Читать книгу Hunnen und Rebellen - Jessica Mitford - Страница 10
FÜNF
ОглавлениеDas Westend von London war in jenen Tagen in eine Anzahl deutlich verschiedener Wohndistrikte unterteilt, deren Grenzziehung nichts Zufälliges oder Widersprüchliches kannte. Der präzise Charakter eines jeden schien so unveränderlich, als sei er die Folge eines physikalischen Gesetzes. Die besonders Reichen, die feinen Leute en vogue, lebten in Mayfair, Belgravia, Park Lane; die künstlerisch-literarische Bohème zog es nach Chelsea oder sogar Bloomsbury; Hampstead, Hammersmith und St. John’s Wood waren Wohnorte des soliden Bürgertums, während die stattlichen Londoner Häuser von durchschnittlichen Grundherren, Knights, Baronets und Baronen in Kensington, Paddington, Marylebone und Pimlico zu finden waren.
Wir gehörten zur letztgenannten Kategorie. Unser großes, siebengeschossiges Haus, Rutland Gate 26 in Kensington, glänzte eher durch praktischen Komfort als durch Eleganz. Es gab sogar einen Aufzug, den mein Vater hatte einbauen lassen und auf den er überaus stolz war.
Rutland Gate ist eine recht kurze Sackgasse dem Hyde Park gegenüber; der Eingang wird von schmutzigweißen viktorianischen Säulen bezeichnet. In der Mitte liegt ein großer eingezäunter Garten, für den jeder Anwohner des Gate einen Schlüssel hat. Es ist ein rasenloser Garten, angefüllt mit traurig dreinsehenden Sträuchern und grellen, staubigen Tulpenbeeten. Nannys in weißer Tracht versammeln sich dort an den langen Sommerabenden, sitzen auf den grüngestrichenen Eisenbänken, schaukeln Säuglinge im Kinderwagen und halten herumstolpernde Kleinkinder mit warnenden Rufen zurück: »Nichts anfassen, Darling, es ist alles so bäh und schmutzig hier im Garten.«
Wir benutzten das Haus in Rutland Gate nur gelegentlich für die Londoner Saison. Die meiste Zeit war es entweder vermietet oder es stand leer – dann durften ganz, ganz selten ein, zwei von uns mit Nanny in den Mews wohnen, einer kleinen Wohnung, die früher den Chauffeur beherbergt hatte, hinter dem Haus über der Garage. Wir betrachteten das als herrliches Abenteuer. In den Mews zu wohnen war wie irgendwo zu zelten. Es gab keine Köchin, also kochte Nanny, und sie ließ uns manchmal bei der Zubereitung unbekannter Delikatessen helfen, deren Rezepte sie irgendwo in ihrer Erinnerung ausgrub: Pflaumenschaum, Zwiebelkutteln, Brotpudding. Sogar das Baden war ein Abenteuer in den Mews. Das Badezimmer mit seiner alten löwenklauenfüßigen Wanne wurde beherrscht von einem großen, runden, übelriechenden Boiler, genannt »der Amberley«. Ihn anzuzünden war eine gefahrvolle Aktion. Man mußte dabei einen kleinen, schwer beweglichen Schalter umdrehen und einen brennenden Fidibus durch eine kleine Klapptür schieben, was einen lauten, erschreckenden Knall hervorrief. Danach mußte man genau kalkulieren, wann das Wasser hinreichend heiß für ein Bad sein würde, nicht aber so heiß, daß es den Amberley explodieren ließ. Niemand wußte, wann dieser Punkt erreicht sein würde. In der Rückschau denke ich mir, daß die Amberley-Firma wohl irgendeinen uns unbekannten Sicherheitsmechanismus eingebaut hatte, falls man das Gerät vergeßlicherweise zu lange brennen ließ. War das der Fall, so kamen wir doch nie auf diese Idee, und jedes Bad war eine recht furchterregende Erfahrung.
Ein Umzug in das große Haus in Rutland Gate war eine ganz andere Sache. Er ähnelte der Evakuierung einer kleinen Armee. Tage vor und nach der eigentlichen Reise lag beträchtliche Spannung in der Luft, und eine besondere Art kalter, kontrollierter Wut – verursacht von den Myriaden von Details, um die man sich bei einem Umzug kümmern muß – schien den Erwachsenen ins Mark zu dringen und anzuhalten, bis der letzte Koffer ausgepackt war. Die scharfen Worte: »Sei jetzt nicht albern!« waren mir Warnung genug, daß die Frage, ob Miranda nicht mit nach London könnte, am besten nicht weiter verfolgt würde. »Das liebe Ding wäre so begeistert. Sie war noch nie in London …«, aber die Worte gefroren mir im Mund beim Anblick von Muvs Gesicht.
