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bb) Unerlaubter Aufenthalt (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)

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Verbleibt der Ausländer nach seiner Einreise ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet, macht er sich gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar.

Hinweis

Die Rückführungsrichtlinie,[1] welche als europaweit einheitliche Vorschrift den Ablauf eines Rückführungsverfahrens von Drittstaatsangehörigen regelt, kann der Strafbarkeit entgegenstehen. Da die Richtlinie strafrechtliche Sanktionen für die Dauer eines Rückführungsverfahrens ausschließt, bedarf es unstreitig einer europarechtskonformen Auslegung des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG;[2] unter welchen Voraussetzungen die Strafbarkeit Bestand hat, ist indes umstritten. Während die Rechtsprechung[3] an der Strafbarkeit festhält, wenn der betroffene Ausländer die Rückführung sabotiert, in dem er z.B. Passpapiere vernichtet oder untertaucht, d.h. das Verfahren aufgrund des Verschuldens des Ausländers nicht fortgeführt werden kann, gehen Stimmen im Schrifttum[4] davon aus, dass die Wirkung der Richtlinie erst mit dem tatsächlichen Abschluss des Rückführungsverfahrens, d.h. mit der Aufenthaltsbeendigung oder dem Wegfall der Illegalität endet.

Folgt man der Rechtsprechung gilt es gleichwohl zu beachten, dass das Urteil überprüfbare Angaben zu der Annahme enthalten muss, der Ausländer habe das Rückführungsverfahren vereitelt.[5] Das KG[6] sah sich zu dem Hinweis veranlasst, dass entsprechende Feststellungen in der Regel die Beiziehung der Ausländerakte voraussetzen. Fehlen die notwendigen Feststellungen im Urteil, ist dieses auf die Revision hin aufzuheben.

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Obwohl die Vorschrift „das Fehlen einer Duldung“ nicht explizit erwähnt, ist dieses Tatbestandsmerkmal in Anlehnung an die frühere Rechtslage (vgl. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F.) auch weiterhin erforderlich[7].

Hinweis

Wird die Duldung infolge eines kollusiven Zusammenwirkens zwischen dem Sachbearbeiter der Ausländerbehörde und dem Antragssteller erteilt, vermag diese nach Ansicht des BGH[8] keine rechtfertigende Wirkung zu entfalten.

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Die Strafbarkeit entfällt, sofern der Ausländer von der Pflicht zum Besitz eines Aufenthaltstitels befreit ist. Entsprechende Befreiungstatbestände sind u.a. in §§ 15 ff. AufenthV, Art. 1 EU-VisumVO sowie Art. 20 Abs. 1 SDÜ geregelt; danach kann z.B. das Erfordernis eines Aufenthaltstitels bei Kurzaufenthalten von bis zu drei Monaten entfallen (vgl. Art. 1 Abs. 2 EU-VisumVO). Entfällt die Befreiung – z. B. bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (vgl. §§ 2 Abs. 2 AufenthG; 17 Abs. 1 AufenthV)[9] –, wird der Aufenthalt genehmigungspflichtig; der Ausländer macht sich in diesen Fällen jedoch erst strafbar, wenn die Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG) vollziehbar ist.[10]

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Greift die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3, 4 AufenthG ein, entfällt die Strafbarkeit;[11] da einer teleologischen Reduktion des seinem Wortlaut nach weitreichenden § 81 Abs. 4 AufenthG – anders als im Verwaltungsrecht – Art. 103 Abs. 2 GG entgegensteht, kann die Fortgeltungsfiktion nicht zum Nachteil des Beschuldigten eingeschränkt werden, so dass diese im Strafverfahren auch dann eingreift, wenn ein Verlängerungsantrag erst nach Ablauf des bestehenden Aufenthaltstitels gestellt wird.[12]

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Lange umstritten war die Frage, ob ein Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt, wenn der Ausländer den räumlichen Geltungsbereich der ihm erteilten Duldung überschreitet.

Zum Teil wurde dies unter Hinweis auf den beschränkten Geltungsbereich der Duldung (vgl. § 56 Abs. 3 AuslG a.F.) angenommen.[13] Dem war der BGH[14] zu Recht entgegengetreten, da die Strafbarkeit gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG a.F. ihrem Wortlaut nach das gänzliche Fehlen der Duldung voraussetzte, d.h. nicht an die Missachtung von Nebenbestimmungen anknüpfte; durch die Neuregelung des § 95 Abs. 1 Nr. 6a, 7 AufenthG (vgl. dort) ist dieser Meinungsstreit jedoch hinfällig geworden, da nunmehr klargestellt ist, dass der wiederholte Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung gem. § 61 Abs. 1 AufenthG unter Strafe gestellt ist.

