Читать книгу Zeit ist nicht das Problem - Jens Wollmerath - Страница 6
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Über die Ostsee wehte der Wind und trieb die Wellen an den Strand. Hier und da riss die Wolkendecke auf und einige Sonnenstrahlen blitzten durch das Grau. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, Mütze in die Stirn gezogen, kämpfte Karl auf der Strandpromenade gegen die Ostbriese, die wie Sandpapier über seine Wangen rieb. Schließlich erreichte er ein Backsteinhaus, das von zwei Krüppelkiefern eingerahmt war und sich unmittelbar am Strandweg hinter dem Deich duckte. An der Eingangstür des Ladenlokals im Erdgeschoss klebte ein Zettel mit dem Hinweis:
Hier öffnet im Frühjahr die „Strandbar“ von Steve K.
Karl wollte gerade klopfen, als Steve schon die Tür aufriss und ihn angrinste. In seiner Rechten hielt er eine Anstreichrolle.
„Gut, dass du da bist, habe gerade mit der Küche begonnen.“
Er ließ Karl herein, der sich interessiert umsah.
„Schickes Plätzchen hast du dir hier ausgesucht. Ich glaube, ich werde öfter hier sein.“
„Wann immer du willst, aber jetzt musst du mir erst mal helfen, die Bude hier auf Vordermann zu bringen.“
Karl zog seine Jacke aus, krempelte seine Hemdsärmel nach oben und nahm den Pinsel, den Steve ihm entgegenstreckte.
„Du machst die Ecken. Ich bin eh schon voll Farbe! Wo warst du denn heute? Und was war eigentlich mit deinem Hinkebein los?“
Durch das Ladenfenster schien jetzt die Wintersonne in den Raum und warf ein leuchtendes Rechteck auf die Zeitungen, die den Fußboden bedeckten.
„Ach, mein Fuß ist schon fast wieder o.k., hab´ ihn beim Joggen umgeknickt, aber das andere nervt mich viel mehr. Ich hab´ vorhin beim Arbeitsamt mein Glück versucht, glaube aber, das ist ziemlich aussichtslos mit einem Job!“
Ratlos guckte Karl auf die Zeitungen am Boden.
„Was würdest du denn gerne machen?“ fragte Steve, während er eine weitere Bahn Farbe auf die Wand rollte.
„Das ist ja gerade das Blöde. Ich kann irgendwie alles und gar nichts.“
„Haben sie euch denn nichts Schlaues beigebracht auf der Uni?“
Steve strich unermüdlich weiter, während Karl am Fenster stand und nachdenklich die dahin eilenden Wolken über der Ostsee betrachtete.
„Wenn ich das nur wüsste. Ich hab wohl schon gelernt analytisch zu denken und schreiben kann ich wahrscheinlich auch einigermaßen.“
„Na, das ist doch schon einiges. Ich kann nur kochen und das war’s. Willst du nicht vielleicht irgendwas mit Medien oder so machen?“
„Klar, das wollen doch fast alle mit meiner Fachrichtung.
Mann, so viele Journalisten und Werbefuzzis kann dieser Planet nun wirklich nicht gebrauchen. Ich dachte immer, dass ich mich mit dem Studium für eine wirklich anspruchsvolle geistige Tätigkeit qualifizieren würde. Jetzt kann ich nur hoffen, vielleicht irgendwo als Hausmeister zu arbeiten.“
„Aber Maler solltest du auf keinen Fall werden“, lachte Steve. „Du lässt ja alles auf den Boden tropfen!“
„Mist“, schimpfte Karl. Die Farbe hatte ihren Weg genau zwischen zwei der Zeitungsblätter gefunden und bildete jetzt einen Klecks auf den Holzdielen.
„Hinter der Theke steht ein Eimer mit Wasser und irgendwo liegt da auch noch mehr Papier“, sagte Steve, der seine Arbeit nicht unterbrochen hatte.
Während Karl sein Ungeschick wieder ausbügelte setzte Steve seine berufskundlichen Überlegungen fort.
