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Freitag, 1. März

Es ist so weit, heute beginnt also das Projekt. Ich weiß noch nicht so recht, wie ich mich fühlen soll. Die letzten Tage waren anstrengend, habe mir mindestens dreimal auf die Finger gehauen. Jetzt habe ich endlich Zeit für alles, was so lange liegen geblieben ist. Aber, nichts tun, was heißt das denn eigentlich? Darf ich Musik hören? Oder lesen? Das ist ja eigentlich keine Arbeit oder? Vielleicht sollte ich damit anfangen, meine Bude mal richtig aufzuräumen. Das ist dann natürlich schon Arbeit. Oh Mann, was soll ich denn die ganze Zeit machen?

Karl lag in Jeans und Pullover auf dem Bett und starrte an die Decke seines Zimmers. Die Spinnweben in der Ecke bewegten sich sanft im Strom der aufsteigenden Heizungsluft.

Wo sind die wohl hingekrabbelt? Sind die noch irgendwo im Zimmer, oder haben sie schon den Weg durch die Fensterritzen nach draußen gefunden?

Seine Gedanken kreisten seit einer halben Stunde um dieses Thema. Der Kalender über dem Kopfende seines Bettes zeigte den 6. März.

Eine Woche voller entsetzlicher Langeweile.

Karl hatte außer seinen lebensnotwendigen Verrichtungen tatsächlich nichts getan, was auch nur entfernt an Arbeit erinnern könnte. Auf dem Fußboden in seinem Zimmer lagen Schallplattenhüllen und verschiedene Zeitschriften.

Es ist schon seltsam, wie man sich doch tatsächlich immer genau das wünscht, was man gerade nicht hat. Während meiner Prüfungsphase hätte ich gerne mehr Zeit für meine Leidenschaften gehabt. Jetzt habe ich alle Zeit auf diesem Planeten und will sie dafür nicht mehr nutzen. Die Tage verstreichen, ohne dass ich mich daran erinnern kann, was ich erlebt habe. Ich muss was machen!

Er setzte sich auf die Bettkante. Gähnend riss er das Kalenderblatt des heutigen Tages ab, um sich den Spruch laut vorzulesen:

„Meiner Meinung nach ist es eine Schande, dass auf der Welt so viel gearbeitet wird. William Faulkner.“

Achtlos ließ Karl das Blatt auf den Boden fallen und schlurfte in die Küche.

Hier sieht es mittlerweile aus wie nach einem Angriff tollwütiger Paviane!

Die Schränke standen offen, überall lagen Essensreste und angebrochene Lebensmittel-Packungen herum. Von einem Spülberg konnte nicht mehr die Rede sein, sein Geschirr stapelte sich eher in Form einer Müllhalde. Zielsicher fischte Karl sich aus der Obstschale auf seinem Kühlschrank den letzten Apfel, der noch nicht vollständig verfault war, ging zurück ins Zimmer und nahm das Telefon. Während er Steves Nummer wählte, kratzte er mit der anderen Hand die Bartstoppeln an seinem Kinn.

„Hier ist der Anrufbeantworter von Steve. Bin momentan nicht zu erreichen. Die Strandbar wird am ersten April geöffnet. Kein Scherz!“

Lange nichts mehr gehört, alter Kumpel. Was mach ich also mit dem Rest des Tages?

Er legte wieder auf. Als er sich gerade wieder hinlegen wollte, klingelte es an seiner Wohnungstür.

Bin nicht da. Ich erwarte keine Besuche. Audienz erst wieder in einem Jahr!

Die Klingel wurde erneut gedrückt, diesmal etwas länger. Gleichzeitig klopfte jemand an die Tür. Mit einiger Ansrengung erhob sich Karl vom Bett und bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer Weinbergschnecke an einem heißen Julitag in den Flur. Er sah durch die Linse seines Türspions. Im Treppenhaus stand seine Schwester, die den Knopf seiner Klingel gedrückt hielt. Karl öffnete die Tür.

