwall von Wörtern, die ich hier lieber nicht wiederholen möchte. Manche hatte ich schon mal gehört, andere – wie »dammtax« – muss er sich spontan ausgedacht haben. Er konnte von Glück sagen, dass Grams tot war, sonst hätte er gewaltig Ärger gekriegt.
»Fred! Was hab ich dir über deine Schultasche gesagt? Komm sofort hierher.«
Für den Bruchteil einer Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, mich einfach aus dem Staub zu machen. Dann gewann mein Gewissen die Oberhand. Ich ging zurück in den Flur, und zwar gerade rechtzeitig, um mit anzusehen, wie er meinen Rucksack zur Hintertür hinausschleuderte.
»Das hättest du lieber nicht tun sollen«, meinte ich. »In der großen Tasche war eine Capri-Sun. Die ist jetzt bestimmt geplatzt und hat mein Zeugnis ruiniert.«
Dad schien das herzlich egal zu sein. Er sah immer noch irre wütend aus. Erversuchte aufzustehen, aber seine Krücken waren ihm im Weg. Fluchend schmiss er eine davon zur Tür raus. Sie landete genau auf meinem Rucksack. Er holte mit der zweiten Krücke aus, doch ich schnappte sie mir schnell, bevor er sie auch noch nach draußen befördern konnte.
»Würdest du bitte mal aufhören, Sachen aus dem Haus zu werfen?«, fragte ich. Und dann sagte ich etwas ganz und gar Gramsmäßiges: »Was sollen denn die Nachbarn denken?«
Daraufhin ließ er plötzlich den Kopf hängen und fing an, so komisch zu schnaufen und zu prusten. Es klang wie ein sterbendes Walross. (Oooh, ich weiß, das ist jetzt nicht unbedingt der beste Moment dafür, aber ich kenne einen Fakt über Walrosse: Sie wiegen eine Tonne. So viel wie ein Auto. Die meisten Leute wissen das nicht, die glauben, Walrosse wären viel kleiner, als sie wirklich sind – so wie ein Otter vielleicht –, aber in Wahrheit sind sie gigantisch.)
Dad versuchte nicht, ein sterbendes Walross nachzuahmen. Er weinte. Ich hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen. Allerdings hatte ich auch noch nie zuvor eine tote Großmutter gehabt. Weil ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, stand ich einfach nur da, hielt mich an seiner Krücke fest und starrte ihn mit offenem Mund an.
Nach einer Weile ebbte das Schnaufen und Prusten ab und er bat: »Hilf deinem alten Herrn mal auf, Fred, ja?«
Ich zog ihn auf sein gutes Bein, schob mich unter seine Achselhöhle und wuchtete ihn zurück zur Couch.
»Tut mir leid, Dad.« Ich hob sein kaputtes Bein an und legte es auf den Schemel. »Ich hätte meinen Rucksack da nicht liegen lassen dürfen. Das war bloß, weil Grams tot ist.«
Er seufzte tief und wischte sich die Nase am Ärmel seines Pullis ab, obwohl er mir immer sagt, dass man das nicht macht. Ich war drauf und dran, ihn darauf hinzuweisen, ließ es dann aber bleiben. Das war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für so was. Ich will damit nur sagen, dass mir diese Ungerechtigkeit nicht entgangen ist.
Dad antwortete: »Nein, mir tut es leid, Fred. Ich hätte dir das wirklich ein bisschen schonender beibringen sollen. Ich hab den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie ich es dir am besten sage, und dann … na ja, und dann komme ich dir ausgerechnet mit ›Deine Grams ist tot‹.«
Es stimmte, er hatte sich tatsächlich nicht besonders geschickt angestellt. Doch er sah so mitgenommen aus, dass ich beteuerte, es sei nicht so schlimm. Ich setzte mich neben ihn. Ich war jetzt nicht mehr wütend. Nur noch traurig.
»Was ist passiert?«
»Im einen Moment saß sie noch in ihrem Sessel, strickte und schimpfte über irgendeine Talkshow im Fernsehen. Und im nächsten war sie tot. Wahrscheinlich ein Schlaganfall, meinte der Arzt.« Dad sah zu Grams’ leerem Sessel hinüber. Ich folgte seinem Blick. Im Sitz war immer noch ihr Poabdruck zu erkennen. Ihr Strickzeug hing über der Armlehne. Ich ging hin und hob den unvollendeten Pullover auf. Auf der Vorderseite war ein regenbogenfarbener Dinosaurier. Ich hielt ihn hoch, damit Dad ihn sehen konnte.
Erverzog das Gesicht. »Sicher ein weiteres Meisterwerk für ihren Lieblingsenkel.«
Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich kann nicht behaupten, dass ich sonderlich traurig darüber war, dass sie diesen Pullover nicht mehr fertigstellen konnte. Meine Dinophase habe ich schon vor Jahren überwunden. Ich legte das Strickzeug auf den Couchtisch und dann saßen wir schweigend da und lauschten dem Ticken der kleinen goldenen Standuhr.
So ungefähr beim sechsundvierzigsten Tick-Tack räusperte sich Dad. »Wir schaffen das schon, mein Sohn. Egal was auch passiert, okay?«
Ich nickte, auch wenn ich angesichts seines vom Knöchel bis zur Hüfte eingegipsten Beines so meine Zweifel hatte. Schließlich hatte der einzige Erwachsene im Haus es geschafft, sich mit seinem eigenen Postauto zu überfahren.
Den Rest des Abends verbrachten wir vor dem Fernseher. Gegen neun Uhr fiel mir auf, dass wir noch nichts gegessen hatten. Weil ich keinen Hunger hatte, brachte ich Dad eine Familienpackung Zwiebelringe ins Wohnzimmer und zog mich dann zurück, um nachzudenken. Nachdem ich eine Weile vor mich hin gegrübelt hatte, ging ich ins Bad, machte Pipi, putzte mir die Zähne, machte noch mal Pipi, weil beim ersten Mal nicht alles rausgewollt hatte, und lief zurück zu meinem Zimmer.
Allerdings hatten meine Füße anscheinend ihren eigenen Kopf, denn sie trugen mich stattdessen in Grams’ Zimmer. Ich setzte mich auf ihre geblümte Tagesdecke und atmete ihren Duft ein. Lavendel und Minzbonbons.
Während ich dort saß, ihren Duft einsog und mir ihr Gesicht vorstellte, ihre vielen Falten und ihr warmes Lächeln, wurde mir auf einmal ganz schwer ums Herz. Ich zog ihre Nachttischschublade auf, weil ich etwas von ihr bei mir haben wollte, wenn ich schlafen ging. Ich dachte, dass ich mich ihr dadurch näher fühlen würde.
Was ich fand, waren ein Riesenhaufen Rubbellose, ihre Lesebrille, ihr Ersatzgebiss und ein paar Lockenwickler. Das war nicht ganz das, was ich im Sinn gehabt hatte, also schloss ich die Schublade wieder und zog die darunter auf. Darin entdeckte ich eins von ihren Stofftaschentüchern. Es war mit kleinen violetten Blümchen bestickt. Ich hielt es mirvors Gesicht, atmete tief ein und schloss die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, waren sie ganz nass.