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SIEBEN

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Größere Gewitter zogen sich außerhalb unserer Festung zusammen. In ganz England stieg die Arbeitslosigkeit alarmierend. Hungermärsche, zunächst nur kleine Demonstrationen, dann anschwellend bis zur Beteiligung der Bevölkerung ganzer Landstriche, wurden in den Zeitungen gemeldet. Polizei und streikende Arbeiter kämpften in den Straßen der Städte von London bis Birmingham, von Glasgow bis Leeds. Große Bevölkerungszentren wurden von der Regierung zu Krisengebieten erklärt – solchen, wo es keinerlei Aussicht auf eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage gab. Der Familieneinkommenstest, mit dem die Sozialhilfe verweigert werden konnte, wenn Verwandte eines stellungslosen Arbeiters noch einen Arbeitsplatz hatten, führte zu gewalttätigen Protesten der Kommunisten, denen es nach und nach gelang, den größten Teil der Arbeiterbewegung hinter sich zu bringen.

Die jüngere Generation war stark politisiert. Sie warf den Elder Statesmen der alliierten Siegermächte vor, einen erneuten und noch schrecklicheren Krieg durch die Bedingungen des Versailler Vertrags heraufzubeschwören, durch die systematische Demütigung Deutschlands, die Forderung unmöglicher Kriegsentschädigungen von dem besiegten Feind.

Die alten Vorstellungen des fahnenschwingenden Patriotismus wurden von den jungen Autoren wütend attackiert. Die Idee des Pazifismus, geboren aus der Entschlossenheit, sich niemals den Schrecken eines weiteren Weltkriegs auszusetzen, durchdrang die Jugend. Studenten organisierten Demonstrationen gegen das traditionelle Offiziersvorbereitungskorps.

Die Oxford Union verabschiedete eine Resolution: »Unter keinen Umständen werden wir für König und Vaterland kämpfen.« Dieser Schritt, den eine Handvoll junger Studenten in einem Debattierklub tat, erregte ungeheures Aufsehen. Diese so genannte Oxford Pledge wurde als Parole von der Jugend aller Länder aufgegriffen. Wir lasen von Studentenversammlungen in Frankreich, Deutschland, im fernen Amerika, wo die Resolution diskutiert und angenommen wurde. Sie war Leitartikelthema in allen Zeitungen und Gegenstand einer wilden Debatte in den Leserbriefspalten. Es war, als sei jeder pensionierte Oberst in England aus seinem Provinzschlaf aufgeschreckt und habe zur Feder gegriffen, um für den König und das Empire gegen diese unglaubliche Provokation zu Feld zu ziehen. Die Linkspresse begrüßte sie als Schlag gegen den Rüstungswettlauf und rief alle Gewerkschaften, Kirchen und Jugendgruppen auf, sich anzuschließen.

Innerhalb der Festung nahmen wir diese Ereignisse wahr wie in einem dunklen Spiegel – oder vielleicht besser: wie in den Zerrspiegeln eines Lachkabinetts. Onkel Geoff sah die Krise als unausweichliche Folge des über Jahre gemordeten Ackerbodens, herbeigeführt durch generationenlange chemische Düngung. Er führte den wachsenden Pazifismus auf die Schlappheit zurück, die durch den Mord an der Milch entstanden war – weil man überall im Land hilflose Säuglinge mit kraftloser Nahrung aufgezogen hatte. Meine Mutter glaubte, daß die Krise von der Arbeitslosenunterstützung kam, die allen Ansporn beseitigt hatte, sich ins Zeug zu legen, und vom Achtstundentag, der freigeborenen Engländern diktieren wollte, wie lange sie zu arbeiten hatten. Eltern und Onkel waren sich einig, daß den jungen Pazifisten der Oxford Union eine gründliche Abreibung mit der Reitpeitsche nichts schaden würde. Tanten warnten, daß die Londoner Saison mit ihren Debütantinnenbällen und der Vorstellung bei Hofe schon in unserer Generation vielleicht für immer vorüber sein könnte.

Ich reagierte – wie viele meiner Generation – auf all dies, indem ich zuerst eine überzeugte Pazifistin wurde und dann rasch zu sozialistischen Ideen überging.