„Willst du mit deinem Finger ein Loch in die Wand bohren?“

Susanne ließ den Knopf los.

„Hallo Bruderherz, wie siehst du denn aus? Hast du unter ’ner Brücke geschlafen?“

Sie wartete nicht, bis Karl sie hereinbat, sondern schlüpfte an ihm vorbei in seine Wohnung. Karl schloss die Tür und gähnte.

„Mein Gott, was ist denn hier passiert?“

Seine Schwester war in der Küchentür stehen geblieben.

„Mensch Karl, wenn du hier drinnen was isst, liegst du bald auf meiner Station!“

„Ja, hatte viel zu tun“, brummte Karl, „bin nicht so richtig zum Aufräumen gekommen.“

Er blickte seine Schwester etwas hilflos an.

„Ich wollt mal sehen, was du so machst. Papa hat erzählt, dass du für ein Institut in Hastelberg eine Forschungsarbeit schreibst.“

„Halsterberg! Na ja, so was Ähnliches wie 'ne Arbeit.“

„Was meinst du?“

„Das ist so ein Projekt am Philosophikum und ich muss das dokumentieren.“

„Superantwort. Da weiß ich ja genau, was du machst! Egal! Hör zu, Brüderchen. Ich habe zwar eigentlich meinen freien Nachmittag, aber ich bin ausnahmsweise bereit, dir bei der Beseitigung dieses Gesundheitsrisikos hier zu helfen.“

Karl zuckte ein bisschen zusammen.

Ich darf nicht arbeiten, Schwesterchen. Keinen Handschlag!

„Ich weiß nicht“, stammelte er, „vielleicht ist das heute nicht so günstig.“

„Wann denn dann?“ erwiderte Susanne, die bereits ihren Anorak ausgezogen hatte und sich die Ärmel ihres leicht verfilzten Pullovers hochkrempelte.

Ohne auf Karls Reaktion zu warten kramte sie im Schrank unter der Spüle und fischte eine Rolle mit Mülltüten hervor.

„Na also!“

In wenigen Augenblicken verschwanden die Essensreste, Joghurtbecher, Cornflakes-Packungen und Pizzakartons in den blauen Säcken. Schicht für Schicht arbeitete sich Susanne auf den Grund der Arbeitsplatte und des Küchentisches vor.

„Steh nicht im Weg rum. Tu was! Geh in dein Schlafzimmer und sorg da ein bisschen für Ordnung. Ich mache das hier schon!“

Zu Befehl!

Wortlos trottete Karl in sein Zimmer.

Womit fange ich an?

Er begann mit den Schallplatten, die er vom Boden aufhob und gewissenhaft an den alphabetisch richtigen Stellen in seinem Regal einsortierte.

„Wie konnte ich mit meinen Schätzen nur so sorglos umgehen?“ schimpfte er leise mit sich selbst und beeilte sich, auch die restlichen Platten wieder in die Obhut seiner Sammlung zu bringen. Danach machte er mit den Zeitschriften weiter. Für sie hatte er Stehordner eingerichtet, in denen sie nach Themengebieten geordnet waren, hauptsächlich alte Musikmagazine und Kinohefte. Als er damit fertig war, sammelte er die Kleidungsstücke ein, die überall im Zimmer verteilt lagen und trug sie ins Badezimmer, wo er sie in einen Wäschesack stopfte.

Seit einem knappen Monat ist meine Waschmaschine jetzt kaputt, vielleicht sollte ich mal was machen!

Es dauerte fast zwei Stunden, bis Karl sein Zimmer wieder hergerichtet hatte. Sorgfältig wischte er den Staub von den Regalen, rannte im Zickzack mit dem Staubsauger von Ecke zu Ecke, schlug seine Bettdecke am Fenster aus und rückte die Bücher gerade.

Erschöpft blickte er auf sein Werk.

Sieht ja wieder ganz gemütlich aus. Mal gucken, was Schwesterchen so veranstaltet hat.