Gebirge von Koffern, große in Wachspapier eingehüllte Stapel selbstgebackenes Brot, das bis zum nächsten Backtag reichen würde, Debo, der es im Auto schlecht geworden war und die halbtot herausgezerrt wurde – wir waren da. Das schlafende Mobiliar schien langsam zum Leben zu erwachen, als nach und nach die Staublaken weggenommen wurden; vertraute Gegenstände, halb vergessen seit dem letzten Aufenthalt in London, kamen ans Licht und wurden betrachtet und betastet. Eine große goldene Vase, mit kompliziertem Ornament bedeckt, stand im Eßzimmer auf dem Sideboard. »Wo haben wir die denn her?« »Weißt du nicht mehr, Darling, die haben die Iren dem Ur-Ur-Großvater geschenkt, sie waren so rührend dankbar, daß er geholfen hat, einen ihrer Aufstände niederzuschlagen.«
Ein Besuch in London war immer herrlich, aber im Jahr von Dianas Heirat fügten die aufregenden Hochzeitsvorbereitungen noch eine besondere üppige Note hinzu. Wie spannend das alles war! Debo und ich ertrugen es kaum. Es gab endlose Anproben unserer golden-altweißen Brautjungfernkleider, mit jeder Post kamen Pakete mit Hochzeitsgeschenken, die ausgepackt und in die Hand genommen werden mußten, es galt Listen wunderbarer Speisen für den Empfang zu studieren. Debo und ich atmeten die ungewohnte Luxusatmosphäre aus Satin, Spitze, Seidenpapier, Crêpe-de-Chine-Unterwäsche für die Aussteuer und Schweinsledergepäck ein, und es würde nächstens Hummermousse und Hochzeitstorte geben. Boud, riesenhafter denn je und in den extremen Wirrungen der Pubertät, hielt sich düster-wütend abseits und konnte nur mit Mühe dazu bewegt werden, ihr enormes Brautjungfernkleid anzuprobieren.
Nanny tat ihr bestes, damit wir nicht im Weg waren. Es gab die üblichen Londoner Ausflüge: Besuche bei Madame Tussaud’s, im Zoo, im Victoria and Albert Museum oder, wenn sonst alles nichts half, einen schönen Spaziergang zum Prince-Albert-Denkmal in Kensington Gardens. Wenn wir dieser Zerstreuungen müde waren oder wenn Nanny keine Zeit hatte, mit uns loszugehen, verbrachten wir unsere Zeit im Garten von Rutland Gate mit einer neuen honnischen Aktivität: Mädchenhändlern zu entrinnen.
Miss Bunting hatte uns zuerst dieses faszinierende Thema nahegebracht. Während einer Erdkundelektion zu den hauptsächlichen Industrien Südamerikas war die Rede auf Buenos Aires gekommen, und sie erklärte, die Hauptstadt von Argentinien sei vor allem dafür bekannt, daß von dort aus die entführten Opfer des Mädchenhandels weiterverteilt wurden. Tatsächlich hatte die Freundin einer Freundin von ihr ein bestürzendes Erlebnis gehabt, als sie einmal in London alleine ins Kino gegangen war. Eine harmlos aussehende alte Dame saß neben ihr und gab ihr eine Morphiuminjektion, und als nächstes hatte man von der armen Freundin der Freundin wieder etwas in Buenos Aires gehört.
Da es Debo und mir nicht erlaubt war, alleine weiter als bis zum Eingang von Rutland Gate zu gehen, und wir oft von Muv ermahnt worden waren, »nie mit irgendwelchen Leuten zu reden, wenn sie nicht in Uniform sind«, war unser Beitrag zum Kampf gegen den Mädchenhandel notwendigerweise begrenzt. Doch taten wir, was wir unter den gegebenen Umständen tun konnten.