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Unverändert gilt dagegen die alte Rechtslage bzgl. der Frage fort, ob die Strafbarkeit entfällt, sofern ein Aufenthaltstitel oder Duldung hätte erteilt werden können; wurde dies durch die bislang h.M.[15] abgelehnt, ist dem das BVerfG[16] in einer neueren Entscheidung nicht gefolgt.

Komme die Behörde ihrer bestehenden Verpflichtung zur Erteilung der Duldung nicht bzw. verspätet nach, bedeute die strafrechtliche Verurteilung eine Vertiefung der gesetzwidrigen Praxis. Letztlich würde entgegen den Grundsätzen des im Strafrecht geltenden Schuldprinzips die jeweilige Ausländerbehörde über die strafrechtliche Verurteilung entscheiden. Die Strafgerichte seien daher von Amts wegen gehalten, selbständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Lagen diese Voraussetzungen vor, scheide eine Strafbarkeit aus. Der Ausländer bleibt jedoch strafbar, wenn die Ursache der Untätigkeit allein in seinen Verantwortungsbereich fällt, weil er z.B. abgetaucht ist oder den Kontakt zur Ausländerbehörde meidet.[17]

Hinweis

Da sowohl § 95 I Nr. 2 AufenthG als auch § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG das Fehlen einer Duldung voraussetzt, ist die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG – nach Ansicht des OLG Frankfurt[18] – auch auf diese Tatbestände zu übertragen.

Befindet sich der Ausländer in Haft, liegt es nach Ansicht der Rechtsprechung „äußerst nahe“ das die Ausländerbehörde hiervon Kenntnis erhält, d.h. ihrer Verpflichtung zur Erteilung der Duldung schuldhaft nicht nachgekommen ist, weshalb sich das Urteil hierzu erklären muss.[19]

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Macht der Ausländer unwiderlegt geltend, dass ihm im Falle der Rückkehr in sein Heimatland erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit drohe, kann der unerlaubte Aufenthalt gemäß § 34 StGB gerechtfertigt sein.[20]

Hinweis

Nach Ansicht des LG Hamburg[21] kann der Strafbarkeit Art. 6 GG als „ungeschriebener Strafausschließungsgrund“ entgegenstehen, wenn der Ausländer illegal nach Deutschland einreist oder sich illegal im Bundesgebiet aufhält, um die elterliche Sorge betreffend seiner Kinder auszuüben.

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Ist der Ausländer weder im Besitz eines Aufenthaltstitels noch einer Duldung, entfällt gleichwohl die Strafbarkeit gem. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wenn die Ausländerbehörde im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zugesichert hat, die Abschiebung bis zur Entscheidung des Gerichts auszusetzen; aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt, dass dieser nicht durch Strafdrohungen unterlaufen werden darf, so dass § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Fall einer behördlichen Zusicherung verfassungskonform, d.h. einschränkend auszulegen ist.[22]

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Die früher vorherrschende Rechtsprechung[23], wonach eine strafbare Beihilfe zum illegalen Aufenthalt regelmäßig dann nicht vorliegen soll, wenn der Täter zur Fortsetzung des illegalen Verbleibs fest entschlossen ist, hat jüngst eine erhebliche Einschränkung erfahren; eine strafbare Beihilfe soll danach bereits dann vorliegen, wenn die gewährte Hilfe – z.B. Gewährung von Unterkunft und Verpflegung – die Haupttat, sprich den unerlaubten Aufenthalt, fördert.[24] Wird mit dem Handeln allein die Herstellung einer Lebensgemeinschaft bezweckt, ist nach zutreffender Ansicht eine Beihilfestrafbarkeit nicht gegeben.[25]

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Im Fall der Verurteilung muss aus dem Urteil ersichtlich sein, wie lange sich der Angeklagte unerlaubt im Bundesgebiet aufgehalten hat; andernfalls unterliegt das Urteil mangels ausreichend festgestelltem Schuldumfang der Aufhebung.[26]

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