Er lief in die Küche.

Uahh! Das ist ja wie im blödesten Werbespot, den ich jemals gesehen habe. „Und in der Küche sieht man flugs, wie Putziputz vertreibt den Schmutz.“

Das Geschirr war gespült und säuberlich in die Schränke sortiert, der Herd von sämtlichen Krusten alter Suppen und Soßen befreit und auf dem Tisch stand nichts außer der Obstschale, die gähnend leer nach neuer Füllung verlangte. Staunend betrachtete Karl abwechselnd die spiegelblanke Arbeitsplatte und die sieben Müllsäcke, die in der Mitte der Küche standen und jeden Augenblick zu platzen drohten.

„So, und jetzt gehst du einkaufen und besorgst was zu essen. Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um dein Bad!“

Susanne sah ein bisschen müde aus.

„Musst du nicht, ich...“

„Karl, halt einfach die Klappe und bring den Mist hier raus!“

Folgsam packte er die Abfallsäcke und schleppte sie ins Treppenhaus.

Ungefähr eine Stunde später saß er mit seiner Schwester in der Küche beim Essen. Er hatte Köstlichkeiten vom orientalischen Supermarkt um die Ecke mitgebracht und jetzt machten sie sich über die gefüllten Weinblätter, die eingelegten Oliven und den Couscous her.

„Oh Mann, ist das lecker. Aber mehr als fünfhundert Kalorien darf ich jetzt nicht essen. Du weißt ja, ich muss so auf mein Gewicht aufpassen.“

Susanne sah besorgt an ihrem Rumpf herunter.

„Was ist denn das genau für ein Projekt?“ fragte sie schnell, um vom Thema abzulenken.

Wenn ich dir jetzt die Wahrheit sage, erstickst du an deinen Dolma oder springst mir einfach ins Gesicht!

„Ich soll ein paar Beobachtungen dokumentieren, die man im Alltagsleben so macht. So Sachen wie Wahrnehmung und ähnliches.“

Wow, Meister Grün, das klang ja so überzeugend wie die Presseerklärung der Kernenergievereinigung zum Thema Reaktorsicherheit.

„Versteh ich nicht. Aber ihr Geisteswissenschaftler seit mir sowieso ’ne Nummer zu abgedreht. Erzähl’s mir ein anderes Mal.“

Susanne tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und stand auf.

„So, Kleiner, ich mache mich dann mal auf, um noch ein bisschen Zeit in der Stadt zu verbringen. Kommst du jetzt alleine klar?“

Aber sicher. Ich bin ein verlogener kleiner Meuchelmörder.

„Wie soll ich dir danken? Ich verspreche dir...“

„Erspar mir das. Habe keine Lust, das hier zu wiederholen. Mann, du bist doch keine drei Jahre mehr alt! Auf jeden Fall wünsche ich dir viel Erfolg bei deinem neuen Job.“

Ich hasse diesen Ton.

Susanne grinste ihren Bruder an und breitete die Arme aus.

Danke. Nicht nur fürs Putzen! Du weißt, wann man aufhören muss zu fragen.

Zögernd drückte Karl seine Schwester.

„Susanne, hilft es depressiven Menschen, wenn sie nachts wach bleiben?“

Sie sah ihn verwundert an.

„Ja, man sagt, dass bei bestimmten psychischen Erkrankungen ein positiver Effekt durch Schlafentzug eintreten kann. Ist aber umstritten. Warum fragst du?“

„Ach, nur so, hab das irgendwo gelesen.“

„Was du so alles liest.“

Susanne schüttelte den Kopf und sah ihren Bruder streng an.

„Muss ich mir Sorgen machen, Karl?“

„Nee, alles bestens.“

„Na gut, ich bin dann weg.“

Sie drehte sich um und ging. Nachdenklich schloss Karl einige Momente später die Wohnungstür und hörte, wie Susannes Schritte im Treppenhaus verhallten.

Zeit ist nicht das Problem

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