Als ich vierzehn Jahre alt war, las ich Beverly Nichols’ Antikriegsbuch Cry Havoc. Es stellte in eindringlichem Detail die entsetzlichen Bombardements des Ersten Weltkriegs dar und plädierte beredt für eine totale und weltweite Abrüstung. Cry Havoc fand bei den jungen Leuten in England sofort begeisterte Aufnahme; über Nacht war das Buch ein Bestseller. Originalität und Kraft seiner Argumente beeindruckten mich außerordentlich. Eine ganz neue Welt hatte sich mir aufgetan. Die pazifistische Literatur führte mich direkt zu den Publikationen der Linken, deren Zeitungen und Zeitschriften ich begierig las. Ich verbrauchte sogar widerwillig ein wenig von meinem Von-Zuhause-Fort-Geld, um Bücher und Broschüren zu bestellen, die den Sozialismus erläuterten.

Ich entdeckte, daß die menschliche Natur nicht, wie ich immer angenommen hatte, etwas Fixes und Unveränderliches war, daß Kriege nicht von einem uralten Kampfestrieb der Männer herrührten, daß der Besitz von Land und Fabriken nicht unbedingt die natürliche Belohnung für größere Klugheit und Energie ist. Ich las von großen Bewegungen in England und in anderen Ländern, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Wohlhabenden ihren Reichtum zu nehmen und den Besitz von Land und Fabriken den Arbeitern zu übertragen.

Mir war, als sei ich mit einem Mal auf die Lösung eines weitverzweigten Rätsels gestoßen, das ich seit Jahren ungeschickt zu begreifen versucht hatte. Wie viele andere, die sich zum ersten Mal mit einer rationalen Erklärung der Gesellschaft konfrontiert sehen, war ich höchst aufgeregt über diese Neuigkeit. Ich sehnte mich danach, Vertreter dieser neuen Philosophie in Fleisch und Blut kennenzulernen. Nancy und ihre Pro-Labour-Freunde enttäuschten mich allerdings. Wenn sie über Politik diskutierten, schien es, als unterstützten sie den Sozialismus, aber soweit ich sehen konnte, taten sie nie irgendetwas dafür. Ich hatte das Gefühl, daß sie nichts besonders ernst nahmen. Sie zerbrachen überall die alten Maßstäbe, spotteten und höhnten satirisch und redeten lang und breit daher, aber das schien auch schon alles.

»Warum machst du denn keinen Wahlkampf für die Labour Party?« fragte ich Nancy.

»Ach Darling, du weißt doch, wie das unsere armen Alten schockieren würde … Und außerdem, stell dir nur vor, wie fürch­ terlich langweilig das ist …«

»Da haben wir’s wieder. Du bist wirklich so was von willensschwach, genau wie mit dem möblierten Zimmer und deiner Unterwäsche. Eine Salonsozialistin, das bist du.«

Ich wußte, daß ich kaum Chancen hätte, den Rest der Familie zu konvertieren. Boud war auf einer Internatsschule, die sie trotz meines »Unfair!«-Geschreis bezogen hatte, während Debo und ich die Tagesschule in Oakdale besuchten, und Debo, die nun elf war, interessierte sich nicht besonders für den Klassenkampf.

Doch fing ich an, die Familie in neuem Licht zu sehen.

»Farve, ist dir klar, daß du nicht nur ein Untermensch bist, sondern auch ein feudales Überbleibsel?«

»Du darfst nicht ›Überbleibsel‹ zu deinem Vater sagen, kleine D., das ist sehr unhöflich«, schaltete Muv sich ein.

»So unhöflich ist das nicht – es steht sogar ein Lord im Adelskalender direkt neben Farve, ich hab’s eben nachgesehen, der heißt so – ein Lord Remnant. Wahrscheinlich ist ihm klar, daß er so ein Überbleibsel ist, und da hat er sich diesen Titel ausgesucht. Muv, ist dir eigentlich klar, daß du eine Feindin der Arbeiterklasse bist?«

Meine Mutter war aufrichtig verletzt.

»Ich bin keine Feindin der Arbeiterklasse! Viele davon sind meiner Meinung nach richtig nett!«, erwiderte sie ärgerlich. Ich konnte die Bilder der richtig netten Nannys, Pferdeknechte, Wildhüter förmlich vor mir sehen, welche die Formulierung in ihr heraufbeschworen hatte. Ich beschloß, meine neuen Ideen eine Weile für mich zu behalten; es gab wenig Hoffnung, daß sie auf diesem äußerst unfruchtbaren Boden Wurzeln schlugen.

Trotzdem hatten meine Von-Zuhause-Fort-Pläne nun eine neue Dimension. Ich wußte jetzt, wovor ich fortlief und wohin ich laufen sollte.

Hunnen und Rebellen

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