Es gab insbesondere einen Mädchenhändler, der ein paar Häuser von uns weg in Rutland Gate wohnte. Jeden Morgen, wenn wir den Hund ausführten, eilte er im dunklen Anzug mit Bowler und gerolltem Regenschirm vorbei, und immer sagte er »Guten Morgen«. Da er nicht in Uniform war und wir ihm nie vorgestellt worden waren, war sein Gruß Beweis genug, daß er einer war. »Gib keine Antwort, Debo, oder du wachst in Buenos Aires auf und wirst weiterverteilt«, warnte ich. »Und fang nicht zu rennen an – das erregt sie nur.« Jeden Abend um sechs kam er wieder herangeschritten und sagte mit einem abwesenden Lächeln (wahrscheinlich in Gedanken mit komplexen Verteilungsproblemen beschäftigt): »Guten Abend«. Wir gingen unverwandt weiter und beschleunigten niemals unseren Schritt, noch sahen wir in seine Richtung. Doch reagierten wir mit unverhohlener Entrüstung, als wir erfuhren, daß es sich lediglich um einen Freund von Nancy handelte, einen höchst respektablen verheirateten Börsenmakler, der uns grüßte, weil er wußte, daß wir Nancys kleine Schwestern waren. »Sehr anti-honnisch von Nancy, und außerdem tut er vielleicht bloß so mit dem Makeln«, waren Debo und ich uns einig. Nancy verbreitete ihrerseits die Geschichte in der ganzen Stadt, und der arme Börsianer wurde in der Londoner Gesellschaft als »der Mädchenhändler« bekannt, ein Spitzname, den er wahrscheinlich heute noch führt.
Endlich kam der langersehnte Hochzeitstag, aber Debo und ich lagen mit Scharlach und hohen Temperaturen im Bett. »Ich glaube, es würde ihnen nichts schaden, wenn sie aufstehen, nur zum Gottesdienst, und dann können sie gleich anschließend wieder zu Bett gehen«, sagte Muv. Doch Bryans Familie blieb einmütig eisern. Selbst Diana dachte wohl, unsere leuchtendroten Gesichter könnten die Stimmung etwas trüben und Gerede unter den Hochzeitsgästen auslösen. Wir tobten und nörgelten über unser Mißgeschick und fanden uns nur mangelhaft getröstet, als delikate Häppchen vom Festessen auf unser Zimmer geschickt wurden und wir die umfänglichen Berichte über die Zeremonie in den Gesellschaftsjournalen lesen konnten.
Diana und Bryan verbrachten die Flitterwochen im Ausland. Sie schickten uns riesige Schachteln teurer französischer Pralinen, gefüllt mit einer ganz besonderen dunklen Trüffelmasse, deren Andenken mir bis zum heutigen Tag die frühe Zeit ihrer Ehe vergegenwärtigt.
Nachdem sie nach England zurückgekehrt waren, durften Debo und ich sie mit Nanny auf dem Land besuchen. Dieser Besuch war nicht unbedingt ein Erfolg. Ihm gingen lange Diskussionen mit meiner Mutter voraus, die uns sehr ungern gehen ließ; Dianas und Bryans Bekanntschaft gehörte unbedingt zur Kategorie »Was ein Haufen«, in stärkerem Maße sogar als Nancys, und Muv befürchtete, die Gesellschaft ihrer unpassenden Freunde könnte eine katastrophal aufreizende Wirkung auf uns haben.
Als der Besuch schließlich zustande kam, blieb er hinter meinen Erwartungen zurück. Gewiß, das Haus der Guinnesses war so schön und so luxuriös, wie ich es erwartet hatte. Sie hatten sogar ein Schwimmbecken, in jenen Tagen eine außergewöhnliche Neuerung. Debo und ich ließen uns von Diana durch all die soeben eingerichteten Räume führen: »Wieviel hat das gekostet? Und die Vorhänge da? Wieviel kostet ein Yard von der Tapete?« Wir waren ungeheuer neugierig, wie die besonders Reichen ihr Geld ausgaben. Andererseits waren die unpassenden Freunde eine Enttäuschung. Vielleicht waren sie durch die Anwesenheit von Debo und mir gehemmt, jedenfalls fand die funkelnde, ungehörige Konversation, auf die ich mich so gefreut hatte, nie wirklich statt.