„Und was ist, wenn du doch noch Lehrer wirst? Die verdienen doch unglaublich viel und haben dauernd frei.“
„Kann ich nicht, ich habe nicht auf Lehramt studiert. Außerdem habe ich einfach keinen Bock, irgendwelchen Fünfzehnjährigen meine Lebensweisheiten mitzuteilen.“
Karl legte ein neues Stück Zeitung auf die Stelle, die er gerade gesäubert hatte. Der Lichtfleck der Sonne war ein Stück weiter gewandert und schien jetzt genau auf das Papier unter seinen Händen.
„Ja, dann weiß ich auch nicht, was du machen sollst, vielleicht…“
Karl hörte den Worten seines Freundes nicht mehr zu. Er blickte konzentriert auf eine Annonce in der Rubrik ‚Stellenanzeigen Allgemein’, die vom Sonnenlicht bestrahlt wurde.
Proband für außergewöhnliches Forschungsprojekt gesucht. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt und sind neugierig auf eine neue Lebenserfahrung? Dann melden Sie sich bei der Universität Halsterberg unter der angegebenen Rufnummer.
Vorsichtig nahm Karl das Blatt wieder hoch und betrachtete den Text noch eine Weile.
Das ist ja tatsächlich die Zeitung von dieser Woche, ganz aktuell.
„… mir hat es auch sehr geholfen, erst mal eine Zeit lang wegzufahren.“
Steve dachte noch immer über einen guten Plan für Karls Zukunft nach.
„Hier“, Karl streckte ihm die Zeitungsseite entgegen, „sieh mal die erste Anzeige!“
Steve nahm das Papier und las.
„Hmm, klingt komisch. Wahrscheinlich irgendwas mit Medikamenten oder so. Da wäre ich vorsichtig!“
„Ja aber vielleicht ist es ja auch eine gute Chance,…“
„Dann würden sie doch schreiben, worum es geht. Glaub mir, das ist ’ne krumme Sache. Ich hab da Erfahrung. Als ich meine Ausbildung fertig hatte, da hab ich ’ne Anzeige gelesen für…“
„Ja, ich weiß.“ Karl kannte die Geschichte schon. „Da wurde eine Stelle für einen Koch ausgeschrieben und dabei ging es um die Bewirtschaftung einer Pommesbude.“
„Und genauso klingt das hier auch. ‚Neue Lebenserfahrung’! Die knallen dich mit Pillen voll und gucken zu, wie du Verfolgungswahn bekommst, um den dann mit anderen Tabletten zu stoppen!“
Karl musste lachen.
„Du und deine Fantasie. Aber wahrscheinlich hast du Recht.“
Der Rest des Nachmittags verging schnell. Bis zum Abend hatten Karl und Steve den Raum des Cafés vollständig neu gestrichen.
Dienstag, 12. Februar
Heute war ein anstrengender Tag. Erst beim Arbeitsamt gewesen, totaler Reinfall! Danach Steve beim Anstreichen geholfen. Sein Café sieht wirklich vielversprechend aus. War ein bisschen neidisch auf ihn, immerhin hat er jetzt eine Perspektive. Hätte nie gedacht, dass Streichen so mühsam ist, meine Arme tun weh und meine Finger sind voller Blasen. Habe auf dem Heimweg Susanne getroffen. Sie sah müde und gestresst aus. Der Job macht sie fertig. Darum beneide ich sie nicht. Werde das Gefühl nicht los, als ob ich mich selbst beobachte. Es kommt mir so vor, als würde ich mein Leben aus der Dritten Person betrachten. Das Alleinsein tut mir nicht gut.
Ratlos vor meinem Plattenregal gestanden. Sollte ich einem bekannten britischen Bestseller-Autor glauben, so müsste ich auch für diese Situation die fünf besten Songs im Ärmel haben (oder zumindest auf einer Liste). Nein, mir fiel nichts ein, habe mehr oder weniger achtlos in die Reihe gegriffen und hielt „Who’s next“ in den Händen. Was will mir das Cover sagen? Vier Jungs haben gegen einen Monolithen gepisst und gehen zurück ins Studio? Und das soll Teil des ambitioniertesten Projektes sein, mit dem sich Pete Townshend jemals beschäftigt hat. Irgendwas wollte ich unbedingt noch aufschreiben, kann mich jetzt aber nicht mehr erinnern…