Diana schien seit ihrer Heirat anders. Sie war nun eine notorische Schönheit. Photographien von ihr starrten mit großer Regelmäßigkeit von den Titelblättern der Gesellschaftszeitschriften; ein Dutzend Künstler malte ihr Porträt. Ihr Gesicht schien immer denselben Ausdruck zu zeigen – es war groß, ruhig, es blickte irgendwie abwesend in die Weite. Und in Wirklichkeit schien sie nun genau so zu werden. Debo und ich waren der Ansicht, daß sie jetzt »affektiert« war. Lachen und Stirnrunzeln hatte sie fast ganz aufgegeben; sie zeigte permanent eine Miene, die jener der Mona Lisa nicht unähnlich war. Ihre Augen, schon an sich anderthalbmal so groß wie die der meisten Menschen, blieben nun weit aufgerissen, der Mund stand locker ein wenig offen, das Kinn hielt sie halbhoch. Sie ließ sich einmal herbei, uns zu erklären: Wenn man in der Jugend immer einen entspannten und schönen Gesichtsausdruck zeigt, dann ist man im Alter vor den schlimmsten Runzeln sicher. Ich probierte die schöne Miene ein paar Mal aus, aber bei mir schien sie nicht zu funktionieren und führte lediglich dazu, daß Nanny fragte: »Was ist denn, Darling, fühlst du dich nicht wohl?«
Dianas Art mir gegenüber hatte sich auch verändert. Sie war nun irritierenderweise durchgängig freundlich und sanft und behandelte mich mit einer Art zurückhaltender Geduld, wie man sie normalerweise bei Tieren, Säuglingen und Schwachsinnigen an den Tag legt. Offenbar kultivierte sie nun auch eine schöne Seele, passend zum Gesicht. Insofern fühlte ich mich in ihrer Gegenwart unbehaglich. Mit Bedauern entzog ich ihr den Status der Lieblingsschwester; Nancys pointiertes, wenn auch oft verletzendes Benehmen war abwechslungsreicher und deshalb leichter genießbar, und Bouds konsequent mürrisches Wesen war realer.
Wir sahen nach diesem Besuch wenig von Diana und Bryan, wenn wir auch ihre Aktivitäten in den Gesellschaftsspalten der Zeitungen verfolgten. Es gab sogenannte Baby-Partys, wo die Gäste als kleine Kinder gekleidet in Kinderwagen oder auf gemieteten Eseln ankamen, manche sogar von widerwilligen Nannys begleitet, die man sich für den Abend ausgeborgt hatte. Es gab Schatzsuchen, bei denen jeder Gast eine Liste von Gegenständen bekam, die er beibringen mußte: einen Laternenpfahl, einen Bernhardiner, einen Polizisten, eine Ente aus dem St. James’s Park. Die Zeitungen nannten die Teilnehmer »Bright Young Things« und beschimpften diese Söhne und Töchter aus reichem Hause, weil sie fiedelten, während Rom brannte.
Manchmal machten die Bright Young Things gemeinsame Sache mit den Ästheten. Diana und Bryan finanzierten eine Kunstausstellung in einer der modischen Galerien des Westend. Die Bilder – von dem »jüngst entdeckten« Künstler Bruno Hat – waren ultramodern. Stilistisch reichten sie vom Kubismus bis zum nagelneuesten Surrealismus. Manche bestanden einfach aus Leinwänden, auf die Wollestücke, Korken oder Glassplitter geklebt waren. Die Ausstellung wurde stark beworben, und Kritiker aller Zeitungen kamen, um diese Beispiele neuer Kunst zu prüfen und zu bewerten. Bruno Hat, ein Pole, der kein Englisch sprach, saß im Rollstuhl in einer Ecke, das Gesicht von einem Schal halb verhüllt, und murmelte unverständliche Laute, wenn man ihn etwas fragte.
Am nächsten Tag brachten die Zeitungen – von den respektabelsten bis zu den rein sensationalistischen – ausführliche und ernsthafte Kritiken der Ausstellung von Bruno Hat. Aber schließlich sickerte das Geheimnis durch. Bruno Hat war niemand anders als Bryan Howard, ein Freund der Guinnesses, in perfekter Verkleidung. Die ganze Ausstellung war als Witz konzipiert. Meine Mutter mißbilligte das – »All diese armen Leute hinters Licht zu führen. Sehr ungezogen von Diana.« Aber wir fanden es höchst komisch und sehr ingeniös von den Guinnesses, daß sie sogar die Kunstkritiker hinters Licht geführt hatten.